Читать книгу IM ANFANG WAR DER TOD - Eberhard Weidner - Страница 11
KAPITEL 8
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Als sie ins Büro zurückkehrte, saß Daniel Braun wieder hinter seinem Schreibtisch. Er begrüßte sie lächelnd, konnte es sich aber nicht verkneifen, einen demonstrativen Blick auf die Uhr zu werfen, um zu verdeutlichen, dass sie fünf Minuten zu spät aus ihrer Mittagspause kam. Da er regelmäßig zu spät kam, macht es ihm besonders viel Spaß, sie zu ärgern, wenn sie sich ausnahmsweise verspätete.
Leck mich, Braun!, hätte sie am liebsten gesagt, verkniff es sich aber. Eigentlich kamen sie ganz gut miteinander aus. Anja schätzte an ihm vor allem, dass er sie nicht die ganze Zeit vollquatschte oder mit Fragen nach ihrem Privatleben löcherte, denn das konnte sie überhaupt nicht leiden. Sie hätte es bei ihrem Zimmerkollegen also auch schlechter treffen können. Deshalb wollte sie ihn nicht gegen sich aufbringen, was nur die Atmosphäre vergiftet hätte; und darunter hätten sie beide zu leiden.
Braun redete nicht, sondern widmete sich wieder der Akte, die er bei ihrem Kommen bearbeitet hatte. Entweder war er eingeschnappt, weil sie am Vormittag so kurz angebunden und einsilbig gewesen war, oder er hatte selbst im Augenblick keine Lust zum Reden, was bei ihm ebenfalls häufig vorkam und ihn in ihren Augen noch sympathischer machte.
Auch Anja schwieg und widmete sich dem Inhalt der ersten der beiden Akten, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Obwohl sie die darin enthaltenen Dokumente in den letzten zehn Wochen bereits unzählige Male aufmerksam studiert hatte und beinahe schon auswendig kannte, hoffte sie wider besseren Wissens, dass sie dieses Mal im Licht ihrer neu gewonnenen Erkenntnisse auf etwas stieß, das sie all die Male zuvor übersehen hatte. Allerdings enthielt die Akte nur ein paar magere Blätter; daher hatte Anja auch wenig Hoffnung, sie könnte etwas entdecken, das sie bislang noch nicht gesehen hatte.
Es handelte sich dabei um eine Kopie der Akte der Todesermittler, die vor dreiundzwanzig Jahren den vorgeblichen Selbstmord ihres Vaters untersucht hatten.
Die Todesermittler vom K12 werden immer dann gerufen, wenn nach einem Leichenfund eine nicht natürliche oder zumindest eine ungeklärte Todesursache festgestellt wurde. Ihre Aufgabe ist es, den Leichnam, die Lebensumstände der verstorbenen Person und die näheren Todesumstände zu untersuchen und zu ermitteln, ob bei dem Todesfall ein Fremdverschulden definitiv ausgeschlossen werden kann. Ist das nicht der Fall, geben sie den Leichnam auch nicht frei, sondern regen stattdessen an, eine Obduktion durchzuführen. Kommen sie im Laufe ihrer Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass ein Mord vorliegt, übergeben sie den Fall an die Mordkommission.
Anja hatte vor zweieinhalb Monaten im Archiv Einsicht in die Akte genommen und sich Kopien der wichtigsten Dokumente angefertigt. Allerdings hatte sie bei der Gelegenheit bewusst darauf verzichtet, sich auch die Fotos im Anhang anzusehen, auf denen die Leiche ihres Vaters zu sehen war. Als sie ihn damals gefunden hatte, hatte sich sein Anblick unauslöschlich in ihre Erinnerung eingebrannt, sodass er ihr bis heute in allen Einzelheiten gegenwärtig war. Außerdem hatte sie seit damals immer wieder davon geträumt. Und sie besaß jetzt natürlich das Polaroidfoto, das der Mörder ihr geschickt hatte und das ihren Vater unmittelbar vor seinem Tod zeigte. Es steckte im hinteren Teil des Dossiers in einer Klarsichthülle.
Ansonsten enthielt die dünne Akte lediglich den Obduktionsbericht des Pathologen und den sogenannten Ablebensbericht eines der beiden Todesermittler, die für den Fall zuständig gewesen waren. Sowohl der Rechtsmediziner als auch der Ermittler waren zu dem Ergebnis gekommen, dass es keinerlei Hinweise für ein Fremdverschulden gegeben und der Verstorbene seinem Leben selbsttätig und eigenverantwortlich ein Ende gesetzt hatte.
Anja seufzte missmutig. Das alles wusste sie bereits und brachte sie keinen Schritt weiter.
Braun sah auf und warf ihr einen fragenden Blick zu. Doch Anja tat, als wäre sie so sehr in die Akte vertieft, dass sie es nicht bemerkte. Nach wenigen Augenblicken senkte er den Blick und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Anja nahm einen Notizzettel und notierte sich die Namen der beiden Todesermittler und des Gerichtsmediziners. Sie hatte vor, die drei Männer zu befragen. Vielleicht, so ihre Hoffnung, erinnerten sie sich an ein Detail, das keinen Eingang in die offizielle Akte gefunden hatte, weil sie es damals für unwichtig gehalten hatten und ohnehin davon überzeugt gewesen waren, dass es sich um einen Suizid gehandelt hatte.
