Читать книгу IM ANFANG WAR DER TOD - Eberhard Weidner - Страница 8

KAPITEL 5

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I

Anja war mit ihrem Wagen gerade einmal ein paar hundert Meter weit gefahren, als ihr so übel wurde, dass sie sofort am Straßenrand anhalten und hastig aussteigen musste. Sie schaffte es gerade noch, um die Motorhaube ihres MINI herum und auf den Bürgersteig zu kommen, bevor sie sich übergeben musste.

Bereits nach wenigen Augenblicken richtete sie sich schwer atmend wieder auf und wischte sich mit einem Papiertaschentuch den Mund ab. Sie blinzelte die Tränen aus den Augen und sah sich um. Zum Glück war es noch immer dunkel und niemand unterwegs.

Sie entfernte sich ein paar Schritte von dem Erbrochenen, stieg aber nicht gleich wieder in den Wagen. Stattdessen genoss sie die frische Luft und atmete tief durch, obwohl der schlechte Geschmack in ihrem Mund sie anwiderte.

Nicht nur ihre Hände zitterten; sie schlotterte am ganzen Körper, als wäre ihr kalt. Dabei war ihr heiß, und sie schwitzte am ganzen Körper. Es fühlte sich an, als stünde sie unter Schock. Ihr war zwar noch immer ein bisschen schlecht, aber wenigstens hatte sie nicht mehr das Gefühl, sie müsste sich übergeben. Dafür hatte sie wieder großen Durst.

Anja war überzeugt, dass die Symptome nicht vom schrecklichen Anblick des Leichnams herrührten, sondern von der Angst kamen, die ihr noch immer wie ein eisiger Klumpen im Magen lag. Dabei wusste sie nicht einmal, wovor sie mehr Angst hatte. Davor, dass sie verhaftet wurde und möglicherweise für einen Mord zur Rechenschaft gezogen wurde, den sie nicht begangen, sondern nur geträumt hatte. Oder davor, dass sie den Geistlichen tatsächlich ermordet hatte, sich wegen des Genusses einer ganzen Flasche Wodka aber nicht mehr daran erinnern konnte. Im Grund wäre das eine wie das andere eine absolute Katastrophe. Sie glaubte jedoch, dass ihr die zweite Alternative mehr zu schaffen machen würde. Sie hatte nämlich keine Ahnung, wie sie mit einer derartigen Schuld weiterleben sollte.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an ihren Wagen und dachte darüber nach, was sie jetzt unbedingt erledigen sollte und überhaupt tun konnte. Als Erstes musste sie natürlich nach Hause und überprüfen, ob das Tatmesser tatsächlich aus ihrer Wohnung stammte und die Kleidungsstücke, in denen sie aufgewacht war, möglicherweise Blutflecken aufwiesen. Falls ja, musste sie all diese Sachen so schnell wie möglich loswerden, bevor Krieger und Englmair doch noch auf den Gedanken kamen, ihr mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss in Händen und einer Horde Kollegen im Schlepptau einen Überraschungsbesuch abzustatten.

Aber was dann?

Das hing natürlich in erster Linie davon ab, was sie in ihrer Wohnung fand. Wenn, wie sie insgeheim bereits befürchtete, das Fleischmesser ihres Messerblocks tatsächlich fehlte und ihre Kleidung frische Blutflecken aufwies, dann konnte sie sich nicht mehr selbst belügen und leugnen, dass sie den Priester getötet hatte.

Sollte sie sich in dem Fall nicht besser umgehend den Kollegen von der Mordkommission stellen?

Niemals!

Der Widerspruch ihrer inneren Stimme war so heftig, dass Anja regelrecht zusammenzuckte. Allerdings hatte sie recht. Sie würde sich auf keinen Fall stellen.

Falls die Mordermittler ihre Fingerabdrücke, Haare oder DNA am Tatort fanden, würden sie ohnehin demnächst von selbst auf Anja zukommen und sie in Gewahrsam nehmen, um sie zu befragen. Sie würde aber den Teufel tun und den Kollegen gewiss nicht die Arbeit abnehmen. Diese Genugtuung würde sie Krieger ganz bestimmt nicht bereiten. Wenn er schon so versessen darauf war, ihr Handschellen anzulegen, dann musste er gefälligst auch selbst etwas dafür tun.

