Читать книгу IM ANFANG WAR DER TOD - Eberhard Weidner - Страница 6
KAPITEL 3
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Doch aus dem Laufen wurde leider nichts.
Nachdem sie geduscht hatte, fühlte sie sich schon erheblich besser. So als hätte sie damit nahezu alle körperlichen Nachwirkungen des Alkoholkonsums und des Albtraums einfach wegwaschen können. Obwohl sie sich noch immer lebhafter, als ihr lieb war, an die Ermordung des katholischen Priesters erinnerte, standen ihr die Bilder nicht mehr ständig anklagend vor Augen. Und auch die Kopfschmerzen waren wesentlich schwächer geworden. Deswegen verzichtete sie auch darauf, eine Schmerztablette zu nehmen.
Die Welt sah also schon wieder etwas besser aus, als Anja, lediglich in einem Bademantel gehüllt, in der Küche saß und den ersten Becher Kaffee des Tages trank.
Um das angenehme Gefühl, das sie erfüllte, nicht sofort wieder im Keim zu ersticken, vermied sie es bewusst, an die leere Wodkaflasche im Wohnzimmer zu denken. Oder sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum sie sich nicht daran erinnern konnte, dass sie diese gekauft und den Alkohol getrunken hatte. Denn jedes Mal, wenn sie ihre Gedanken in diese Richtung lenkte, stieß sie nicht auf die fraglichen Erinnerungen, sondern nur auf eine blanke, leergefegte Fläche.
Ein Blackout!
Aus der unrühmlichen Phase ihres Lebens, als sie zu viel und zu regelmäßig getrunken hatte, um ihre Sorgen und Probleme im Alkohol zu ertränken, kannte sie solche Blackouts. Doch irgendwie fühlte es sich heute anders an als früher. Es fühlte sich nicht richtig an! Allerdings konnte Anja zu ihrem Bedauern nicht sagen, was genau sie daran störte. Sie wusste nur, dass es nicht so war, wie es eigentlich sein sollte. Und das beunruhigte sie.
Deshalb vermied sie für den Moment nach Möglichkeit alle Überlegungen, die in diese Richtung gingen. Sie wusste ohnehin, dass sie augenblicklich noch nicht einmal ansatzweise in der Lage war, dieses Rätsel zu lösen. Also war es besser, sie ließ es vorerst bleiben und grübelte nicht dauernd fruchtlos darüber nach. Damit verschwendete sie nur ihre Zeit; und die konnte sie auf andere Art und Weise wesentlich besser nutzen.
Anja trank den Kaffeebecher aus und überlegte, ob sie sich erst noch einen zweiten genehmigen oder sich stattdessen gleich ihre Joggingsachen anziehen sollte. Doch noch bevor sie sich entschieden hatte, intonierte ihr Handy das Lied »Engel« von Rammstein und signalisierte ihr damit, dass sie einen Anruf bekam.
Nachdem sie den leeren Becher abgestellt hatte, stand sie auf und ging in den Flur, aus dem der Klingelton ihres Smartphones kam. Es lag auf dem Schuhschrank neben der Garderobe. Anja konnte sich zwar nicht erinnern, es gestern dorthin gelegt zu haben, aber da sie das oft tat, wunderte sie sich auch nicht darüber.
Sie erkannte die Nummer, die angezeigt wurde, und verzog unweigerlich das Gesicht. Ein Anruf dieses Mannes war für sie gleich in zweifacher Hinsicht unangenehm. Erstens mochte sie Anton Krieger nicht besonders. Und zweitens bedeutete es prinzipiell nie etwas Gutes, wenn ein Kollege von der Mordkommission sie zu einer derart nachtschlafenden Zeit anrief.
II
Anja Spangenberg war ebenfalls bei der Kriminalpolizei München tätig. Allerdings arbeitete sie nicht in der Mordkommission, sondern als Kriminalhauptkommissarin im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle. Diese war für Vermisste und unbekannte Tote zuständig. Da Anja allerdings keine besondere Vorliebe für, sondern im Gegenteil eine ausgeprägte Abneigung gegen Leichen hatte, war sie froh, dass sich ihr Zuständigkeitsbereich auf vermisste Personen beschränkte.