Anschließend schloss Anja die dünne Mappe und schob sie unter die zweite, die im Gegensatz dazu erheblich umfangreicher war.
Auch dabei handelte es sich um Kopien der wichtigsten Dokumente einer Ermittlungsakte. Allerdings ging es darin nicht um den Tod eines einzelnen Menschen, sondern um das bis heute ungeklärte spurlose Verschwinden von drei jungen Mädchen vor dreiundzwanzig Jahren.
II
Die Erste, die damals verschwand, hieß Melanie Brunner. Das Mädchen mit den auffallend langen dunkelbraunen Haaren hatte erst vor wenigen Wochen seinen zwölften Geburtstag gefeiert. Es lebte mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Geschwistern im Münchner Stadtteil Pasing und besuchte dort das städtische Bertolt-Brecht-Gymnasium für Mädchen.
Am Tag ihres Verschwindens fuhren Melanie und zwei Schulfreundinnen nachmittags mit der S-Bahn zum Marienplatz. Sie wollten in der Innenstadt durch die Modeboutiquen bummeln und Klamotten kaufen. Drei Stunden später kehrten sie zurück und trennten sich unweit des Bahnhofs München-Pasing, weil Melanie einen anderen Nachhauseweg als ihre Freundinnen hatte. Doch im Gegensatz zu den beiden anderen Mädchen kam Melanie nie zu Hause an. Obwohl sie nur einen knappen halben Kilometer zurückzulegen hatte, um zu ihrem Elternhaus zu kommen, verschwand sie dennoch auf dem Weg dorthin, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen, die Aufschluss darüber gab, was ihr widerfahren war. Und kein Mensch hatte sie nach der Trennung von ihren Freundinnen auf dem kurzen Nachhauseweg gesehen oder an diesem Tag sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt.
Eine Vermisstenfahndung wird in der Regel erst dann eingeleitet, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens hat die vermisste Person ihren gewohnten Lebensbereich verlassen. Zweitens ist ihr derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt. Und drittens muss davon ausgegangen werden, dass eine Gefahr für ihren Leib oder ihr Leben besteht, weil sie möglicherweise Opfer einer Straftat oder eines Unfalls wurde, sie hilflos ist oder gar die Absicht hegt, sich selbst etwas anzutun. Die letzte Voraussetzung gilt allerdings nur für vermisste Erwachsene. Sie haben, sofern sie im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen, ohne Angehörige oder Freunde darüber informieren zu müssen. Minderjährige dürfen hingegen ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen. Haben sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen und ist ihr Aufenthalt unbekannt, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sie in Gefahr sind. Dabei gilt vor allem: je jünger das Kind, desto größer auch die Gefahr. Minderjährige werden daher sofort als vermisst angesehen.
Zur Entgegennahme von Anzeigen über vermisste Personen und zur Einleitung von Sofortmaßnahmen ist grundsätzlich jeder Polizeibeamte verpflichtet. Zuständig für die Bearbeitung des Vermisstenfalls ist zunächst die Polizeidienststelle, in deren Bereich sich der letzte Aufenthalts- oder Wohnort der vermissten Person befindet. Werden Kinder vermisst oder stoßen die örtlichen Dienststellen an ihre Grenzen, wird das zuständige Fachkommissariat, die sogenannte Vermisstenstelle, eingeschaltet.
Die ermittelnden Beamten vom K14 müssen dann alle Maßnahmen treffen, die zur Feststellung des Verbleibs der vermissten Person führen können. Außerdem klären sie nach Möglichkeit die Ursachen und näheren Umstände des Verschwindens und stellen fest, ob die vermisste Person möglicherweise Opfer einer Straftat, eines Suizids oder eines Unfalls wurde.
Der Fall der zwölfjährigen Melanie Brunner landete daher schon kurz nach ihrem Verschwinden auf dem Schreibtisch von Kriminalhauptkommissar Frank Kramer, der den Ernst der Lage augenblicklich erkannte, der sich vor allem aufgrund des Alters des Mädchens ergab. Er leitete deshalb umgehend die gesamte Palette an Fahndungsmaßnahmen ein, die ihm in diesem frühen Stadium der Ermittlungen zur Verfügung standen.
So befragte er beispielsweise sämtliche Bezugspersonen des Kindes, unter anderem natürlich die Eltern, die die Vermisstenanzeige aufgegeben hatten, die beiden Freundinnen, die die Letzten waren, die Melanie gesehen hatten, und ihre Lehrer. Doch niemand konnte sich das Verschwinden erklären oder hatte Hinweise, dass Melanie von sich aus von zu Hause ausgerissen sein könnte. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, die überall nur gute Noten erhielt und ausgesprochen gern zur Schule ging. Sie hatte auch weder Liebeskummer, noch gab es zu Hause Ärger, der sie zu einer Verzweiflungstat veranlasst haben könnte. Das Motiv und der Hergang ihres Verschwindens blieben daher ein einziges großes Rätsel.