Doch was sollte sie in dem Fall tun?

Ich muss unbedingt herausfinden, warum ich Pfarrer Hartmann möglicherweise getötet habe.

Anja nickte. Ein Grund mehr, dass sie auf freiem Fuß blieb und sich nicht stellte. Denn wenn sie erst einmal in Untersuchungshaft säße, wären ihr die Hände gebunden.

Sie dachte über ein mögliches Motiv nach, konnte sich aber beim besten Willen keinen Grund vorstellen, weswegen sie den Priester hätte töten sollen. Schon gar nicht auf derart brutale Art und Weise, wie der Traum und der Anblick der Leiche es vermuten ließen.

Dennoch musste sie einen Beweggrund gehabt haben, sofern sie den Geistlichen tatsächlich getötet hatte; worauf im Augenblick einiges hindeutete.

Sie dachte erneut an ihren Albtraum. Wenn sie davon ausging, dass es sich dabei in Wahrheit um Erinnerungen handelte, die sie verdrängt oder im Alkohol ertränkt hatte, dann war Pfarrer Hartmann von der Messerattacke überrascht worden. Sie konnte sich noch schmerzlich genau an seinen verblüfften Gesichtsausdruck erinnern, als er das blutige Messer gesehen hatte. Außerdem war er weder zur Seite noch nach hinten ausgewichen und hatte auch keinerlei Abwehrbewegungen ausgeführt. Sie hatte den Eindruck, dass es davor ein Streitgespräch gegeben hatte. Allerdings wusste Anja nicht, worum es darin gegangen war. Ihr Traum und damit ihre unbewussten Erinnerungen hatten erst kurz vor der Messerattacke eingesetzt. Alles, was davor geschehen war, lag im Dunkeln und war momentan noch ein Geheimnis.

Anja konnte sich nicht erinnern, dass sie bis gestern einen Gedanken an den Pfarrer verschwendet hatte. Sie hatte sogar seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht.

Das Letzte, an das sie sich vom gestrigen Tag noch bewusst erinnern konnte, war, dass sie nach der Arbeit nach Hause gekommen und in bequemere Klamotten geschlüpft war. Anschließend hatte sie sich etwas zu essen gemacht und dazu Mineralwasser getrunken. Sie wusste noch, dass sie großen Durst gehabt und fast die ganze Flasche geleert hatte. Doch an mehr als das konnte sie sich nicht erinnern. Unmittelbar danach setzte die Gedächtnislücke ein, die der übermäßige Wodkakonsum ausgelöst haben musste. Der Filmriss endete erst mit ihrem Erwachen aus dem Albtraum, der sich im Nachhinein als furchtbare Realität herausgestellt hatte.

Was ist in den Stunden dazwischen bloß geschehen?

Anja bemühte sich anhand dessen, was sie in ihrem Wohnzimmer vorgefunden und von den Kollegen in der Kirche erfahren hatte, zu rekonstruieren, was sie in der Zeit vermutlich getan hatte.

Irgendwann gestern Abend musste sie auf jeden Fall zu trinken angefangen haben. Warum sie das getan hatte, war ihr allerdings schleierhaft. Sie war jetzt schon so lange trocken gewesen, und es war ihr auch gar nicht schwergefallen, auf den Alkohol zu verzichten. Es musste also einen verdammt guten Grund gegeben haben, warum sie ausgerechnet jetzt wieder mit dem Trinken angefangen hatte.

Aber was kann das für ein Grund gewesen sein?

Ihr kam der Gedanke, dass der Priester sie angerufen haben könnte. Je länger Anja darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam es ihr vor. Denn wieso hätte sie ihn anrufen oder auch nur an ihn denken sollen? Das hatte sie schließlich seit Jahren nicht getan.

Nein, der Geistliche musste sich bei ihr gemeldet haben!

