Читать книгу IM ANFANG WAR DER TOD - Eberhard Weidner - Страница 9
KAPITEL 6
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Die Frage nach dem Motiv für ihre Tat beschäftigte sie den ganzen Vormittag, sodass sie sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Ständig kamen ihr ungewollt verstörende Bilder ihres vermeintlichen Albtraums in den Sinn, die ihr die brutale Ermordung des Geistlichen immer und immer wieder in Erinnerung riefen und ihr einfach keine Ruhe ließen.
Zum Glück hatte sie an diesem Tag keinen neuen Vermisstenfall zugeteilt bekommen, der ihre volle Aufmerksamkeit erfordert hätte. Stattdessen war sie mit Routineaufgaben hinsichtlich ihrer zahlreichen offenen Fälle beschäftigt und telefonierte viel, um Menschen aufzuspüren, die möglicherweise gar nicht gefunden werden wollten oder ohnehin in wenigen Tagen von ganz allein in ihr Zuhause zurückkehren würden. Andererseits gab es darunter auch Fälle von Personen, die nicht freiwillig verschwunden waren, was ihren Bemühungen wiederum einen Sinn gab.
Kriminaloberkommissar Daniel Braun, mit dem Anja das Büro teilte, kam an diesem Morgen eine halbe Stunde zu spät, was bei ihm allerdings nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel war. Er war ganze zehn Zentimeter größer und sechs Jahre jünger als Anja und hatte kurzes dunkelbraunes Haar und einen Vollbart. In seiner Freizeit lief er am liebsten Ultramarathons, von denen er seiner Zimmerkollegin gelegentlich vorschwärmte, und war dementsprechend extrem schlank.
Braun lächelte beim Hereinkommen entschuldigend, bevor er seinen Mantel auszog und aufhängte. Dann nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz, der dem von Anja direkt gegenüberstand, sodass sie sich, wenn sie denn wollten, bei der Arbeit ansehen konnten. Doch meistens wollten sie das natürlich nicht und konzentrierten sich stattdessen auf ihre Arbeit.
Sie wünschten sich einen guten Morgen. Und obwohl sie nie viel miteinander sprachen, vor allem selten über private Dinge, was Anja ganz recht war, versuchte Braun dennoch, ein wenig Konversation zu betreiben. Doch Anja war an diesem Morgen nicht nach Reden zumute. Sie gab sich daher noch wortkarger als sonst und beantwortete seine Fragen allenfalls einsilbig. Sofern sie sich nicht ohnehin darauf beschränkte, zustimmend oder ablehnend zu brummen, was sich kaum voneinander unterscheiden ließ.
Braun merkte daher schnell, dass Anja schlechte Laune hatte oder einfach nur nicht reden wollte. Er fragte nicht nach, welche Laus seiner Kollegin über die Leber gelaufen war, sondern stellte seine fruchtlosen Bemühungen einfach ein. Für beides war Anja ihm dankbar, auch wenn sie nicht in der Stimmung war, ihm das auch mitzuteilen.
Nach einer halben Stunde, in der sie schweigend ihre Akten bearbeitet oder telefoniert hatten, verabschiedete sich Braun schon wieder, da er in einem seiner offenen Fälle einen Gesprächstermin außer Haus hatte. Er zog seinen Mantel an, verabschiedete sich und verließ mit einer Fallakte in der Hand das gemeinsame Büro.
Anja seufzte erleichtert, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte und sie wieder allein war. Einerseits war sie froh darüber, da sie nun nicht mehr unter ständiger Beobachtung stand und so tun musste, als wäre alles in bester Ordnung. Andererseits hatte Brauns Gegenwart dafür gesorgt, dass sie sich gezwungenermaßen auf die Fälle konzentrieren musste, die sie bearbeitet hatte. Doch kaum war er weg, gelang ihr das nicht mehr so gut.
Sie klappte daher die Vermisstenakte zu, lehnte sich zurück und ließ den Schreibtischstuhl um neunzig Grad rotieren, bis sie aus dem Fenster schauen konnte. Obwohl es draußen herbstlich kühl war, schien die Sonne.
Anja hatte urplötzlich das Gefühl, ihr würde die Decke auf den Kopf fallen, wenn sie noch länger hierblieb. Sie spürte eine innere Unruhe, die es ihr schwermachte, weiterhin ruhig auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben.