Als Standartmaßnahme durchsuchte Frank schon bald das Zimmer des Mädchens und wertete ihr Tagebuch aus, ohne dabei allerdings auf etwas zu stoßen, das ihm verdächtig erschien. Außerdem sorgte er dafür, dass das ganze Gebiet zwischen dem Bahnhof und dem Elternhaus und sämtliche Wege, die Melanie genommen haben könnte, gründlich abgesucht und alle Anwohner und potenziellen Zeugen befragt wurden. Darüber hinaus ließ er das vermisste Mädchen im Informationssystem der Polizei, das abgekürzt INPOL genannt wird, ausschreiben sowie sämtliche Funkstreifen im Stadtgebiet nach ihr Ausschau halten und leitete schließlich auch noch eine Öffentlichkeitsfahndung in der Presse und anderen Medien ein. Doch trotz all dieser Fahndungsinstrumente kam er keinen einzigen Schritt weiter.
Dann verschwand dreieinhalb Wochen nach dem ersten ein zweites Mädchen.
III
Daniela Forstner war elf Jahre und neun Monate alt. Sie lebte mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einem Wohnblock in der Nähe des S-Bahnhofs München-Westkreuz im Osten des Stadtteils Aubing.
Die Elfjährige verschwand auf dem Heimweg von der Hauptschule in der Reichenaustraße, in der sie die fünfte Klasse besuchte, obwohl es sich nur um einen kurzen Fußweg von zehn Minuten handelte. Da die Mutter Kassiererin in einem nahen Supermarkt war und erst spät nach Hause kam, wurde das Verschwinden des Kindes erst am Abend entdeckt.
Der für den Fall zuständige Ermittler der Vermisstenstelle hieß Hans Baumgartner und setzte, nachdem er ihm zugeteilt worden war, ebenfalls umgehend sämtliche verfügbaren Hebel in Bewegung. Doch auch in diesem Fall gab es, wie schon beim Verschwinden von Melanie Brunner, keinerlei verwertbaren Spuren oder Hinweise, wo das Kind sich aufhielt und was ihm zugestoßen war.
Obwohl damit innerhalb weniger Wochen nicht weit voneinander entfernt bereits zwei Mädchen in ähnlichem Alter spurlos verschwunden waren, wollten die Ermittler noch nicht an einen Zusammenhang glauben. Die beiden Kriminalhauptkommissare Frank Kramer und Hans Baumgartner verglichen zwar sämtliche Details und die mageren Ermittlungsergebnisse beider Fälle miteinander, fanden jedoch keine Gemeinsamkeiten oder Übereinstimmungen. Wie es aussah, waren sich die beiden Mädchen nie begegnet. Sie hatten verschiedene Kindergärten und Schulen besucht, kamen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, hatten keine gemeinsamen Freunde oder Bekannte und auch keine übereinstimmenden Interessen oder Hobbys. Das einzige Merkmal, das sowohl Melanie als auch Daniela besaßen und das sie verband, waren ihre auffallend langen dunkelbraunen Haare. Doch das konnte auch Zufall sein und genügte nach Meinung der Ermittler nicht, um einen Zusammenhang zu konstruieren oder gar auf ein und denselben Täter zu schließen. Denn mittlerweile waren die Beamten überzeugt, dass die Kinder nicht freiwillig verschwunden waren, sondern vermutlich Opfer einer Straftat geworden waren.
Die Einschätzung der Polizisten änderte sich allerdings, als zweieinhalb Wochen nach Daniela Forstner das dritte Mädchen mit auffallend langen dunkelbraunen Haaren verschwand.
IV
Helena König war ebenfalls erst elf Jahre alt. Sie wohnte mit ihren Eltern und einem zwei Jahre älteren Bruder im Stadtteil Obermenzing und ging aufs Gymnasium. An zwei Nachmittagen in der Woche besuchte das Mädchen zudem eine Musikschule und hatte dort Klavierunterricht. Im Sommer fuhr Helena die etwas über einen Kilometer lange Strecke mit dem Fahrrad, im Winter ging sie hingegen zu Fuß.
Als sie am Tag ihres Verschwindens um achtzehn Uhr dreißig noch immer nicht nach Hause gekommen war, obwohl der Klavierunterricht schon seit einer halben Stunde beendet war, rief die besorgte Mutter den Klavierlehrer an. Doch der konnte ihr nur mitteilen, dass er den Unterricht pünktlich beendet und gesehen hatte, wie Helena vor der Musikschule auf ihr Fahrrad gestiegen und losgeradelt war. Daraufhin setzte sich der Vater kurzerhand ins Auto, fuhr die Strecke und sämtliche Nebenstraßen ab und suchte nach seiner Tochter. Als er fünfundvierzig Minuten später zurückkam, ohne das Kind oder ihr Fahrrad gefunden zu haben, beschloss das Ehepaar, den Vater einer Klassenkameradin ihrer Tochter anzurufen, der zufälligerweise bei der Vermisstenstelle arbeitete und Frank Kramer hieß.
Erneut setzte Anjas Vater alles daran, das Kind zu finden oder zumindest herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Doch wie in den beiden vorangegangenen Fällen gab es auch hier weder eine Spur noch den kleinsten Hinweis, was dem Mädchen widerfahren war. Sogar das auffällige Fahrrad blieb wie seine Besitzerin unauffindbar.
