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KAPITEL 9

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I

Als Anja um fünf vor sieben das italienische Restaurant in der Ehrwalder Straße im Stadtteil Sendling-Westpark betrat, war ihre Mutter bereits da. Sie saß allein an einem Tisch für sechs Personen, den sie reserviert hatte. Nachdem Anja ihren Mantel ausgezogen und aufgehängt hatte, begrüßten sie sich. Dann nahm Anja neben Dagmar Platz. Sie saß ungern mit dem Rücken zur Eingangstür; mit der Wand hinter sich fühlte sie sich wohler. Außerdem konnte sie so alles beobachten, was im Lokal vor sich ging.

Da sie Durst hatte, bestellte sie ein großes Glas Mineralwasser. Es fiel ihr, wie schon in den letzten neun Monaten, nicht schwer, bei derartigen Anlässen auf Alkohol zu verzichten. Deshalb erschien ihr der gestrige Rückfall umso rätselhafter.

Dagmar und Anja unterhielten sich über belanglose Dinge. Sie ließen dabei allerdings Themen komplett außen vor, die zu Kontroversen führen konnten. Beispielsweise Anjas Liebesleben oder ihre Arbeit als Polizistin, die ihrer Mutter schon immer ein Dorn im Auge gewesen war. Sie wollten die gute Stimmung nicht trüben, die momentan zwischen ihnen herrschte.

Anjas Mutter war mittlerweile 56 Jahre alt, hatte aber noch immer ein glattes und faltenloses Gesicht. Allerdings schaute sie seit dem frühen Tod ihres ersten Mannes stets etwas verbissen und humorlos drein. Sie tönte ihr hellbraunes Haar, da sich Jahr um Jahr immer mehr graue Haare darin zeigten. Dagmar Fröhlich war zwar einen halben Kopf kleiner als Anja, aber ebenso schlank. Darüber hinaus gab es zwischen Mutter und Tochter eine große Ähnlichkeit in den Gesichtszügen, der Form und dem Schnitt der Gesichter sowie der Farbe der Augen.

Wenige Minuten nach sieben öffnete sich die Tür, und drei Leute betraten das Restaurant.

Auch wenn Anja nicht mit ihrem Kommen gerechnet hätte, hätte der Anblick des älteren Mannes, der die kleine Gruppe anführte, ihr sofort verdeutlicht, wen sie vor sich hatte. Denn er sah aus wie eine gealterte Version ihres Vaters.

Als Anja bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte und ihr dabei der Mund vor Staunen offenstand, schloss sie ihn rasch. Allerdings konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden, sondern musste ihn weiterhin ansehen, als würde er ihren Blick magnetisch anziehen.

Sie hatte ganz vergessen, wie ähnlich sich die beiden Brüder schon damals gesehen hatten. Und diese Ähnlichkeit sorgte nun dafür, dass ihr ein Schauder über den Rücken lief. Sie hatte das Gefühl, sie würde träumen. Und in diesem Traum war ihr Vater gar nicht tot, sondern am Leben und kam in diesem Augenblick lächelnd auf sie zu. Doch dann realisierte Anja, dass es kein Traum und ihr Vater seit vielen Jahren tot war. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schock und mit einer Intensität, als wäre ihr Vater soeben zum zweiten Mal gestorben.

»Hallo Anja«, sagte der Mann, der inzwischen unmittelbar vor ihr stand und ihr die rechte Hand darbot.

Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie aufgestanden war, und starrte ihn noch immer an, als wäre er ein Gespenst.

Als sie keine Anstalten machte, seine Hand zu ergreifen, oder weil sich ihre heftigen Gefühle wahrscheinlich auf ihrem Gesicht abzeichneten, machte er ein besorgtes Gesicht und fragte: »Alles in Ordnung mit dir?«

Anja schwankte leicht, als ein heftiges Schwindelgefühl sie überkam. Doch es legte sich sofort wieder, und sie beschloss, sich gefälligst zusammenzureißen. Ihr Vater war mittlerweile seit mehr als der Hälfte ihres Lebens tot, und daran würde sich auch nie etwas ändern. Und der Mann, der ihm so verdammt ähnlich sah und nun erwartungsvoll vor ihr stand, hatte ihn möglicherweise ermordet.