Außerdem ging ihr alles wieder durch den Kopf, worüber sie, seit sie ins Büro gekommen war, nicht hatte nachdenken wollen. Doch die Gedanken ließen sich nicht unterdrücken, zumindest nicht auf Dauer. Vor allem eine Frage kam ihr sofort wieder in den Sinn.
Wieso habe ich Pfarrer Hartmann getötet?
Diese Frage erschien ihr wie der Dreh- und Angelpunkt des Dilemmas, in das sie sich durch den Mord manövriert hatte.
Doch sie war der Antwort noch keinen einzigen Schritt nähergekommen. Wie denn auch? Sie wusste ja nicht einmal, wo sie mit ihren Ermittlungen anfangen sollte. Denn wenn sie begann, im Leben des Geistlichen herumzuschnüffeln und Leute über ihn zu befragen, dann würden das früher oder später auch die beiden Mordermittler erfahren. Und Anjas Interesse an dem Mordopfer würde sie natürlich noch misstrauischer machen, als sie ohnehin schon waren. Sie würden sich zu Recht fragen, wonach Anja eigentlich suchte.
Außerdem würden Englmair und Krieger im Laufe ihrer Mordermittlungen die letzten Stunden und Tage des Pfarrers ohnehin durchleuchten, sodass sie sich die Mühe sparen konnte. Als Verdächtige war sie allerdings von diesen Ermittlungen ausgeschlossen. Und von Krieger, der von ihrer Schuld felsenfest überzeugt zu sein schien, würde sie nichts darüber erfahren. Aber vielleicht würde Englmair ihr sagen, was sie wissen wollte. Die einzige Schwierigkeit dabei war, ihn allein zu erwischen, ohne dass Krieger an seinem Rockzipfel hing. Schließlich wurden sie nicht ohne Grund als siamesische Zwillinge bezeichnet.
Anja drehte sich mitsamt dem Stuhl und stand auf. Sie konnte nicht länger tatenlos in ihrem Büro hocken, sondern musste endlich etwas unternehmen. Krieger war im Augenblick wahrscheinlich damit beschäftigt, weitere Indizien oder Beweise dafür zu sammeln, dass sie den Geistlichen ermordet hatte. Da konnte sie es sich nicht leisten, zuzusehen, wie sich die Schlinge um ihren Hals allmählich immer enger zuzog, und Däumchen zu drehen. Stattdessen musste sie endlich die Initiative ergreifen. Auch wenn sie als Mörderin nicht in der Lage war, ihre Unschuld zu beweisen, musste sie zumindest herausfinden, warum sie den Priester umgebracht hatte. Gleichzeitig würde sie nach Möglichkeit ihre Spuren verwischen und eventuelle Beweise vernichten.
Sie verließ das Zimmer und trat in den Gang. Die Büros der Vermisstenstelle befanden sich zusammen mit einer Reihe anderer Kommissariate in einem Bürokomplex in der Hansastraße 24 im Stadtteil Sendling-Westpark unweit ihrer Wohnung. Anja ging durchs Treppenhaus ein Stockwerk höher in die dritte Etage und näherte sich vorsichtig den Büros der Mordkommission. Dabei sah sie sich immer wieder um und fühlte sich wie die Verdächtige, die sie in Kriegers Augen auch war.
Wenn sie wüsste, ob Englmair ausnahmsweise alleine war, würde sie ihn einfach in seinem Büro aufsuchen. Doch wie sollte sie das erfahren? Sie könnte ihn natürlich einfach anrufen, doch Krieger würde anhand von Englmairs Anteil an ihrer Unterhaltung wahrscheinlich sofort spitzkriegen, dass der Kollege mit seiner momentanen Hauptverdächtigen in einem Mordfall sprach. Also beschloss sie, sich stattdessen auf die Lauer zu legen und auf eine günstige Gelegenheit zu warten.
Sie blieb vor dem Kaffeeautomaten stehen, der im Gang an der Wand stand. Von hier aus hatte sie die Tür zum Büro der beiden Mordermittler gut im Blick, ohne dass sie selbst sofort gesehen wurde. Sie suchte in ihren Hosentaschen nach Kleingeld, um sich einen Kaffee zu besorgen. Damit würde es in den Augen anderer Kollegen nicht so verdächtigt wirken, wenn sie völlig unmotiviert eine Weile im Flur herumstand.