Da alle drei Mädchen innerhalb kurzer Zeit und in unmittelbarer Nähe zueinander verschwunden waren, wurde jetzt eine Sonderkommission unter der Leitung von Frank Kramer und Hans Baumgartner gebildet. Denn niemand glaubte noch länger daran, dass die drei Vermisstenfälle nichts miteinander zu tun hatten und es nur ein Zufall war. Die Beamten ermittelten fieberhaft, um herauszufinden, was die Mädchen außer ihren Haaren, ihrer Statur und ungefähren Größe und einer entfernten Ähnlichkeit in den Gesichtszügen noch alles gemeinsam gehabt hatten, um ins Visier ihres Entführers zu geraten. Doch sosehr sie auch suchten, stießen all ihre Bemühungen dennoch ins Leere. Die einzige weitere Gemeinsamkeit zwischen den Vermisstenfällen war allenfalls, dass es keinerlei Spuren, Hinweise oder Zeugen des Verschwindens gab. Es erschien beinahe so, als hätten sich die Mädchen auf dem Nachhauseweg urplötzlich einfach in Luft aufgelöst, ohne dass es jemand mitbekommen hatte. Aber das konnte natürlich nicht die Lösung sein. Vielmehr musste es einen Grund dafür geben, dass ausgerechnet diese drei Mädchen verschwunden waren. Und es musste einen Ort geben, an dem sie nach ihrem Verschwinden gelandet waren. Doch ohne jegliche Spuren und Hinweise konnte kein Fall aufgeklärt werden. Alles, was sie Beamten tun konnten, so schwer es ihnen auch fiel und so furchtbar der Gedanke auch war, bestand darin, darauf zu warten, dass der Täter erneut zuschlug. Denn mittlerweile waren alle Beteiligten davon überzeugt, dass die drei Vermisstenfälle auf das Konto ein und desselben Täters gingen. Und daher hofften sie, dass der Unbekannte dieses Mal einen Fehler beging, der es den Polizisten ermöglichte, ihm und seinen Opfern endlich auf die Spur zu kommen.
Weder die ermittelnden Beamten noch die betroffenen Eltern gaben sich irgendwelchen Illusionen hin, sondern schätzten die Chancen, die Mädchen lebend wiederzusehen, von Tag zu Tag geringer ein. Auch wenn niemand es laut aussprach, sondern den anderen gegenüber entgegen der eigenen Überzeugung weiterhin so tat, als könnten Melanie, Daniela und Helena jeden Moment putzmunter durch die Tür marschieren.
Doch immer mehr Tage voller ergebnisloser, frustrierender Ermittlungsarbeit vergingen. Und bevor der Täter ein weiteres Mal zuschlagen oder eines der Mädchen – tot oder lebendig – gefunden werden konnte, starb für alle vollkommen überraschend einer der beiden Leiter der Soko.
V
Nachdem Frank Kramer von seiner zwölfjährigen Tochter erhängt im häuslichen Arbeitszimmer gefunden worden war, herrschte unter seinen Kollegen die nahezu einhellige Meinung, dass er sich umgebracht hatte, weil es ihm und der Sonderkommission nicht gelungen war, auch nur einen einzigen Schritt weiterzukommen und die drei Mädchen zu finden. Dabei hatte er nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er dies hätte zum Ausdruck bringen können.
Die Soko wurde daraufhin nur noch von Hans Baumgartner geleitet. Doch auch seine Tage als Leiter waren gezählt, denn wenig später übernahm eine Kriminaloberkommissarin namens Sabine Schwarzmüller diese Aufgabe.
Anja fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Baumgartner damals ersetzt worden war. Hatte er resigniert und keinen Sinn mehr in der Suche nach den vermissten Mädchen und ihrem Entführer gesehen? War ihm der vermeintliche Suizid ihres Vaters derart nahegegangen, dass er die Soko nicht weiter führen konnte? Oder waren seine Vorgesetzten der Meinung gewesen, sie müssten ihn durch jemanden ersetzen, der in der Lage war, neue Impulse zu setzen und den verfahrenen Ermittlungen neuen Schwung zu verleihen?
Sie erinnerte sich, dass sie Baumgartner vor dem Tod ihres Vaters mehrere Male gesehen hatte. Die beiden waren befreundet gewesen und hatten sich auch privat getroffen. Er war auch zur Beerdigung gekommen und hatte ihrer Mutter und ihr sein Beileid ausgesprochen und den verstorbenen Freund und Kollegen dabei in den höchsten Tönen gelobt. Doch danach war sie ihm nie wieder begegnet und wusste daher auch nicht, was aus ihm geworden war. Denn als sie viele Jahre später ihren Dienst in der Vermisstenstelle angetreten hatte, war er schon nicht mehr da gewesen.
Anja notierte sich seinen und den Namen seiner Nachfolgerin auf ihrem Notizzettel, bevor sie weiterlas.
VI
Der belebende Effekt, den sich die Polizeioberen durch die Ernennung von Sabine Schwarzmüller zur Leiterin der Sonderkommission möglicherweise erhofft hatten, verpuffte jedoch, denn auch danach gab es in den Fällen der drei vermissten Mädchen keinerlei Fortschritte. Die Ermittler traten weiterhin auf der Stelle, denn es gab keine Spuren oder Hinweise, denen sie nachgehen konnten. Außerdem gab es genügend offene und neue Vermisstenfälle, für die sie weiterhin zuständig waren und denen sie sich vermehrt widmen mussten, sodass für die festgefahrene Soko immer weniger Zeit blieb.
Es erweckte in Anja im Nachhinein den Eindruck, als hätten alle nur darauf gewartet, dass ein weiteres elf- oder zwölfjähriges Mädchen mit langem dunkelbraunem Haar verschwand oder zumindest die Leiche eines bereits vermissten Kindes gefunden wurde. Beides hätte, so schrecklich es auch gewesen wäre, neuen Schwung in die zum Erliegen gekommenen Ermittlungen gebracht. Doch nichts davon geschah.