»Ja«, sagte sie daher und nickte zur Bekräftigung heftig. »Mir geht’s gut. Es ist nur …« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Ähnlichkeit …«

Christian nickte mit ernster Miene. »Frank und ich sahen uns schon immer sehr ähnlich. Und das, obwohl er fünf Jahre älter war als ich. Als wir noch Kinder waren, war er natürlich größer als ich. Aber später, als wir beide erwachsen waren, hielten uns manche Leute sogar für Zwillinge. Das hat ihn in der Regel ziemlich geärgert.«

Endlich gelang es Anja, seine Hand zu ergreifen. Bei dem Gedanken, dass er damit vielleicht den eigenen Bruder umgebracht und das Ganze anschließend so überzeugend als Selbsttötung inszeniert hatte, dass alle darauf hereingefallen waren, wurde ihr ein bisschen schlecht. Am liebsten hätte sie ihre Hand zurückgerissen und an ihrem Hosenbein abgewischt. Doch sie bemühte sich, ihr Unwohlsein und ihren Widerwillen zu unterdrücken und sich von ihren wahren Gefühlen nichts anmerken zu lassen.

Endlich ließ er ihre Hand los. Anja widerstand tapfer dem Drang, sie abzuwischen. Noch immer konnte sie allerdings den Blick nicht von ihm lösen.

Ihr Patenonkel war eine knappe Handbreit größer als sie und von schlanker Statur. Er hatte graugrüne Augen und noch immer volles Haar. Dessen ursprünglich hellbraune Farbe war allerdings nur noch an wenigen Stellen sichtbar, im Übrigen indessen längst ergraut. Sein schmales Gesicht, das ein bisschen so aussah, als wäre es wie eine Gummimaske in die Länge gezogen worden, wies nur wenige Falten auf und war glattrasiert. Auffallend war eine alte, blasse Narbe, die von seinem Nasenrücken über die linke Wange verlief, ihn aber nicht verunstaltete. Trotz seines Alters war er noch immer ein attraktiver Mann. Er lächelte freundlich. Dabei fiel Anja auf, dass seine Mundpartie ihrer eigenen ähnelte, denn wie bei ihr war sein Mund etwas zu breit geraten. Außerdem waren seine Lippen sehr schmal. Es handelte sich allem Anschein nach um eine Familienähnlichkeit, die sie aufgrund der Gene ihres Vaters mit dessen Bruder gemeinsam hatte.

Sie erschauderte erneut, als ihr bewusst wurde, dass sie mit einem Mann etwas gemein hatte, der möglicherweise ein skrupelloser mehrfacher Mörder war. Deshalb wandte sie rasch den Blick ab und konzentrierte sich stattdessen auf die beiden Begleitpersonen ihres Onkels.

»Das sind mein Sohn Oliver und meine Tochter Judith«, stellte Christian die beiden jungen Leute vor. »Oliver und Judith, das sind eure Cousine Anja und ihre Mutter Dagmar.«

Alle begrüßten sich und tauschten einen Händedruck aus.

Oliver sah nach Anjas Überzeugung seinem Vater überhaupt nicht ähnlich, sondern kam vermutlich eher nach seiner Mutter. Zumindest, wenn diese ihrerseits einen dunkleren Teint, braune Augen und dunkelbraunes Haar gehabt hatte. Er hatte einen gepflegten Dreitagebart, trug die Haare lang, sodass sie ihm bis auf die Schultern fielen, und überragte seinen Vater sogar noch um einige Zentimeter. Außerdem hatte er ein breiteres Kreuz und eine größere Schulterbreite. Anja konnte sich ihren Cousin daher gut auf einem Brett beim Wellenreiten vor der Küste Südafrikas vorstellen. Er grinste breit und jungenhaft, während er ihre Hand kräftig drückte und schüttelte, und war Anja vom ersten Moment an sympathisch. Hatte sie bislang eher gemischte Gefühle gehabt, was dieses Treffen und Kennenlernen anging, das sie eher an ein Blind Date mit drei Unbekannten erinnert hatte, so bereute sie es nun nicht mehr, dass sie zugesagt hatte.