Gleichwohl wurde sie immer dann von den zuständigen Mord- oder Todesermittlern umgehend darüber informiert und an den Tatort oder in einen Sektionsraum des Instituts für Rechtsmedizin in der Nußbaumstraße gebeten, wenn einer ihrer Vermissten als Leichnam wieder auftauchte. Dort mussten sie dann gemeinsam einen Abgleich der Beschreibungsmerkmale der unbekannten Leiche mit den Angaben über die vermisste Person aus der Vermisstenanzeige durchführen, um zu klären, ob es sich bei dem Leichnam tatsächlich um die gesuchte Person handelte. Sofern die vorhandenen Merkmale für eine zweifelsfreie Identifizierung nicht ausreichten, erfolgte zusätzlich ein DNA-Abgleich. Erst wenn die Leiche eindeutig als die vermisste Person identifiziert werden konnte, konnten auch die Angehörigen benachrichtigt werden. Damit war der Vermisstenfall für Anja erledigt.
Obwohl es zum Glück nicht oft vorkam, weil die überwiegende Anzahl der Vermisstenfälle sich dadurch erledigte, dass die Vermissten früher oder später von selbst nach Hause zurückkehrten oder dank der eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen gefunden wurden, hatte Anja einen wahren Horror vor den sporadischen Besuchen im Keller des rechtsmedizinischen Instituts.
Als sie nun die Nummer des Anrufers erkannte, brach ihr daher erneut der Angstschweiß aus. Und obwohl sie gerade einen ganzen Becher Kaffee ausgetrunken hatte, wurde ihr Mund so trocken, als hätte sie einen Spaziergang durch die Wüste unternommen.
Wenn Kriminaloberkommissar Anton Krieger um diese Uhrzeit bei ihr anrief, konnte das eigentlich nur bedeuten, dass eine unbekannte Leiche aufgetaucht war und die routinemäßige Recherche in der Datei für »Vermisste/Unbekannte Tote« einen Zusammenhang mit einem ihrer Vermisstenfälle ergeben hatte. Anja erschauderte daher schon beim bloßen Gedanken daran, dass sie demnächst erneut mit einer Leiche konfrontiert werden würde.
Das hat mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt!
Als wenn sie im Augenblick nicht schon genug eigene Probleme hätte. Erst das Erwachen aus dem allzu realistischen und detaillierten Albtraum über die Ermordung des Geistlichen, den sie als Kind gekannt hatte. Anschließend die Feststellung, dass sie eine Flasche Wodka geleert hatte, obwohl sie seit einem Dreivierteljahr keinen Alkohol mehr angerührt hatte. Dann die Gedächtnislücke, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, die Wodkaflasche gekauft und ausgetrunken zu haben. Und jetzt, gewissermaßen als krönender Abschluss des Ganzen, auch noch ein nächtlicher Besuch in der Rechtsmedizin, auf den sie auch an besseren Tagen gut und gerne verzichten konnte.
Na prima!, dachte Anja missmutig. Wenn ein Tag schon so hundsmiserabel anfing, dann ging es ihrer Erfahrung nach auch munter so weiter und wurde kein Stück besser, sondern immer schlimmer.
Sie erinnerte sich automatisch an ihren letzten Besuch in einem der Sektionsräume, die ihr jedes Mal erneut das Gruseln lehrten. Er lag mittlerweile drei Monate zurück und hatte zu ihren Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers geführt. Und am Ende beinahe dazu, dass ihre Cousine Tanja und sie selbst ihr Leben verloren hätten.
Als sie sich schließlich wieder des Mobiltelefons in ihrer Hand bewusst wurde, das noch immer unermüdlich den Rammstein-Song spielte, seufzte sie leise, ergab sich jedoch in ihr Schicksal und nahm den Anruf widerwillig entgegen.