Und so wurde die Soko wenige Monate nach dem Tod ihres Vaters aufgelöst. Zuständig für die Fälle der drei Mädchen war von da an allein die ehemalige Leiterin. Allerdings galten sie bereits als ausermittelt und kamen daher zu den Altfällen, die nicht mehr intensiv bearbeitet, sondern nur noch in regelmäßigen Abständen hervorgeholt und daraufhin überprüft wurden, ob es möglicherweise neue Ansatzpunkte gab.
Doch in all den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sich in dieser Hinsicht nicht das Geringste getan. Weder waren die vermissten Kinder aufgetaucht, die, sollten sie überhaupt noch am Leben und nicht längst tot sein, inzwischen erwachsene Frauen in Anjas Alter wären. Noch hatte der Täter ein weiteres Mal zugeschlagen.
Was war geschehen?, fragte sich Anja.
Hatte er einfach aufgehört, braunhaarige Mädchen zu entführen? Anja hielt das für unwahrscheinlich. Ihrer Erfahrung nach hörten solche Menschen nicht einfach auf oder gingen in Rente. In der Regel gehorchten sie ihren verborgenen inneren Trieben, die ihnen keine Ruhe und somit auch keine Möglichkeit ließen, es einfach sein zu lassen.
Was dann?
War der Täter gestorben oder wegen einer anderen Straftat erwischt und zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden? Diese beiden Alternativen lagen ihrer Meinung nach schon eher im Bereich des Möglichen.
Und noch eine entscheidende Frage stellte sich Anja weiterhin, nachdem sie die Akte über die damaligen Vermisstenfälle geschlossen hatte: Wieso hatte ihr Vater sterben müssen? Stand sein Tod etwa in unmittelbarem Zusammenhang zum Verschwinden der Mädchen und den Ermittlungen der Soko? War er dem Täter auf die Schliche gekommen und deshalb von diesem aus dem Weg geräumt worden, bevor er seinen Verdacht den Kollegen mitteilen konnte?
Anja nickte abwesend, während sie über die letzte Frage nachsann. Nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Vater ermordet worden war, war sie rasch zur Überzeugung gelangt, dass sein Tod mit den damaligen Ermittlungen zu tun haben musste. Aus diesem Grund musste sein Mörder, der vor drei Monaten als Komplize des Apokalypse-Killers wieder in Erscheinung getreten war und Anja seitdem anonyme Nachrichten schickte, ihrer Ansicht nach auch der Entführer der drei Mädchen sein. Und deshalb, so ihre Überlegung, konnte sie ihm möglicherweise dadurch auf die Spur kommen, dass sie die Ermittlungen ihres Vaters von damals wiederaufnahm. Sie musste nachvollziehen können, was er damals herausgefunden hatte und möglicherweise sein Todesurteil gewesen war. Nur so hatte sie eine Chance, den Mörder ihres Vaters und damit denjenigen zu finden, der in der Gegenwart sein Spiel mit ihr trieb.
Daneben musste sie aber auch die Ermittlungen im Mordfall an Pfarrer Hartmann im Auge behalten. Einerseits, damit sie vorgewarnt war, falls sich der Verdacht gegen sie erhärtete. Andererseits, um selbst mehr darüber zu erfahren und unter Umständen herauszufinden, warum sie den alten Geistlichen getötet hatte.
Der Gedanke erweckte in ihr den Wunsch, Englmair anzurufen, um ihn unter anderem zu fragen, wer eigentlich die Leiche gefunden hatte, denn bislang hatte sie das ganz vergessen. Doch bevor sie dazu kam, erhielt sie selbst einen Anruf auf ihrem Handy.
VII
Nachdem sie den Namen des Anrufers gesehen hatte, verließ sie das Büro, um im Flur ungestört telefonieren zu können.
»Hallo, Mama.«
»Hallo, Anja. Ich habe gerade mit Christian gesprochen.«
»Und? Was her er gesagt?«
»Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir uns um sieben beim Italiener treffen, der bei uns in der Nähe ist. Wir waren da schon ein paar Mal anlässlich irgendwelcher Geburtstage beim Essen. Du erinnerst dich bestimmt noch daran.«
»Ich erinnere mich. Und was hält er davon?«
»Er war sofort damit einverstanden.«
»Kommen Judith und Oliver auch?«
»Natürlich. Sie wollen vor allem dich unbedingt kennenlernen.«
»Gut. Ich freue mich auch schon, sie kennenzulernen.«
Sobald sie sich voneinander verabschiedet hatten, rief Anja Englmair an.
»Ich bin’s«, sagte sie in verschwörerischem Tonfall, nachdem er den Anruf entgegengenommen und sich gemeldet hatte. Sie sah sich unwillkürlich um, doch zu ihrer Erleichterung war sie noch immer allein auf dem Flur. »Ich warte vor eurem Büro auf dich.« Danach beendete sie das Gespräch sofort wieder und machte sich auf den Weg.