Obwohl Judith sowohl helleres Haar als auch eine entschieden blassere Haut als ihr Bruder hatte, wirkte sie auf Anja gleichwohl düsterer. Sie erwiderte Anjas freundliches Lächeln nicht, sondern sah sie argwöhnisch an, als hätte sie noch nicht entschieden, ob sie ihre Cousine mochte oder nicht. Anja ging es im Grunde ebenso, wobei sie aufgrund ihres ersten Eindrucks eher dahin tendierte, Judith nicht zu mögen. Deshalb verblasste ihr Lächeln etwas, als sie ihrer Cousine, die ihren Händedruck kaum erwiderte, kurz die Hand schüttelte. Auch sonst war Judith das genaue Gegenteil ihres Bruders. Hätten Gentechniker zwei grundverschiedene Menschen herstellen wollen, dann wäre vermutlich so etwas wie dieses Geschwisterpaar herausgekommen. Judith hatte hellblondes, mittellanges Haar und grüne Augen. Sie und Anja hatten in etwa die gleiche Größe und Statur. Und da Judith eine vage Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, gab es die auch zwischen den beiden Cousinen, auch wenn sie nur schwach ausgeprägt war und nicht sofort ins Auge sprang. Erst wenn man gezielt danach suchte, konnte man sie entdecken.

Nach der Begrüßung und dem ersten Beschnuppern zogen die Neuankömmlinge ihre Mäntel und Jacken aus. Dann nahmen alle am Tisch Platz. Oliver und Judith saßen Anja und ihre Mutter gegenüber, während sich Christian, als wäre er das Oberhaupt der Sippe, links von Anja an die Stirnseite des Tisches setzte.

Als die Bedienung kam, um die Getränkeorder entgegenzunehmen, bestellte Christian ein dunkles Weißbier. Er sagte, dass er in all den Jahren in Südafrika nichts so sehr vermisst habe wie das gute bayerische Bier. Anja hatte erwartet, dass Oliver ebenfalls ein Bier nehmen würde, doch er trank eine Cola. Judith hingegen folgte dem Beispiel ihres Vaters und bestellte auch ein Bier.

Nachdem die Bedienung gegangen war, herrschte für ein paar zähe Augenblicke unbehagliches Schweigen. Jeder mit Ausnahme von Judith schien nach einem geeigneten Gesprächsthema zu suchen, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Es war Dagmar, die schließlich als Erste das Wort ergriff und das momentan herrschende Wetter thematisierte. Also sprachen sie über den teils nasskalten, kühlen Herbst in Deutschland und verglichen ihn mit den Temperaturen und Bedingungen in Südafrika, bis schließlich die Getränke der Neuankömmlinge gebracht wurden. Dann stießen sie an und tranken.

»Freut mich wirklich riesig, dass ihr beiden diesem Treffen zugestimmt habt«, sagte Christian, nachdem er sein Glas abgesetzt hatte, und leckte sich den Bierschaum von den Lippen. »Es war wirklich allerhöchste Zeit, dass sich Anja, Oliver und Judith endlich kennenlernen.«

»An uns lag es nicht, dass es vorher nicht geklappt hat«, erwiderte Dagmar in ihrer direkten Art.

Anja hätte ihr am liebsten heimlich mit dem Ellbogen einen Rippenstoß versetzt oder sie unter dem Tisch getreten. Bei der Vielzahl von Beinen, die sich dort unten tummelten, hatte sie jedoch Angst, der Tritt könnte jemand anderen treffen. Was ihre Mutter gesagt hatte, stimmte zwar, aber man musste es ja nicht unbedingt laut aussprechen. Aber so war ihre Mutter nun mal. Im diplomatischen Dienst hätte sie nur schwerlich Karriere gemacht.