Aber aus welchem Grund?

Sie stellte sich vor, wie Pfarrer Hartmann vor ein paar Tagen eine Visitenkarte von ihr in die Hände gefallen war. Und vermutlich hatte er sogar gewusst, dass es sich dabei trotz des geänderten Nachnamens um dieselbe Anja handelte, die ihm nach dem Tod ihres Vaters gesagt hatte, sie könnte nicht länger an einen Gott glauben, der zugelassen hatte, dass ihr Vater starb, und dass sie ihn hasste. Vielleicht hatte er einen späten Versuch unternehmen wollen, sie wieder zurück zu Gott zu führen. Oder er hatte all die Jahre das Gefühl gehabt, bei ihr versagt zu haben, und wollte es nun wiedergutmachen. Das klang durchaus plausibel; und so, wie sie ihn von damals in Erinnerung hatte, wäre ihm das auch zuzutrauen gewesen.

Also rief er mich an!

Dieser Anruf aus heiterem Himmel musste sie geradezu schockiert haben. Es musste ihr wie eine geisterhafte Stimme aus der Vergangenheit vorgekommen sein, die all die schmerzhaften Erinnerungen wieder in ihr hochkochen ließ.

Dennoch hatte sie einem Treffen in der Kirche zugestimmt. Und Pfarrer Hartmann hatte Datum und Uhrzeit dieses Treffens sowie Anjas Vornamen und Handynummer auf der Rückseite der Visitenkarte notiert.

Nach dem Telefonat war sie vermutlich so aufgewühlt gewesen, dass sie die Wohnung verlassen und die Wodkaflasche besorgt hatte. Anschließend hatte sie zu trinken angefangen und war dann zu ihrem Rendezvous mit dem Geistlichen gefahren.

Aber warum habe ich das verdammte Messer mitgenommen?

Hatte sie etwa von Anfang an vorgehabt, den Mann umzubringen? Oder hatte sie das Messer nur zur Sicherheit dabeigehabt, weil ihre Dienstwaffe wie fast immer wieder mal in der Schreibtischschublade im Büro lag?

Und dann?

Dann musste der Pfarrer während ihres Streitgesprächs irgendetwas gesagt haben, das sie letzten Endes dazu veranlasst hatte, wie eine Verrückte auf ihn einzustechen.

Aber was?

Anja schüttelte den Kopf. Sie weigerte sich noch immer, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass sie tatsächlich zu so etwas Brutalem in der Lage sein sollte und eine kaltblütige Mörderin in ihr steckte. Es würde ihr Selbstbild so nachhaltig erschüttern, dass sie möglicherweise daran zerbrechen könnte. Allerdings ahnte sie bereits, dass in ihr auch eine dunkle Seite schlummerte und nur auf den richtigen Auslöser wartete, um zum Vorschein zu kommen. Der übermäßige Alkoholkonsum früherer Tage und ihre dabei zeitweise auftretende Sehnsucht nach dem Tod waren unangenehme Aspekte dieser dunklen Seite gewesen.

Aber kaltblütiger, brutaler Mord?

Unmöglich!, hätte Anja gern voller Überzeugung ausgerufen. Doch dazu sah sie sich bedauerlicherweise nicht in der Lage. Schließlich sprachen bislang sämtliche Indizien dafür. Außerdem musste sie sich eingestehen, dass sie möglicherweise zu einem Mord in der Lage war, wenn sie einen wirklich triftigen Grund dafür hatte. Zum Beispiel dann, wenn sie endlich den Mörder ihres Vaters fand. Aber das war ein anderes Thema und daran wollte sie jetzt nicht denken.

Sie musste stattdessen unbedingt herausfinden, was während ihres Blackouts passiert war und was sie dazu getrieben haben könnte, den Geistlichen zu töten.

Als Anja ihre Überlegungen beendete, stellte sie fest, dass sie nicht länger am ganzen Körper schlotterte und schwitzte. Auch ihre Hände zitterten nicht mehr so stark. Der Schock über das, was sie möglicherweise getan hatte, war gewichen, nachdem sie gründlich über alles nachgedacht und sich überlegt hatte, was sie tun konnte. Allerdings hatte sie weiterhin großen Durst.