VIII
Englmair kam fünf Minuten später aus dem Büro, das er sich mit Krieger teilte. Er marschierte wort- und grußlos an ihr vorbei und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Am Kaffeeautomaten blieb er stehen. Anja postierte sich erneut so, dass der Automat ihr Deckung gab und Krieger sie nicht sofort entdeckte, falls er aus dem Büro in den Flur trat. Erst nachdem Englmair zwei Becher Kaffee gekauft und einen davon Anja in die Hand gedrückt hatte, sagte er etwas.
»Was willst du denn schon wieder?«
»Bestimmt nicht diesen ungenießbaren Kaffee«, erwiderte Anja.
Der Mordermittler sah sie überrascht an. »Wieso ungenießbar? Toni und ich trinken täglich mehrere Becher davon. Uns schmeckt er. Was hast du daran auszusetzen?« Er nahm einen großen Schluck, als wollte er seine Behauptung unter Beweis stellen und nickte dann beifällig.
Anja schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig!«
»Na schön. Aber um auf meine Frage zurückzukommen: Was willst du schon wieder?«
»Ich hab mit meiner Mutter über die Bibel gesprochen«, sagte Anja.
Jetzt war er doch interessiert und hob fragend die Augenbrauen. »Und was hat sie gesagt?«
Anja zuckte mit den Schultern. »Sie weiß leider auch nicht, was damit passiert ist. Allerdings ging sie immer davon aus, ich hätte sie nach dem Tod meines Vaters in den Müll geworfen, weil ich sauer auf Gott und die Welt war. Sie äußerte die Vermutung, dass die Bibel bei einem unserer nachfolgenden Umzüge verloren gegangen sein könnte.«
»Und wie ist sie dann in den Besitz des Geistlichen gelangt, wenn du sie ihm nicht gegeben hast?«
»Ich weiß es nicht«, gab Anja zu. »Es ist für mich ebenfalls ein Mysterium.« Das stimmte sogar. Sie wusste zwar im Gegensatz zu ihrem Kollegen ganz genau, wer Pfarrer Hartmann umgebracht hatte. Doch die Bibel mit ihrem Namen auf dem Altar war eine harte Nuss, die sie momentan nicht knacken konnte.
»Und nur, um mir das mitzuteilen, mussten wir uns unbedingt treffen?«, fragte Englmair und schüttelte den Kopf. »Ich war gezwungen, mir auf die Schnelle eine halbwegs überzeugende Ausrede für Toni einfallen zu lassen, damit er mich nicht begleitet.«
»Ich wollte außerdem von dir erfahren, wie die Ermittlungen vorangehen. Macht ihr Fortschritte?«
»Momentan treten wir auf der Stelle.«
»Verdächtige?«
Der Mordermittler schüttelte den Kopf und seufzte. »Schön wär’s. Aber alle Personen aus dem privaten und beruflichen Umfeld des Pfarrers, die dafür infrage kommen, haben ein Alibi. Außerdem tappen wir noch vollkommen im Dunkeln, was das Motiv betrifft. Deshalb bist du im Augenblick aufgrund der Indizien am Tatort die Einzige, die als Tatverdächtige in Frage kommt. Einzig der Umstand, dass wir weder Fingerabdrücke noch sonstige Körperspuren von dir am Tatort fanden, und die Tatsache, dass du eine Kollegin bist, hat dich bislang davor bewahrt, zur dringend Tatverdächtigen befördert zu werden.«
»Wahrscheinlich habe ich es dir zu verdanken, dass Krieger mir noch nicht meine Rechte vorgelesen hat.«
»Noch kann ich ihn bremsen«, sagte Englmair. »Aber je länger wir bei den Ermittlungen auf der Stelle treten und keinen anderen Tatverdächtigen finden, desto eher wird er sich ganz allein auf dich konzentrieren. Und du weißt, was das bedeutet.«
Anja nickte, sagte jedoch nichts. Der eisige Klumpen aus purer Angst in ihren Eingeweiden schien im Rhythmus ihres beschleunigten Herzschlags zu pulsieren.
»Vorläufige Festnahme … förmliche Vernehmung … Wohnungsdurchsuchung …«, zählte er an den Fingern auf, womit Anja in dem Fall zu rechnen hatte.
Dazu darf es auf keinen Fall kommen!
Aber wie sollte sie es verhindern? Schließlich war sie so schuldig, wie die Nacht dunkel war! Und deshalb war es auch so schwer, einen weiteren Tatverdächtigen zu finden. Früher oder später würden das auch die beiden Kollegen von der Mordkommission erkennen und sie festnehmen. Aber wenigstens musste sie sich nicht mehr vor einer Durchsuchung fürchten, da sie sämtliche Beweise aus ihrer Wohnung entfernt hatte. Sorgen machten ihr allenfalls der Absender der E-Mails, der jetzt im Besitz dieser Beweise war, und die Frage, was er damit eigentlich vorhatte.
In diesem Moment erinnerte sich Anja wieder daran, was sie Englmair eigentlich hatte fragen wollen. »Übrigens, wer hat Pfarrer Hartmanns Leiche gefunden?«
»Das waren zwei Streifenbeamte, die in der Kirche nach dem Rechten sahen, nachdem jemand bei der Polizei angerufen und gesagt hatte, er hätte Schreie aus der Kirche gehört und dann wäre jemand herausgekommen und weggerannt.«
»Hat der Anrufer den Täter gesehen?«, fragte Anja mit heftig klopfendem Herzen.