Für einen Moment herrschte am Tisch atemloses Schweigen. Alle sahen Dagmar an, Christian und Oliver überrascht, Judith mit finsterem Gesichtsausdruck, als läge ihr eine gepfefferte Erwiderung auf der Zunge.

Dann lachte Christian. »Genau so habe ich meine Schwägerin Dagmar noch von früher in Erinnerung. Du hast schon damals kein Blatt vor den Mund genommen und auch unangenehme Wahrheiten zur Sprache gebracht. Anscheinend hast zumindest du dich kein bisschen verändert.«

Alle bis auf Judith lachten. Die Stimmung, die vor wenigen Sekunden noch kurz davor gewesen war, umzukippen, wurde schlagartig besser.

Nachdem die Bedienung die Speisekarten gebracht hatte, war jeder eine Weile damit beschäftigt, darin zu blättern und etwas auszusuchen, das nach seinem Geschmack war. Die Männer bestellten Pizza. Judith nahm einen großen gemischten Salat. Anja hatte keinen großen Hunger, dafür aber noch immer Durst. Da sie aufgrund ihrer früheren Besuche wusste, dass die Nudeln aus eigener Herstellung waren, bestellte sie wie ihre Mutter Tagliatelle mit Steinpilzen und dazu ein weiteres großes Wasser.

»Mama sagte, dass … du im Ruhestand bist und deinen Lebensabend hier verbringen willst«, sagte Anja, als sie auf das Essen warteten. Sie war schließlich nicht gekommen, um nur Smalltalk zu machen, sondern wollte vor allem mehr über ihren Onkel erfahren. Beinahe wäre ihr dabei ein Missgeschick widerfahren, und sie hätte ihn gesiezt. Immerhin war er nach all den Jahren, die sie sich nicht mehr gesehen hatten, für sie zu einem Fremden geworden.

»Das stimmt«, antwortete Christian und nahm einen weiteren Schluck Bier, bevor er fortfuhr: »Ich war in Südafrika fast zwanzig Jahre als Ingenieur im Bergbau tätig. Vor vier Jahren habe ich mich dann selbstständig gemacht und gemeinsam mit einem einheimischen Partner eine Firma zur Errichtung von Solar- und Windkraftanlagen gegründet. Seitdem haben wir mehrere große Anlagen im ganzen Land errichtet. Doch dann beschloss ich, dass ich genug Geld verdient hatte, um in meine alte Heimat zurückzukehren. Deshalb verkaufte ich vor acht Monaten meinen Firmenanteil an meinen Geschäftspartner und kaufte mir stattdessen ein kleines Häuschen hier in der Stadt.«

»Und seit wann genau bist schon wieder da?«

Christian überlegte kurz, bevor er antwortete. »Seit etwas mehr als sechs Monaten.«

»Dann hast du dir ja reichlich Zeit gelassen, bis du endlich Kontakt mit uns aufgenommen hast.« Wenn es sein musste, konnte Anja genauso direkt sein wie ihre Mutter. Der Apfel fiel bekanntlich nicht weit vom Stamm.

Christian seufzte. »Das ist mir natürlich auch bewusst. Aber ich wollte warten, bis Oliver und Judith nachkommen, damit ihr sie kennenlernt.«

»Habt ihr beiden ebenfalls vor, in Deutschland zu bleiben?«, fragte Anja ihren Cousin und ihre Cousine.

Judith nickte nur, sagte jedoch nichts.

»Wir werden hier studieren«, erklärte Oliver.

Im Laufe des Gesprächs erfuhr Anja, dass Oliver zwanzig Jahre alt war und ab dem Wintersemester an der Technischen Universität München Chemie studieren würde. Judith sprach zwar die ganze Zeit kein einziges Wort, doch Oliver erzählte an ihrer Stelle, dass sie vor vier Monaten neunzehn Jahre alt geworden war und an der Akademie der Bildenden Künste freie Kunst studieren wollte. Ein Studium, das neben der Malerei und der Bildhauerei auch Bühnenbild und -kostüm, Fotografie, Medienkunst und andere Kunstrichtungen umfasste.