Als sie plötzlich Schritte hörte, hob sie den Kopf und sah sich um. Ein alter Mann mit einem Dackel an der Leine kam auf dem Gehsteig auf sie zu. Da sie ungern dem vorwurfsvollen oder mitleidigen Blick des Mannes begegnen wollte, sobald er die frische Lache Erbrochenes entdeckte, stieg sie rasch in ihr Auto und fuhr los.

II

Zum Glück hatte sie noch immer genügend Zeit zur Verfügung, bevor sie zur Arbeit musste. Nachdem sie das Mietshaus in der Wohnsiedlung Hansapark nördlich des Westparks erreicht hatte, in dem sie im zweiten Stock eine 78,5 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung bewohnte, fuhr sie in die Tiefgarage und stellte den MINI auf ihren Stellplatz. Sie wollte nach Möglichkeit unbeobachtet sein, falls sie später tatsächlich Indizienbeweise eines Mordfalls in den Wagen laden musste, um sie hinterher irgendwo verschwinden zu lassen.

Als sie wenig später in ihrer Etage aus dem Aufzug stieg, fiel ihr Blick automatisch auf die Eingangstür zur Nachbarwohnung, in der Raphael Guthmann gewohnt hatte. Die Wohnung stand seit seinem Tod leer und wurde allem Anschein nach von Grund auf renoviert. Manchmal hörte Anja jemanden dort arbeiten oder durch die Wohnung gehen; gesehen hatte sie aber noch niemanden. Sie erschauderte bei dem Gedanken an die damaligen Erlebnisse und wandte rasch den Blick ab.

Sobald sie ihre eigene Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, zog sie Stiefel und Mantel aus. Ihre Bewegungen waren hektisch. Am liebsten hätte sie sofort damit begonnen, ihre Wohnung nach Beweisstücken zu durchsuchen, die ihr buchstäblich das Genick brechen konnten, wenn sie in falsche Hände gerieten. Doch sie ermahnte sich, Ruhe zu bewahren und es langsam angehen zu lassen. Schließlich hatte sie genügend Zeit; sie rechnete nicht wirklich damit, dass die Mordermittler in den nächsten zwei bis drei Stunden auf der Matte stehen könnten. Die Auswertung der Spurenlage am Schauplatz des Mordes würde noch eine ganze Weile dauern. Allein die Sicherung und Überprüfung der Fingerabdrücke würde sich über Stunden hinziehen. Und die Auswertung von DNA-Spuren, die möglicherweise in der Kirche gefunden wurden, würde sogar noch länger dauern. Davon abgesehen gab es an einem derart öffentlichen Ort, an dem ständig zahlreiche Menschen ein- und ausgingen, jede Menge Spuren, die allesamt ausgewertet werden mussten. Anja beneidete die zuständigen Beamten nicht um diese Sisyphusarbeit. Andererseits kam es ihr zugute, wenn die Auswertung dadurch länger währte.

Anja ging zunächst ins Badezimmer, wusch ihre Hände und ihr Gesicht und putzte sich anschließend die Zähne. Danach trank sie mehrere Schlucke Wasser aus dem Hahn, um ihren Durst zu stillen, und fühlte sich schon wieder etwas besser. Dennoch ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie auf ihre Armbanduhr sah, als liefe ihr die Zeit davon.

Sie überlegte kurz, ob sie Konstantin anrufen sollte. Vermutlich hätte es bereits eine beruhigende Wirkung auf sie, wenn sie nur seine angenehme Stimme hörte. Allerdings schlief er wahrscheinlich schon, weil er Nachtschicht gehabt hatte. Und da er seinen Schlaf brauchte, wollte sie ihn ungern stören.

Also ging sie stattdessen in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Dabei vermied sie es zunächst, einen Blick auf den Messerblock zu werfen. Doch sobald die Maschine mit einem Gluckern anfing, ihren Dienst zu verrichten, konnte sie es nicht länger hinauszögern. Außerdem musste sie sich endlich Gewissheit verschaffen.