Doch Englmair schüttelte den Kopf. »Nein. Er hörte nur die Schritte.«
»Und wer war dieser Anrufer?«
»Das wissen wir nicht. Er nannte seinen Namen nicht und legte auf, sobald er seine Meldung erstattet hatte.«
»War die Kirchentür offen?«
Der Mordermittler antwortete mit einem Nicken.
Anja überlegte. »Ich nehme an, der Pfarrer hatte jemanden, der ihm den Haushalt geführt hat. Zumindest war das früher so.«
»Ja, er hatte eine Haushälterin. Sie war natürlich zutiefst erschüttert, als sie von dem Mord erfuhr.«
»Und konnte sie euch etwas darüber sagen, mit wem sich der Pfarrer in der Kirche getroffen hat?«
»Nein. Der Pfarrer sagte ihr am Abend nur, dass er noch einen Termin habe. Da es aber nicht ungewöhnlich war, dass er so spät noch Besucher in der Kirche empfing, machte sie sich keine Gedanken darüber und ging früh ins Bett.«
»Aber wenn sie allein im Pfarrhaus war, dann hat sie kein Alibi.«
Englmair schnaubte. »Die Frau ist Ende fünfzig, außerdem geradezu winzig und schmächtig. Sie wäre nie im Leben dazu fähig gewesen, den Pfarrer dermaßen zuzurichten.«
»Vielleicht hat sie ihn überrumpelt. Er rechnete bestimmt nicht damit, dass seine liebe kleine Haushälterin ihn abstechen könnte.« Anja wusste selbst, wie weit hergeholt das war. Außerdem fühlte sie sich mies, weil sie den Verdacht gegen eine unschuldige Frau schürte, die ihres Wissens nichts getan hatte, womit sie das verdient hätte. Doch sie wollte einfach nur Zweifel sähen und deutlich machen, dass es auch andere Verdächtige gab, wenn man nur nach ihnen suchte, um damit von ihrer eigenen Schuld abzulenken.
Aber der Mordermittler sprang nicht darauf an. »Laut vorläufigem Bericht des Rechtsmediziners traf die Messerklinge als Erstes die linke Schulter des Opfers und drang dabei nicht einmal sehr tief ein. Der Geistliche wurde durch diese oberflächliche Verletzung kaum beeinträchtigt und hätte sich einem Angreifer, dem er körperlich überlegen war, leicht erwehren können. Vor allem, weil die Haushälterin mindestens einen ganzen Kopf kleiner als er und wesentlich leichter war. Außerdem wurden die beiden weiteren Stiche nach Aussage des Pathologen mit einer Kraft ausgeführt, die eine Frau ihrer Statur und ihres Alters definitiv nicht besitzt.«
»Was ist mit …« Anja zuckte mit den Achseln. »… dem Mesner? Hat der ein überzeugendes Alibi?«
»Hat er. Er saß mit seiner Frau vor dem Fernseher. Außerdem hatte er absolut keinen Grund, den Pfarrer zu töten.«
»Wie heißt der Mann?«
»Das geht dich nichts an!«, sagte Englmair und sah Anja streng an. »Du bist zwar eine geschätzte Kollegin, und ich traue dir, wie ich schon mehrmals sagte, nicht zu, jemandem kaltblütig die Kehle durchzuschneiden, vor allem keinem katholischen Priester. Dennoch stehst du, machen wir uns nichts vor, vor allem aufgrund der Indizienlage am Tatort und des Umstands, dass du den Pfarrer kanntest, als du ein Kind warst, unter Tatverdacht. Also halte dich gefälligst aus unseren Ermittlungen heraus und von allen Personen fern, die wir befragen müssen. Wenn Toni Wind davon bekommt, dass unsere einzige Verdächtige die Nase in unseren Mordfall steckt und möglicherweise mit Zeugen spricht, beantragt er umgehend einen Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr. Und allein auf Grundlage der Beweise und des Fehlens anderer Verdächtiger dürfte es ihm momentan vermutlich nicht einmal besonders schwerfallen, diesen auch zu bekommen. Hast du verstanden?«
Anja nickte. »Verstanden.«
»Wenn du etwas über die Ermittlungen wissen willst, dann kannst du mich anrufen. Aber komm bloß nicht auf den Gedanken, selbst zu ermitteln.« Englmair sah auf seine Armbanduhr. »Aber jetzt muss ich zurück, sonst wird Toni noch misstrauisch, fragt sich, wo ich so lange bleibe, und kommt nachsehen.«
Anja bedankte sich bei ihm. Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, warfen sie ihre vollen Pappbecher in den Müll und gingen in verschiedenen Richtungen davon.
IX
Als sie in ihr Büro zurückkehrte, war Braun nicht mehr da. Während Anja Platz nahm, fragte sie sich unwillkürlich, ob er vielleicht einen interessierten Blick in die beiden Aktenordner geworfen hatte, die noch immer auf ihrem Schreibtisch lagen. Sie glaubte es allerdings nicht, denn bislang hatte sie nicht den Eindruck gewonnen, dass er besonders neugierig wäre. Im Gegenteil. Wenn es um die Privatangelegenheiten seiner Mitmenschen ging, zeigte er sich eher desinteressiert.
Immerhin konnte sie jetzt in aller Ruhe telefonieren und die Namen überprüfen, die sie sich beim Studium der beiden Akten notiert hatte.