Judith nickte mehrere Male zustimmend, beteiligte sich aber ansonsten nicht aktiv an der Unterhaltung. Anja begann sich unwillkürlich zu fragen, ob sie überhaupt sprechen konnte. Aber wenn sie stumm wäre, hätten die anderen das doch bestimmt erwähnt.

Oliver war dafür umso redseliger. Anja wunderte sich, dass er so gut deutsch sprach, und fragte ihn danach.

»Wir unterhielten uns zu Hause hauptsächlich auf Deutsch und auf Englisch«, erklärte er. »Außerdem besuchten Judith und ich die Deutsche Internationale Schule in Kapstadt. Wir wurden dort sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache unterrichtet und machten das Deutsche Internationale Abitur.«

Das erklärte auch, warum sie die deutsche Sprache vollkommen akzentfrei beherrschten und so einfach an einer deutschen Hochschule studieren konnten.

Da Anja wusste, dass Olivers und Judiths Mutter bei einem Unfall gestorben war, erkundigte sie sich nicht nach ihr, um nicht versehentlich alten Wunden aufzureißen. Außerdem wurde in diesem Moment ohnehin das Essen serviert, worauf sich alle vorwiegend auf ihre Mahlzeit konzentrierten und weniger sprachen.

Judith pickte allerdings nur wie ein besonders wählerischer Vogel in ihrem Salat herum und aß kaum etwas davon. Ab und zu ertappte Anja ihre Cousine dabei, dass diese sie anstarrte, als bemühte Judith sich, Anja besser einzuschätzen. Anja wiederum fühlte sich jedes Mal unbehaglich, wenn sie feststellte, dass Judith sie beobachtete. Sie wurde aus ihr einfach nicht schlau. Außerdem sammelte Judith mit ihrem insgesamt eher merkwürdigen Verhalten nicht unbedingt Sympathiepunkte bei ihr.

Während des Essens plauderten sie erneut vorwiegend über Belanglosigkeiten. Christian fragte Dagmar über gemeinsame Bekannte aus der Vergangenheit aus. Dann erzählte er, dass er seinen Kindern in den letzten drei Tagen München gezeigt habe. Dabei seien allerdings nicht nur die typischen Sehenswürdigkeiten von Interesse gewesen, die auch Gegenstand jeder Touristenführung sind, sondern vor allem die Orte, die er aus seiner Jugend kannte.

»Ich habe ihnen zum Beispiel gezeigt, wo mein Bruder und ich geboren wurden und aufgewachsen sind. Dann natürlich die Schulen, auf die ich ging. Außerdem das Haus, in dem ich zur Miete gewohnt habe, bevor ich nach Südafrika ging. Ich ging mit ihnen sogar zu der Kirche, in der unsere Eltern mit Frank und mir sonntags immer die Messe besuchten und in der wir sogar ein paar Jahre Ministranten waren.«

»Welche Kirche war das denn?«, fragte Anja und bemühte sich, es möglichst beiläufig klingen zu lassen. Sie hatte nur mit halbem Ohr zugehört und nachgedacht. Doch beim Wort Kirche hatten bei ihr sofort die Alarmglocken geläutet.

»Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Aber es handelt sich um die Kirche in Obermenzing, in der, wenn ich mich richtig erinnere, du damals getauft wurdest und später auch deine Erstkommunion gefeiert hast. Wieso fragst du?«

»Nur aus Interesse«, erwiderte Anja abwiegelnd und machte eine Geste, als wäre es nicht so wichtig. Täuschte sie sich, oder hatte sie es in Christians Augen für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzen sehen, als würde er sie insgeheim verhöhnen. Sie war sich allerdings nicht sicher und konnte es sich genauso gut auch nur eingebildet haben.

Dennoch!

Dass er ausgerechnet die Kirche erwähnt hatte, in der sie Pfarrer Hartmann getötet hatte, war in ihren Augen hochgradig verdächtig. Hatte sie also tatsächlich recht damit, dass er der geheimnisvolle Unbekannte war, der ihr die Polaroid-Aufnahme ihres sterbenden Vaters und die letzten beiden E-Mails geschickt hatte.