Obwohl das Gebräu, das sie erhielt, nicht nach Kaffee roch oder aussah, nippte sie dennoch vorsichtig daran. Sofort verzog sie angewidert das Gesicht. Ihrer Meinung nach hatte die schmutzig braune Flüssigkeit nicht das Geringste mit richtigem Bohnenkaffee zu tun. Allerdings musste sie es auch nicht trinken; es reichte, wenn sie es zur Tarnung in der Hand hielt und ab und zu so tat, als würde sie daran nippen. Außerdem holte sie ihr Smartphone heraus und hielt es ans Ohr, als würde sie ein Telefonat führen.
Als eine Bürotür ganz in der Nähe aufging, setzte Anjas Herzschlag für einen Augenblick aus. Doch es war nicht die Tür zu Kriegers und Englmairs Zimmer, sondern ein anderes Büro. Eine Kollegin der Mordkommission trat in den Gang und schloss die Tür hinter sich ab. Sie grüßten sich mit einem Nicken, dann marschierte die Mordermittlerin an Anja vorbei in Richtung Aufzug.
Im Laufe der nächsten halben Stunde kamen noch weitere Kollegen vorbei, die Anja ebenfalls stumm grüßte, während sie vorgab, zu telefonieren und dabei Automatenkaffee zu trinken. Allmählich verlor sie allerdings die Geduld. Außerdem wuchs die Gefahr, dass jemand zum zweiten Mal vorbeikam und sich wunderte, dass Anja noch immer hier herumstand. Sie überlegte bereits, ob sie den Kaffee, der längst kalt und damit vermutlich noch ungenießbarer geworden war, in den Mülleimer neben dem Automaten werfen und in ihr Büro zurückgehen sollte. Doch da ging endlich die Bürotür der sogenannten siamesischen Zwillinge auf.
Obwohl Anja die ganze Zeit darauf gewartet hatte, dass genau das passierte, erschrak sie jetzt dennoch und zuckte zusammen. Kalter Kaffee lief über ihre Hand und tropfte zu Boden, und sie verzog das Gesicht. Sie stand neben dem Automaten, der ihr Sichtschutz gab, und presste unwillkürlich ihren Rücken gegen die Wand. Vorsichtig spähte sie um die Kante des Geräts in die Richtung, in der das Büro von Krieger und Englmair lag.
Interessiert stellte sie fest, dass es Krieger war, der gerade das Büro verließ; und er war tatsächlich allein. Er zog die Tür hinter sich zu und sah dabei nicht in ihre Richtung. Wenn er allerdings diesen Weg nahm, würde er sie unweigerlich entdecken. Sie feilte daher bereits an einer Ausrede, warum sie nicht den Automaten auf ihrem Stockwerk benutzt und stattdessen nach oben gekommen war. Bei seinem augenblicklichen Misstrauen ihr gegenüber ging sie jedoch ohnehin nicht davon aus, dass er ihr glaubte. Doch zum Glück kam sie erst gar nicht in die Lage, ihm eine Lüge auftischen zu müssen, denn er entfernte sich in die andere Richtung. In der Hand hielt er eine Zeitschrift für Angler. Anja runzelte irritiert die Stirn. Sie hatte nicht gewusst, dass Krieger sich für so etwas interessierte. Er schien ihr nicht der Typ von Mensch zu sein, der stundenlang am Ufer eines Flusses saß und geduldig darauf wartete, dass ein Fisch anbiss. Doch das war momentan auch nicht wichtig. Entscheidender war, dass in der Richtung, in die er ging, die Toiletten lagen. Anja hatte daher wenig Zweifel, dass genau die das Ziel seiner eiligen Schritte waren. Und die Anglerzeitschrift in seiner Hand ließ sie darüber hinaus darauf hoffen, dass es eine längere Sitzung werden würde, die ihr somit reichlich Gelegenheit gab, in Ruhe mit Englmair zu reden.
Sobald Krieger um die nächste Ecke verschwunden und damit außer Sicht war, warf Anja den fast vollen Kaffeebecher in den Mülleimer und setzte sich in Bewegung.
II
»Was willst du denn hier?« Englmair sah sie aus großen Augen erstaunt an, sobald sie eingetreten war und die Tür zugemacht hatte. »Wenn Toni dich in unserem Büro erwischt, hält er das wahrscheinlich für ein Schuldeingeständnis und verhaftet dich.«
»Ich war’s aber nicht!«, sagte Anja entgegen ihrer eigenen Überzeugung und nahm rasch auf dem Besucherstuhl neben Englmairs Schreibtisch Platz, als hätte sie Angst, er würde sie hinauswerfen, solange sie nicht saß.