Sie sah auf den ersten Blick, dass es eine Lücke gab und ein Messer fehlte. Und als sie die vorhandenen Messer überprüfte, stellte sich heraus, dass es sich um das Fleischmesser handelte.

Also ist es wirklich wahr!

Anja musste sich an den Küchentisch setzen, weil bei dieser Erkenntnis ihre Knie ganz weich wurden und unter ihr nachzugeben drohten. Allerdings schockierte der Gedanke, dass sie tatsächlich eine Mörderin war, sie dann doch nicht so sehr, wie sie befürchtet hatte. Wahrscheinlich, weil sie es insgeheim schon die ganze Zeit geahnt hatte, seit Krieger ihr mit gehässigem Grinsen in der Kirche die Indizien für ihre Täterschaft präsentiert hatte. Deshalb war der Schock in diesem Augenblick, als sich ihre Ahnung zur Gewissheit verfestigte, auch nicht mehr so groß.

Sie atmete mehrere Male tief durch und verdrängte das Entsetzen über ihre Tat, die sie zu überwältigen drohte. Dafür hatte sie jetzt einfach keine Zeit.

Nach einer Weile hatte sie sich wieder halbwegs im Griff. Sie würde sich am Riemen reißen und tun, was getan werden musste, um ihren Arsch zu retten. Auch wenn es ihrem Polizistinnenherz einen schmerzhaften Stich versetzte, dass sie gezwungen war, Beweise in einem Mordfall zu vernichten. Aber die Alternative war undenkbar.

Sobald der Kaffee fertig war, schenkte sich Anja einen Becher voll und trank ihn schwarz und ohne Zucker, wie sie ihn am liebsten mochte. Er war noch so heiß, dass sie sich die Lippen und den Gaumen verbrühte. Aber der Schmerz war nicht so schlimm. Im Gegenteil, er half ihr dabei, ihre Gedanken zu ordnen und in die richtigen Bahnen zu lenken, anstatt ständig darüber nachzugrübeln, was sie getan hatte. Sie war sich sicher, dass sie einen triftigen Grund dafür gehabt hatte. Und ändern konnte sie daran jetzt ohnehin nichts mehr. Alles, was sie noch tun konnte, war Schadensbegrenzung zu betreiben, um nicht im Gefängnis zu landen.

Also nichts wie an die Arbeit!

Nachdem sie den ersten Becher Kaffee leergetrunken hatte, zog sie Einweghandschuhe an, die sie sonst immer benutzte, wenn sie die Wohnungen oder Häuser vermisster Personen durchsuchte.

Zuerst säuberte sie sämtliche Messer und den Messerblock aus Holz gründlich. Anschließend übergoss sie alles zusätzlich großzügig mit Rohrreiniger, den sie ein paar Minuten einwirken ließ. Auch wenn sie damit erfahrungsgemäß nicht sämtliche organischen Spuren beseitigen konnte, würde sie mit diesen Maßnahmen die Arbeit des kriminaltechnischen Labors erheblich erschweren. Außerdem war es nur eine Vorsichtsmaßnahme, falls die Sachen wider Erwarten gefunden und mit dem Mordfall in Verbindung gebracht wurden. Der stark ätzende Reiniger reizte ihre Augen und stach ihr in der Nase. Deshalb öffnete sie das Fenster, um zu lüften. Danach spülte sie alles mit klarem Wasser, trocknete es ab und packte es in die Plastiktüte eines Discounters, die sie vorher ebenfalls sorgfältig abgewischt hatte.

Anschließend ging Anja ins Wohnzimmer. Dabei ließ sie überall das Licht brennen, als hätte sie Angst vor der Dunkelheit.