Der Mörder meines Vaters!

Sie erschauderte.

Er wandte den Blick ab, als Dagmar eine Frage nach einer gemeinsamen ehemaligen Bekannten stellte, von der sie schon lange nichts mehr gehört hatte. Was Christian ihr antwortete, bekam Anja allerdings nicht mit, da sie nicht auf seine Worte achtete. Ihr Blick fiel zufällig auf Judith, die sie erneut mit gerunzelter Stirn ansah, als würde sie sich fragen, aus welchem Grund Anja bei der Erwähnung der Kirche nachgefragt hatte. Oder als würde sie vermuten, dass mehr hinter Anjas Frage steckte, als sie zugeben wollte.

Unsinn!, sagte sich Anja. Sie sollte nicht wieder damit anfangen, jeden zu verdächtigen, nur weil er sich merkwürdig verhielt oder komisch aus der Wäsche guckte. Das war schon im Fall des Apokalypse-Killers gründlich in die Hose gegangen.

Sie hätte von Christian natürlich gern erfahren, worüber er und ihr Vater sich damals so heftig gestritten hatten. Doch dies war ihrer Ansicht nach weder der richtige Anlass noch der richtige Ort dafür. Stattdessen hatte sie vor, irgendwann in naher Zukunft nach Möglichkeit unter vier Augen mit ihm über dieses Thema zu sprechen.

Nachdem sie gegessen hatten und die Bedienung die leeren Teller und die kaum angerührte Salatschüssel abgeräumt hatte, tranken sie Cappuccino oder Espresso. Inzwischen bestritt vorwiegend Christian die Unterhaltung und erzählte Geschichten aus der Zeit, als sein Bruder und er noch Kinder gewesen waren, und vor allem darüber, was sie damals alles angestellt und ausgeheckt hatten.

Anja fiel es schwer, sich ihren Vater als Kind vorzustellen. Dennoch brachte ihr Onkel mit seinen Geschichten auch sie zum Schmunzeln. Sie behielt zwar ihren Verdacht im Hinterkopf und Christian weiterhin aufmerksam im Auge, doch im Laufe des Abends wurde ihr bewusst, dass sie ihren Onkel noch immer gern hatte. Deshalb fragte sie sich allmählich, ob sie nicht vielleicht doch die falschen Schlussfolgerungen gezogen hatte und er schlicht und ergreifend nichts mit dem Tod ihres Vaters zu tun hatte.

Aber dann fiel ihr ein, dass sie ihren Nachbarn Raphael Guthmann ebenfalls gemocht hatte, ohne bis zuletzt auch nur zu ahnen, dass er der Apokalypse-Killer gewesen war.

II

Da ihre Mutter zu Fuß gekommen war, bot Anja ihr an, sie nach Hause zu fahren. Doch Dagmar lehnte dankend ab. Ein kleiner Spaziergang nach dem Essen täte ihr jetzt gut, meinte sie. Außerdem waren es vom Restaurant bis zu ihrem Zuhause in der Belastraße nur fünfhundert Meter. Also verabschiedeten sie sich vor der Tür voneinander. Und während ihre Mutter losmarschierte, um an der nächsten Ampel die Straße zu überqueren, ging Anja zu ihrem Auto, das sie auf dem Parkstreifen am Rand der Straße abgestellt hatte, und stieg ein.

Bevor sie losfahren konnte, kamen bereits Christian, Oliver und Judith aus dem Gebäude. Judith hatte noch auf die Toilette gehen müssen, und ihr Vater und ihr Bruder hatten beschlossen, auf sie zu warten. Deshalb hatten sich Anja und ihre Mutter drinnen von ihnen verabschiedet und waren gegangen.

Die drei gingen nicht in Anjas Richtung und sahen sie daher auch nicht im Auto sitzen. Stattdessen wandten sie sich nach links und marschierten zum Parkplatz neben dem Gebäude.

Anja fuhr noch nicht los, sondern wartete.