Ihre Gegenwart schien ihm unangenehm zu sein. Er sah gehetzt zur Tür, als befürchtete er, sie könnte jeden Moment aufgerissen werden und Krieger würde wie ein gehörnter Ehemann hereingestürmt kommen, um sie beide wie ein heimliches Liebespaar in flagranti zu erwischen. »Du solltest nicht hier sein!«, zischte er und lockerte mit dem Zeigefinger den Kragen seines Hemdes, als wäre er plötzlich zu eng und würde ihm die Luft abschnüren. »Zumindest im Moment nicht. Wenn Toni vom Klo zurückkommt und sieht, dass wir beide uns unterhalten, flippt er vermutlich völlig aus. Er ist ohnehin schon davon überzeugt, dass du den Pfarrer umgebracht hast, und sucht fieberhaft nach Beweisen, um es dir nachweisen zu können.«
»Und was glaubst du?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich sagte dir doch schon, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie du zu solch einem brutalen Mord in der Lage sein solltest. Allerdings kann selbst ich die Indizien, die wir am Tatort gefunden haben und die allesamt in deine Richtung weisen, nicht einfach ignorieren. Wir müssen ihnen nachgehen und sind verpflichtet, in alle Richtungen zu ermitteln. Auch wenn wir dabei gegen eine Kollegin vorgehen müssen.«
»Das verstehe ich ja voll und ganz«, entgegnete Anja. »Und dagegen sage ich ja auch nichts. Aber Krieger schießt meiner Meinung nach weit über das Ziel hinaus. Er hätte vor ein paar hundert Jahren einen ausgezeichneten Inquisitor abgegeben, als es nur darauf ankam, unschuldige Frauen auf einen bloßen Verdacht hin einer Hexenprobe zu unterziehen oder gleich auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.«
Englmair grinste und schien sich ein wenig zu entspannen. »Damit hast du sogar recht. Trotzdem solltest du vorsichtig sein und ihn nicht noch mehr reizen. Manchmal fällt es mir nämlich schwer, ihn zu bremsen, damit er keine Dummheit begeht.«
Sie schwiegen ein paar Sekunden, und jeder hing seinen Gedanken nach.
Anja hatte allerdings keine Zeit zu verlieren. Jeden Moment konnte Krieger zurückkommen, je nachdem, wie erfolgreich und umfangreich seine augenblickliche Sitzung war. Und bis es soweit war, wollte sie von Englmair so viel wie möglich über ihre momentanen Ermittlungen in Erfahrung bringen. Allerdings musste sie dabei umsichtig vorgehen, um nicht noch verdächtiger zu wirken, als die Indizien, die Englmair angesprochen hatte, sie ohnehin schon aussehen ließen. So würde beispielsweise eine direkte Frage nach eventuellen Fingerabdrücken, Haaren und DNA-Spuren von ihr am Tatort den Mordermittler bestimmt misstrauisch machen. Schließlich behauptete sie, unschuldig zu sein. Und jemand, der unschuldig war, musste auch nicht befürchten, dass es Spuren von ihm am Schauplatz eines Mordes gab.
»Krieger wird sich irgendwann schon wieder einkriegen«, wählte sie einen unverfänglichen Einstieg. »Ich weiß zwar nicht, was meine ehemalige Bibel und die Visitenkarte am Tatort zu suchen hatten, doch dafür gibt es bestimmt eine logische Erklärung. Allerdings werdet ihr ansonsten mit Sicherheit keine weiteren Beweise finden, die mich mit dem Mord in Zusammenhang bringen, sosehr Krieger auch danach suchen mag. Es würde mich daher überraschen, wenn ihr meine Fingerabdrücke oder DNA gefunden hättet.«
Es war ein Schuss ins Blaue und ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, das sie hier betrieb. Sie wusste zwar aufgrund des vermeintlichen Albtraums, dass sie bei der Tat Handschuhe getragen hatte und deshalb auch keine Fingerabdrücke am Tatort hinterlassen haben konnte. Doch das Fleischmesser aus ihrer Küche hatte sie in der Vergangenheit oft benutzt und dabei natürlich keine Handschuhe getragen. Sofern sie das Messer daher vor der Tat nicht sorgfältig genug gereinigt hatte, konnten sich darauf durchaus ihre Abdrücke befinden. Oder es hafteten Hautschuppen, Speicheltröpfchen oder Haare von ihr daran, die ihre DNA enthielten. Und auch die Visitenkarte konnte derartige Spuren aufweisen.