Sie hob den Hörer ihres Bürotelefons ans Ohr und wählte die Nummer von Angelina Kreuzer, einer Bekannten aus der Abteilung Personal des Polizeipräsidiums. Nach der Begrüßung unterhielten sie sich zunächst ein paar Minuten über gemeinsame Bekannte und belanglose Dinge, bevor Anja auf den eigentlichen Anlass ihres Anrufs zu sprechen kam und die Namen von ihrem Notizzettel nannte.
Angelina fragte nicht nach, aus welchem Grund Anja Informationen über die genannten Personen benötigte, sondern überprüfte sie kurzerhand mithilfe ihres Computers.
Einer der beiden Todesermittler, die damals den vorgetäuschten Suizid ihres Vaters untersucht hatten, hieß Stefan Klein. Laut Personalakte war er vor ein paar Jahren pensioniert worden. Angelina nannte Anja die Adresse, unter der er geführt wurde.
Kleins damaliger Kollege hieß Franz Stemmler. Er war allerdings vor zwölf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben und konnte somit von Anja nicht mehr befragt werden. Höchstens mithilfe einer spiritistischen Sitzung, dachte Anja sarkastisch. Noch war sie aber nicht so verzweifelt, dass sie zu derartigen Mitteln greifen musste. Es genügte ihr ohnehin, wenn zumindest einer der beiden Todesermittler ihre Fragen beantwortete.
Hans Baumgartner, der Freund und Kollege ihres Vaters aus der Vermisstenstelle, war ebenfalls aus dem Dienst ausgeschieden. Allerdings schon vor dreiundzwanzig Jahren, unmittelbar nachdem Sabine Schwarzmüller die Leitung der Soko übernommen hatte. Dabei war er damals gerade einmal siebenunddreißig Jahre alt gewesen. Allerdings konnte Angelina aus den Computerdaten, auf die sie Zugriff hatte, nicht ersehen, aus welchem Grund er aufgehört hatte, sodass Anja auf Spekulationen angewiesen war.
Hatte er wegen der Erfolglosigkeit der Soko oder seiner Absetzung als Leiter alles hingeschmissen? Oder hatte ihn der Suizid des befreundeten Kollegen zu diesem Schritt bewogen? Vielleicht hatte er sich auch selbst eine Mitschuld daran gegeben und war daran zerbrochen. Anja wollte ohnehin mit ihm sprechen. Bei der Gelegenheit würde sie vermutlich auch herausfinden, warum er damals aus dem Dienst ausgeschieden war. Allerdings würde sie ihn ebenso wie ihre Mutter erst dann darüber aufklären, dass ihr Vater ermordet worden war, wenn sie den Täter gefunden und unschädlich gemacht hatte.
Da Angelina inzwischen in ihrem Computer die Daten von Sabine Schwarzmüller aufgestöbert hatte, die Baumgartner an der Spitze der Sonderkommission abgelöst hatte, konzentrierte sich Anja wieder darauf, ihrer Bekannten zuzuhören. Demnach war Schwarzmüller vor achtzehn Jahren zum Kriminalpräsidium Oberpfalz nach Regensburg gewechselt und hatte scheinbar dort Karriere gemacht.
Als Letztes kam der Rechtsmediziner. Doch der war schon damals kurz vor der Pensionierung gestanden und fünf Jahre später gestorben.
Anja bedankte sich und schlug vor, dass sie demnächst auf ihre Kosten zum Essen gehen sollten. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.
Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, saß Anja ein paar Minuten regungslos da, starrte blicklos auf den Notizzettel mit den fünf Namen, die sie, soweit vorhanden, mit den jetzigen Adressen der Personen ergänzt hatte, und dachte nach.
Sie hatte auf jeden Fall vor, mit Baumgartner und Klein zu reden. Mit Ersterem natürlich über die seit dreiundzwanzig Jahren vermissten Mädchen und die damaligen Ermittlungen der Soko. Unter Umständen gab es Spuren und Hinweise, die keinen Eingang in die Akten gefunden, ihren Vater jedoch auf die Spur des Täters gebracht hatten. Klein wollte sie hingegen zum Tod ihres Vaters befragen.
Als Anja einen Blick auf ihre Uhr warf, sah sie, dass sie noch genügend Zeit zur Verfügung hätte, um zumindest einen der beiden Männer aufzusuchen und zu befragen. Doch sie verschob es lieber auf den morgigen Tag. Sie seufzte. Nachdem sie vor zweieinhalb Monaten die beiden Akten kopiert hatte, hatte sie ihre Ermittlungen in diesen beiden Angelegenheiten, die ihrer Meinung nach in unmittelbarem Zusammenhang stehen mussten, immer wieder hinausgeschoben. Vor allem, nachdem sich der Mörder ihres Vaters nicht mehr gemeldet hatte. Im Nachhinein kam es ihr nun beinahe so vor, als scheute sie noch immer davor zurück. Aber wieso? Hatte sie Angst, dadurch schlafende Hunde zu wecken?
Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie die Antworten auf diese Fragen nicht wusste. Allerdings fasste sie den festen Vorsatz, morgen endlich damit anzufangen, die Hintergründe dieser alten Fälle aufzudecken.
Versprochen!
Nachdem sie diesen Entschluss gefasst und bekräftigt hatte, legte sie die Akten beiseite und widmete sich bis zum Feierabend wieder ihrer eigentlichen Arbeit, für die sie bezahlt wurde.