Es dauerte nicht lange, bis ein weißer BMW X6 vom Parkplatz fuhr und nach links auf die Straße einbog.

Ohne darüber nachzugrübeln, was sie da tat, startete Anja ihren MINI. Sie wartete, bis mehrere Fahrzeuge an ihr vorbeigefahren waren, bevor sie aus der Parklücke ausscherte, kurzerhand auf der Straße wendete und dem BMW hinterherfuhr.

Sie konnte nicht einmal genau sagen, warum sie Christian, Oliver und Judith folgte. Wahrscheinlich wollte sie einfach nur das Haus sehen, das ihr Onkel gekauft hatte und in dem die drei wohnten.

Da sie vorhin nicht einmal in ihre Richtung geschaut hatten, wussten sie demnach auch nicht, welchen Wagen Anja fuhr. Es war also unwahrscheinlich, dass sie Anja entdeckten. Falls allerdings ihr Onkel tatsächlich der Mörder ihres Vaters und der geheimnisvolle Absender der beiden Mails war, dann hatte er sie natürlich heimlich beobachtet und wusste daher über ihren Wagen Bescheid. Aber dieses Risiko musste sie eingehen, wenn sie mehr über ihn erfahren wollte.

Sie achtete darauf, dass sich immer mehrere Autos zwischen ihnen befanden, die den Insassen des X6 die Sicht auf ihren MINI nahmen. Hin und wieder ließ sie sich sogar ein Stück zurückfallen, um keine ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei konnte sie selbst den BMW zwar auch nicht ständig im Auge behalten, sie achtete aber vor allem darauf, wann und wo er abbog. Da sie andererseits wusste, dass Christians Haus in Obermenzing lag, konnte sie aufgrund ihrer Ortskenntnis ganz gut vorhersehen, welche Strecke er nehmen würde.

Die Fahrt dauerte insgesamt eine knappe halbe Stunde und führte durch die Stadtteile Laim und Pasing nach Obermenzing. Als sie den Bahnhof München-Pasing passierten und kurz darauf die Bahn- und S-Bahn-Schienen unterquerten, dachte Anja automatisch an Melanie Brunner. Das erste der drei vermissten Mädchen war damals hier ganz in der Nähe verschwunden und seitdem nie wieder gesehen worden. Anschließend fuhren sie von der Pippinger Straße zunächst in die Verdistraße und bogen dann in die Wöhlerstraße ein. Anja kannte sich hier noch immer gut aus, denn die beiden letztgenannten Straßen hatten zu ihrem Schulweg gehört, als sie noch die Grundschule besucht hatte, die ganz in der Nähe der Kirche Leiden Christi lag.

Sie ließ den Abstand zwischen den Autos größer werden, da sie vermutete, dass sie bald ihr Ziel erreichen würden. Und tatsächlich bog der X6 kurze Zeit später in der Longinusstraße rechts in eine Grundstückseinfahrt und hielt vor einer geschlossenen Garage.

Anja fuhr augenblicklich rechts ran, stoppte am Straßenrand und schaltete Motor und Licht aus. Mehrere Autos, die vor ihr parkten, gaben ihr Deckung. Anja hingegen konnte durch die Scheiben der Fahrzeuge spähen und beobachten, wie ihr Onkel, der am Steuer des BMW gesessen hatte, und seine beiden Kinder ausstiegen. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, verschwanden die drei nacheinander im Haus.

Sie ließ den Wagen wieder an und fuhr anschließend langsam am Haus ihres Onkels vorbei. Durch die Scheiben im Erdgeschoss konnte sie Licht im Innern sehen. In einem der Fenster war die dunkle Silhouette eines Menschen zu erkennen, Anja konnte die Person allerdings nicht identifizieren. Doch wenn sie damit Schwierigkeiten hatte, konnte die Person am Fenster auch nicht in den dunklen Wagen hineinsehen und Anja erkennen, sodass sie sich keine Sorgen machen musste. Sie prägte sich die Hausnummer ein; dann gab sie Gas und fuhr nach Hause.

IM ANFANG WAR DER TOD

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