Doch zu ihrer Erleichterung schüttelte Englmair den Kopf, ohne wegen ihrer Frage misstrauisch zu werden. »Wenn es so wäre, hätte Toni dich doch längst verhaftet. Und ich würde jetzt auch nicht einfach so mit dir reden, sondern dich wahrscheinlich ganz offiziell vernehmen. Die Kriminaltechniker fanden zwar mehr Fingerabdrücke und Spuren am Tatort, als uns lieb sein kann, allerdings war bislang nichts darunter, das von dir stammt. Übrigens auch nicht an der Tatwaffe, der Bibel oder der Visitenkarte, obwohl Toni ausdrücklich darum gebeten hat, alles besonders gründlich zu überprüfen.«
Anja zwang sich, alles zu unterlassen, was Englmair den Eindruck vermitteln könnte, ihr fiele gerade ein riesiger Stein vom Herzen. »Und von wem stammen die Abdrücke dann?«
Ihr Kollege zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir noch nicht. Ich gehe allerdings davon aus, dass sie dem Mesner, den Putzkräften, den Ministranten und den Besuchern der letzten Gottesdienste und Beichtstunden gehören. Die Kirche war förmlich übersät mit Abdrücken. Es gab kaum eine Stelle, an der keine gefunden wurden.«
»Gab es an der Tatwaffe, der Visitenkarte und der Bibel Abdrücke oder Körperspuren anderer Personen?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Außer dem Blut des Opfers an der Tatwaffe und der Visitenkarte fanden wir nichts. Das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Wir fanden nicht einmal einen Teilabdruck oder einen verwischten Fingerabdruck. Sieht so aus, als hätte der Täter alles sehr sorgfältig abgewischt. Auf der aufgeschlagenen Bibel befand sich nicht einmal ein Staubkorn.« Englmair richtete seinen fragenden Blick auf sie. »Und du weißt wirklich nicht, wo sich die Bibel all die Jahre befand?«
»Nein! Ich weiß nur noch, dass sie damals in meinem Zimmer im Regal bei den anderen Büchern stand. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass ich sie nach dem Tod meines Vaters noch einmal gesehen habe. Und dann sind wir ohnehin ziemlich bald umgezogen. Danach habe ich die Bibel bis zum heutigen Tag nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ich habe seit damals, ehrlich gesagt, nicht einmal mehr an sie gedacht. Erst heute früh wieder, als ich sie auf dem Altar liegen sah. Aber da wusste ich noch nicht, dass es meine war. Ich dachte mir nur, dass ich als Kind eine ganz ähnliche Bibel hatte.« Sie überlegte kurz. »Aber ich kann meine Mutter danach fragen. Vielleicht hat sie eine Ahnung, was bei oder nach unserem Umzug damit geschehen ist.«
»Ja, tu das bitte. Du würdest uns damit einen Gefallen tun. Aber komm bitte nicht noch einmal hierher, solange Toni dich für die Täterin hält. Ruf mich am besten an, dann treffen wir uns irgendwo.«
Anja nickte. »Habt ihr in der kurzen Zeit sonst noch etwas herausgefunden?«
Er seufzte. »Eigentlich dürfte ich dir überhaupt nichts sagen. Außerdem kann Toni jetzt jeden Moment zurückkommen. Du solltest also besser gehen.«
»Ich will nur wissen, was ihr über Pfarrer Hartmann herausgefunden habt. Schließlich muss es einen Grund geben, warum er ermordet wurde.«
… warum ich ihn ermordet habe, ergänzte sie in Gedanken.
Englmair zuckte mit den Schultern. »Bislang konnten wir noch kein Motiv finden. Toni geht ohnehin davon aus, dass ihr bei eurem geheimen Treffen in der Kirche über irgendetwas in Streit geraten seid und du ihn im Affekt getötet hast.«
Ist das vielleicht tatsächlich der einzige Grund, warum ich ihn umgebracht habe?, fragte sich Anja unwillkürlich. Eine simple Meinungsverschiedenheit, und schon stach sie in mörderischer Wut auf den Mann ein, der sie stets freundlich und zuvorkommend behandelt hatte? Der sie darüber hinaus getauft und ihr die Erstkommunion gespendet hatte? Sie schüttelte entschieden den Kopf. Nur wegen eines bloßen Streits würde sie niemanden töten, erst recht keinen Geistlichen. Wenn überhaupt! Es musste also wesentlich mehr dahinterstecken. Sie konnte natürlich aus Notwehr töten. Dazu war sie schon einmal gezwungen gewesen. Und wenn sie ehrlich war, bereitete ihr das auch keine schlaflosen Nächte, denn Johannes hatte drei Frauen auf dem Gewissen gehabt und auch sie und ihre Cousine töten wollen. Doch ansonsten gab es eigentlich nur einen einzigen Grund, aus dem sie möglicherweise eine ganz bestimmte Person töten könnte. Und dabei handelte es sich um den Mörder ihres Vaters.