Das Wohnzimmer sah noch immer so aus, wie sie es nach Kriegers Anruf hinterlassen hatte. Der Geruch nach Alkohol weckte in ihr unwillkürlich den Wunsch, etwas Hochprozentiges zu trinken, obwohl sich ihr dabei gleichzeitig der Magen umdrehte. In der umgekippten Wodkaflasche befand sich nur noch ein kleiner Rest. Die Versuchung war groß, die Flasche einfach auszutrinken; doch Anja widerstand ihr. Der Alkohol hatte in dieser Nacht schon genug Unheil angerichtet. Außerdem vergegenwärtigte sie sich, dass sie neun Monate lang keinen Tropfen getrunken und zuletzt auch nicht länger das Bedürfnis danach verspürt hatte. Das half, um ihre Widerstandskraft zu stärken und standhaft zu bleiben. Und so nahm sie die Flasche und das Glas, trug beides rasch in die Küche und leerte den Rest der hochprozentigen Flüssigkeit in den Ausguss. Danach kehrte sie mit einem nassen Lappen ins Wohnzimmer zurück, öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen, und wischte den Tisch ab.

Nachdem sie den Lappen in die Küche zurückgebracht hatte, kam sie wieder zurück und sah sich aufmerksam im ganzen Zimmer um. Zunächst schien alles an seinem Platz zu sein. Nichts deutete noch auf ihren Alkoholexzess oder den Mord an Pfarrer Hartmann hin. Doch dann entdeckte sie in einem Regal eine Mappe aus dunkelblauem Karton mit Gummikordel zum Verschließen, die sie normalerweise im Schrank aufbewahrte und auf der mehrere großformatige Fotos lagen. In der Mappe sammelte sie alle Fotografien, die ein größeres Format besaßen und daher nicht in die normalen Einsteckalben passten. Es handelte sich dabei vor allem um Gruppenfotos und größtenteils um Klassenfotos aus ihrer Schulzeit.

Anja konnte sich nicht erinnern, dass sie sich in letzter Zeit die Fotos angesehen hatte. Es musste also zur Zeit ihres Blackouts geschehen sein.

Sie nahm die Mappe und die Fotos, setzte sich auf die Couch und sah sich die Bilder an, die sie herausgenommen und allem Anschein nach angeschaut hatte, während sie letzte Nacht hier gesessen und Wodka gesoffen hatte.

Obenauf lag das Gruppenfoto ihrer Erstkommunion, das nach dem Gottesdienst vor der Kirche aufgenommen worden war. Anja in ihrem weißen Kommunionkleid stand in der Mitte der zweiten Reihe. Ganz rechts war Pfarrer Hartmann in seinem liturgischen Gewand mit den Ministranten zu sehen. Das Gesicht des Geistlichen war allerdings nicht mehr zu erkennen; es war so oft mit blauem Kugelschreiber übermalt worden, dass die Mine ein Loch im Fotopapier hinterlassen hatte.

War sie das etwa gewesen?

Wer sonst, Dummkopf?

Anja seufzte. Wenn Krieger dieses Foto zu Gesicht bekäme, wäre er bestimmt überglücklich und würde sie sogar ohne Haftbefehl festnehmen. Also musste sie dafür sorgen, dass er es nie zu sehen bekam. Und obwohl es ihr leidtat, dass sie es vernichten musste, führte doch kein Weg daran vorbei.

Sie legte es beiseite und sah sich die nächste Aufnahme an. Es handelte sich um ein Gruppenfoto aus dem Kindergarten, auf dem alle Kinder und Erzieherinnen zu sehen waren. Allerdings war kein Gesicht übermalt oder ausgemerzt worden. Danach kamen Klassenfotos aus der Grundschule und dem Gymnasium; aber auch sie waren unversehrt.

Anja legte die übrigen Bilder in die Mappe zurück, verschloss sie und brachte sie an ihren Platz im Wohnzimmerschrank zurück. Dann nahm sie das Foto ihrer Erstkommunion und ging damit in die Küche. Sie legte es in die leere Spüle und zündete es dann mithilfe einer Streichholzschachtel an, die sie für den Notfall in einer der Schubladen aufbewahrte. Und wenn das hier kein Notfall war, was dann? Sie wartete, bis die Aufnahme restlos verbrannt war. Dann öffnete sie den Wasserhahn und spülte die Aschereste weg. Sie ließ das Wasser eine Weile laufen, um dafür zu sorgen, dass nichts zurückblieb. Währenddessen überlegte sie, was noch zu tun war.