»Was ist?«, fragte Englmair, dem ihre Nachdenklichkeit natürlich nicht entgangen war.
»Meiner Meinung nach scheidet ein Mord im Affekt schon mal aus«, sprach sie rasch das Erstbeste aus, was ihr in den Sinn kam, weil sie ihm nichts von ihren wahren Gedanken verraten wollte. »Wer ein Fleischmesser zu einem Treffen mit einem Geistlichen mitbringt, handelt von Haus aus vorsätzlich und planmäßig.«
»Das habe ich Toni auch schon gesagt. Aber in dieser Sache ist er wie vernagelt. Seitdem wir die Visitenkarte und die Bibel fanden und beide deinen Namen enthielten, hat er dich im Visier und will partout nicht einsehen, dass er auf dem Holzweg sein könnte.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Du solltest jetzt wirklich gehen, bevor er uns zusammen sieht. Sonst denkt er noch, ich mache hinter seinem Rücken mit einer Tatverdächtigen gemeinsame Sache. Wir können ja telefonieren.«
»Eine Sache noch: Was habt ihr sonst über Pfarrer Hartmann erfahren?«
Er zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern und seufzte. »Nichts, was in irgendeiner Form ungewöhnlich oder verdächtig wäre. Wenn man sich die Aussagen der Leute ansieht, die ihn kannten, und das sind natürlich eine ganze Menge, dann war er ein geradezu vorbildlicher Seelsorger. Ausnahmslos alle lobten ihn in den höchsten Tönen. Und keiner kann sich erklären, warum ausgerechnet jemand wie er umgebracht wurde. Wenn wir die Leute fragten, ob sie eine Theorie hätten, was geschehen sein könnte, tendierte die überwiegende Mehrheit dazu, dass der Pfarrer höchstwahrscheinlich einen Kirchenräuber überrascht hat und von diesem getötet wurde. Allerdings sagte der Mesner aus, dass in der Kirche nichts gestohlen wurde. Nicht einmal der Opferstock wurde angerührt. Außerdem gibt es auch keine Einbruchsspuren. Und da die Kirche nachts abgesperrt ist, bedeutet das, dass der Priester seinen Mörder selbst hineingelassen haben muss. Das heißt, er kannte den Täter …«
»… oder die Täterin, würde Krieger jetzt sagen«, unterbrach ihn Anja.
Englmair lachte. »Stimmt. Vermutlich kannte er also den Täter oder die Täterin und war mit ihm oder ihr in der Kirche verabredet.«
»Was uns wieder zu meiner Visitenkarte mit dem Datum und der Uhrzeit dieser Verabredung zurückbringt«, sagte Anja und seufzte. »Aber mal ganz ehrlich, wieso hätte ich sie und die Bibel mit meinem Namen zurücklassen sollen, wenn ich Pfarrer Hartmann, aus welchem Grund auch immer, tatsächlich umgebracht hätte?«
Weil du so betrunken warst, dass du einen Filmriss hattest und gar nicht mehr klar denken konntest, gab sie sich selbst die offensichtlichste Antwort.
»Vielleicht will dir jemand etwas anhängen«, mutmaßte hingegen Englmair, der zum Glück nur einen Teil der Wahrheit kannte und nur deshalb noch immer davon ausging, seine Kollegin wäre unschuldig.
Schön wär’s, dachte Anja, der dieser Gedanke ebenfalls schon gekommen war. Er klang im Hinblick auf die Bibel und die Visitenkarte auch einleuchtend, wäre da nicht der vermeintliche Albtraum gewesen, in dem ihr Unterbewusstsein einen Teil ihrer Erinnerungen zurückgeholt hatte, auf die sie wegen des Filmrisses nicht mehr bewusst zurückgreifen konnte. Die beiden Indizien erweckten zwar auf den ersten Blick den Eindruck, sie könnten bewusst am Tatort platziert worden sein und als wollte ihr tatsächlich jemand einen Mord anhängen. Aber in dem Fall hätte sie keine albtraumhaften Erinnerungen an den Mord haben dürfen. Und es hätte auch keine Blutstropfen auf ihrem Kapuzenpulli und ihren Laufschuhen geben können.