Die Klamotten!

Richtig! Sie musste alles, was sie beim Aufwachen getragen hatte, im Hinblick auf frische Blutspuren überprüfen. Obwohl es ohnehin am besten war, wenn die die Sachen auf alle Fälle entsorgte. Sie konnten Spuren des Mordes oder vom Tatort aufweisen, die so klein waren, dass sie mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen waren. Wenn sie allerdings tatsächlich sichtbare Blutflecken fand, wäre das ein weiteres schlagkräftiges Indiz, dass sie den Geistlichen getötet hatte.

Anja ging ins Bad, wo wie in der übrigen Wohnung mit Ausnahme ihres Schlafzimmers noch immer Licht brannte, und holte die schwarze Jeans und den Kapuzenpulli aus der Wäsche. Sie untersuchte die beiden Kleidungsstücke penibel Quadratzentimeter für Quadratzentimeter. Schließlich entdeckte sie zwei kleine dunkle, nahezu kreisrunde Flecken auf dem rechten Ärmel des Pullis, die sie zunächst beinahe übersehen hätte, weil sie sich kaum vom schwarzen Stoff abhoben. Als sie mit dem Zeigefinger darüberstrich, konnte sie jedoch eine harte Kruste spüren. Sie befeuchtete den Teil des Einweghandschuhs, der ihren rechten Zeigefinger bedeckte, mit Speichel und rieb damit über einen der getrockneten Flecken. Als sie ihre Fingerspitze daraufhin ansah, hatte sich auf dem Nitril ein dunkelroter Fleck gebildet. Sie hob den Finger an die Nase und roch daran. Der charakteristische Geruch war nur schwach ausgeprägt, aber dennoch eindeutig.

Blut!

Um ganz sicherzugehen, leckte sie daran. Der unverkennbare Geschmack nach Kupfer bestätigte ihr, was sie bereits wusste. Bei den Flecken handelte es sich eindeutig um Blutstropfen!

An der Hose fand sie hingegen keine Flecken. Aber es konnten dennoch Spuren vom Tatort daran haften. Deshalb stopfte sie den Kapuzenpullover und die Jeans mitsamt dem T-Shirt, den Socken und der Unterwäsche, in denen sie heute Nacht auf der Wohnzimmercouch aufgewacht war, kurzerhand in eine zweite Plastiktüte, die sie zuvor gesäubert hatte.

Mit der Tüte in der behandschuhten rechten Hand kehrte sie in den Flur zurück und überprüfte ihre Schuhe. Da ihre Laufschuhe weiß waren, entdeckte sie die drei Blutstropfen auf der Spitze des linken Schuhs sofort. Sie waren ebenfalls nahezu kreisrund und sternförmig ausgefranst. Anja nahm an, dass sie beim Zurückziehen des Fleischmessers nach einem der drei Stiche, die sie dem Pfarrer zugefügt hatte, von der blutigen Klinge getropft waren, und erschauderte bei dem Gedanken. Sie trennte sich zwar nur höchst ungern von den bequemen Laufschuhen, doch sie gründlich zu reinigen und aus sentimentalen Gründen zu behalten, könnte sich als fataler Fehler erweisen, weil die Labortechniker das Blut unter Umständen selbst dann noch nachweisen und analysieren konnten.

Sie wischte daher die eingetrockneten Blutstropfen notdürftig mit einem feuchten Küchentuch ab, das sie anschließend in der Toilette hinunterspülte. Dann steckte sie die Schuhe in eine dritte Tüte.

Fertig! War’s das jetzt?

Anja dachte konzentriert nach. Sie glaubte zunächst, dass sie tatsächlich an alles gedacht hatte. Doch ein nagendes Gefühl im Hinterkopf ließ ihr keine Ruhe und gab ihr das unangenehme Gefühl, dass sie etwas Wichtiges übersehen hatte. Nur was?