Trotz dieser Gedanken nickte sie. »Du hast recht«, bestärkte sie ihren Kollegen in seinem Glauben. »Wahrscheinlich will mir jemand den Mord anhängen und hat die Visitenkarte und die Bibel ganz bewusst in der Kirche zurückgelassen, um mich mit der Tat in Zusammenhang zu bringen. Aber warum sollte jemand so etwas tun?«
»Vielleicht bist du in der Vergangenheit irgendjemandem auf den Schlips getreten, der seitdem einen Groll gegen dich hegt. Irgendeine Ahnung, wer dafür in Frage kommen könnte?«
Anja tat, als würde sie über seine Frage nachdenken. Dann schüttelte sie verneinend den Kopf.
III
Fünf Minuten später saß sie wieder an ihrem eigenen Schreibtisch, starrte blicklos aus dem Fenster und war in Gedanken versunken.
Sie hatte sehr wohl eine Ahnung, wer ihr einen Mord anhängen könnte. Es war allerdings beileibe nicht die einzige Lüge gewesen, die sie Englmair erzählt hatte.
Anja dachte natürlich an den mysteriösen Komplizen ihres ehemaligen Wohnungsnachbarn, der diesen in seinem apokalyptischen Wahn bestärkt und bei den Morden an drei todkranken Frauen unterstützt hatte. Außerdem hatte er ihren Ehemann erdrosselt und es wie eine nahezu exakte Kopie des vermeintlichen Suizids ihres Vaters aussehen lassen.
Als die beiden Mordermittler und Anja Fabians Haus durchsuchten, fand Anja seine Leiche im Arbeitszimmer, wo er tot am Haken der Deckenlampe hing. Es war nahezu dieselbe Situation wie dreiundzwanzig Jahre zuvor, als Anja den erhängten Leichnam ihres Vaters entdeckt hatte. Der Unbekannte wollte Anja damit gezielt treffen, indem er die Ähnlichkeit zwischen den beiden Ereignissen bewusst inszeniert hatte. Zuerst ihr Vater und dann auch noch ihr Ehemann; und Anja hatte keinen von beiden retten können, sondern war beide Male zu spät gekommen und hatte nur noch ihre Leichen gefunden.
Doch das heimtückische Spiel des Mannes im Hintergrund fand damit kein Ende, sondern ging noch weiter. Der Apokalypse-Killer, der sich den Namen Johannes gegeben hatte, entführte Anjas Cousine, um sie in der Leichenhalle auf dem neuen Teil des Waldfriedhofs zu töten und als vierten und letzten apokalyptischen Reiter zu inszenieren. Er sollte auf Geheiß seines Komplizen dabei so tun, als hätte Anja eine reelle Chance, ihre Cousine zu retten. In Wahrheit sollte sie jedoch erneut zu spät kommen. Wenn sie ein drittes Mal nur noch die Leiche eines geliebten Menschen fand, so das Kalkül des Hintermannes, müsste sie daran zerbrechen. Und dann würde sie auch endlich die Schlaftabletten schlucken, die sie schon so lange in ihrem Spiegelschrank aufbewahrte und jedes Mal in die Hand nahm, nachdem sie davon geträumt hatte, wie sie damals ihren toten Vater gefunden hatte.
Allerdings gelang es Anja, Johannes und seinen geheimnisvollen Helfer zu überlisten. In einem erbittert geführten Kampf auf Leben und Tod schaffte sie es schließlich, den Killer zu töten und ihre Cousine und sich zu retten. Als sie allerdings zwei Tage später zum Grab ihres Vaters auf dem Waldfriedhof ging, entdeckte sie dort einen Umschlag mit ihrem Namen. Er ähnelte den Kuverts, die sie nach den Morden an den vermissten todkranken Frauen von Johannes bekommen hatte. Allerdings war dieser tot, sodass die Nachricht nur von einem Komplizen stammen konnte, von dem die Polizei bislang nichts wusste. Der Umschlag enthielt lediglich ein altes Polaroidfoto. Auf diesem war ihr Vater so zu sehen, wie sie ihn damals gefunden hatte. Allerdings hatte er auf der Aufnahme die Augen offen, starrte mit panischem Blick in die Kamera und war noch am Leben. Und auf der Rückseite der Fotografie standen die sieben Worte, die Anja damals gesagt hatte, als sie ihren Vater erkannt hatte und noch davon ausgegangen war, er wäre am Leben.