Sie vergegenwärtigte sich ein weiteres Mal widerwillig die Szenen des vermeintlichen Albtraums. Dann fiel ihr plötzlich ein, was sie vergessen hatte.

Was ist mit den Handschuhen?

Als sie den Mord begangen hatte, hatte sie schwarze Lederhandschuhe getragen. Sie besaß keine derartigen Handschuhe. Aber wenn sie den Wodka hatte besorgen können, ohne sich hinterher daran zu erinnern, dann bestimmt auch Handschuhe.

Anja durchsuchte daraufhin die komplette Wohnung, fand die Handschuhe aus ihrem Albtraum jedoch nirgends, obwohl sie überall gewissenhaft nachsah. Schließlich kam sie zur Überzeugung, dass die Handschuhe nicht in der Wohnung waren. Sie musste sie bereits auf dem Weg vom Tatort zurück nach Hause irgendwo entsorgt haben. Andernfalls hätten sie hier irgendwo sein müssen.

Ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr ohnehin, dass es allmählich Zeit zum Aufbruch wurde. Wenn sie die belastenden Gegenstände an verschiedenen Stellen entsorgen wollte, bevor sie schließlich zu ihrer Dienststelle fuhr, musste sie sich allmählich auf die Socken machen.

III

Sie rechnete nicht wirklich damit, dass sie schon jetzt auf Schritt und Tritt überwacht wurde, noch ehe die Ergebnisse der Kriminaltechniker und die Laboranalysen vorlagen. Dennoch hielt sie nach einem Verfolger Ausschau, als sie wieder hinter dem Lenkrad ihres Wagens saß und ihn durch die allmählich erwachenden Straßen der bayerischen Landeshauptstadt lenkte. Es wäre nämlich ein schlechter Scherz auf ihre Kosten, wenn sie jetzt angehalten und ihr Wagen durchsucht würde. Schließlich hatte sie alle schlagkräftigen Beweise für ihre Täterschaft hinsichtlich des Mordes an Pfarrer Hartmann im Kofferraum liegen. Die ermittelnden Beamten würden nicht einmal danach suchen müssen, sondern bräuchten alles nur noch auszupacken, um ihr den Mord nachweisen zu können. Ganz abgesehen davon, dass bereits ihre Bemühungen, die Sachen spurlos verschwinden zu lassen, ihre Schuld hinlänglich bewiesen.

Doch sie zwar gezwungen, ein Risiko einzugehen, wenn sie die Dinge loswerden wollte, bevor sie noch stärker ins Visier der Ermittler geriet.

Da sie durch ihre langjährige Tätigkeit bei der Vermisstenstelle unter anderem auch einiges darüber gelernt hatte, wie man Gegenstände spurlos verschwinden lassen konnte, hatte sie auch schon ganz konkrete Vorstellungen, wo sie die Tüten mit den Klamotten, den Laufschuhen und dem Messerblock loswerden konnte, ohne dass diese zu ihr zurückverfolgt werden konnten. Und als sie zu guter Letzt die leere Wodkaflasche in einen Altglascontainer warf, woraus ihr niemand einen Strick drehen konnte, und die Einweghandschuhe auszog, atmete sie erleichtert auf. Sie war unendlich froh, dass sie sämtliche Beweise für ihre Schuld losgeworden war. Außerdem war sie überzeugt, dass die Sachen entweder nie mehr auftauchen würden oder zumindest niemand sie mit dem Mord an Pfarrer Hartmann und ihr in Verbindung bringen konnte.

Bis sie schließlich zu ihrer Dienststelle fuhr, war es längst hell geworden. Sie sah noch immer aufmerksam in den Rückspiegel und überprüfte die Fahrzeuge, die hinter ihr fuhren. Doch ihr war kein anderer Wagen aufgefallen, der ihr über längere Zeit gefolgt wäre.

So weit, so gut, dachte sie.

Allerdings wollte sich keine wirkliche Befriedigung darüber einstellen. Denn jäh kam ihr wieder zu Bewusstsein, dass sie eine Mörderin war und einen katholischen Priester umgebracht hatte.

Aber warum nur?

IM ANFANG WAR DER TOD

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