Du bist ja doch zu Hause, Papa.
Das Foto machte Anja mehrere Dinge gleichzeitig bewusst.
Erstens hatte der Apokalypse-Killer einen Komplizen gehabt, dessen Identität unbekannt und der weiterhin aktiv war.
Zweitens hatte ihr Vater gar nicht Selbstmord verübt, wie sie und alle anderen die ganze Zeit über geglaubt hatten, sondern war ermordet worden. Und zwar von jemandem, der nun, nach all den Jahren zurückgekehrt war, um mit Johannes’ Hilfe seine perfiden Pläne mit Anja in die Tat umzusetzen und sie in den Selbstmord zu treiben. Wieso er das tat, wusste sie allerdings noch immer nicht.
Und drittens und letztens wurde Anja beim Anblick der schrecklichen Polaroidaufnahme mit Entsetzen klar, dass der Mörder damals noch im Haus gewesen war und ihre Worte gehört hatte. Noch immer erschauderte sie, wenn sie nur daran dachte.
Nach der Entdeckung des Umschlags mit dem Foto am Grab ihres Vaters hatte Anja in den darauffolgenden Tagen und Wochen darauf gewartet, dass sich sein und Fabians Mörder erneut bei ihr meldete. Sie war während dieser Zeit extrem nervös und schreckhaft gewesen, hatte immer wieder über die Schulter geblickt und sich umgesehen, ob ihr jemand folgte, sie heimlich beobachtete oder sich einfach nur auffällig verhielt. Doch nie war ihr etwas aufgefallen. Deshalb hatte sie sich allmählich wieder entspannt und war zu der Ansicht gelangt, dass der Unbekannte wieder aus ihrem Leben verschwunden war, nachdem sein Plan nicht aufgegangen war.
Doch Englmairs Frage, ob sie eine Ahnung hätte, wer ihr einen Mord anhängen wollte, hatte dazu geführt, dass Anja jetzt zwangsläufig wieder an den geheimnisvollen Unbekannten denken musste.
Es sähe ihm ähnlich, erneut seine Spielchen mit ihr treiben zu wollen, indem er ihr einen Mord in die Schuhe schob, den sie nicht begangen hatte.
Allerdings sprachen sämtliche Beweise in diesem Fall eine andere Sprache und ließen nur eine einzige vernünftige Schlussfolgerung zu: Sie hatte Pfarrer Hartmann tatsächlich ermordet!
IV
Sie schreckte aus ihren Überlegungen, als ihr Handy den Eingang einer Mitteilung signalisierte. Sie nahm es vom Schreibtisch, wo sie es abgelegt hatte, und sah, dass Konstantin ihr eine WhatsApp-Nachricht geschickt hatte.
Der Gedanke an ihn lenkte sie für den Moment von ihren düsteren Überlegungen ab und ließ sie unwillkürlich lächeln. Allerdings nur, bis sie die Nachricht gelesen hatte, denn Konstantin teilte ihr darin mit, dass er die Nachtschicht eines kurzfristig erkrankten Kollegen übernehmen müsse und sich deshalb heute Abend nicht wie geplant mit ihr treffen könne.
Anja verzog enttäuscht das Gesicht.
Schade, schrieb sie zurück. Dann sehen wir uns hoffentlich morgen Abend. Sie fügte ein weinendes Smiley hinzu und schickte die Nachricht ab.
Sie hatte sich auf den Abend und die Nacht mit Konstantin gefreut und war traurig, dass nun doch nichts daraus wurde. Das Zusammensein mit ihm hätte sie bestimmt auf andere Gedanken gebracht und verhindert, dass sie ständig über den Mord und ihr Motiv nachgrübelte. Andererseits war es vielleicht auch ganz gut, wenn sie sich heute nicht sahen, denn eigentlich war sie nicht in Stimmung für Gesellschaft. Er hätte ihr bestimmt sofort angemerkt, dass etwas sie beschäftigte und belastete, und wissen wollen, worum es ging. Sie wollte und durfte ihm jedoch niemals erzählen, was sie Furchtbares getan hatte. Ihm nicht und auch sonst niemandem.