III
»Wunderschönen guten Morgen, hochverehrter Kollege Krieger«, flötete sie ins Gerät, obwohl ihr eher danach zumute war, ihn anzuschnauzen, was ihm eigentlich einfalle, sie um diese Uhrzeit anzurufen, und dass er das gefälligst nie wieder tun solle. Doch sie beherrschte sich. Wenn sie entgegen ihrer wahren Gefühle und ihrer Natur freundlich zu ihm war, nahm sie ihm damit vermutlich noch am ehesten den Wind aus den Segeln.
Und es funktionierte tatsächlich. Es kam nicht oft vor, dass Anton Krieger sprachlos war. Doch diesmal war das der Fall. Vermutlich hatte er damit gerechnet und sogar darauf gehofft, er könnte Anja mit seinem Anruf aufwecken, und insgeheim seine diebische Freude daran gehabt. Dass Anja wach und augenscheinlich auch noch bestens gelaunt war, vermieste ihm hoffentlich die Schadenfreude.
»Was ist los, Krieger?«, fragte Anja nach, als er nichts erwiderte. »Hat es dir die Sprache verschlagen?« Sie wünschte sich, das wäre tatsächlich der Fall. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn sie ein einziges Mal mit ihm telefonieren könnte, ohne sich seine dummen Sprüche und abfälligen Bemerkungen anhören zu müssen.
Doch der Kollege von der Mordkommission erholte sich rasch wieder. »Natürlich nicht. Ich war nur für einen kurzen Augenblick überrascht, dass du um diese Uhrzeit schon wach bist.«
Zu Anjas Überraschung beließ er es dabei. Sie hatte damit gerechnet, dass er noch etwas Anzügliches von sich geben würde. Dass er stattdessen ausnahmsweise darauf verzichtete, irritierte sie daher.
Was ist denn mit dem los?
Anton Krieger war die unangenehmere Hälfte eines Mordermittlerteams, mit dem Anja schon mehrmals zusammengearbeitet hatte. Zuletzt im Fall des Apokalypse-Killers. Sein Kollege war Kriminalhauptkommissar Peter Englmair. Die beiden Männer arbeiteten beim Kommissariat 11 und waren für vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig. Während Englmair der freundliche und väterliche Typ war, mit dem Anja immer wieder gern zusammenarbeitete, verkörperte Krieger wie die andere Seite einer Medaille das exakte Gegenteil. Unter anderem hatte er eine Gabe dafür, die empfindlichsten Punkte anderer Menschen zu entdecken, um sie dann gekonnt gegen sie zu verwenden. Beim Verhör eines Verdächtigen war das natürlich hilfreich. Doch dadurch, dass er es nahezu gegenüber jedermann einsetzte, machte er sich bei seinen Bekannten und Kollegen keine Freunde.
»Ich bin aufgestanden, um zu joggen«, log Anja, ohne von ihm danach gefragt worden zu sein, warum sie schon wach war. Allerdings war es gar keine hundertprozentige Lüge, denn ohne seinen Anruf wäre sie vielleicht schon unterwegs. »Als du angerufen und mich gestört hast, wollte ich gerade meine Joggingklamotten anziehen und ein paar Runden im Westpark drehen.«
»Ach ja? Laufen wolltest du also.« Es klang argwöhnisch, so als glaubte er ihr nicht.
Anja runzelte verwirrt die Stirn. Sein merkwürdiges Verhalten war absolut untypisch für ihn. Normalerweise hätte er schon längst ein paar dämliche Sprüche und die eine oder andere anzügliche Bemerkung zum Besten gegeben. Dass er das völlig unterließ und stattdessen so ungewohnt ernst und vernünftig klang, machte sie unwillkürlich nervös. Um die aufkeimende Nervosität zu überspielen, versuchte sie es ihrerseits mit Humor.
»Ja, laufen. Du weißt schon, das ist eine Fortbewegungsart, bei der man die Beine abwechselnd nach vorne und nach hinten bewegt. Mir ist natürlich klar, dass dir dieses Konzept nicht bekannt ist, weil du dich am liebsten mit dem Auto fortbewegst. Dabei solltest auch du dich mehr bewegen, Krieger, wenn du nicht in ein paar Jahren an einem Herzinfarkt sterben willst.«
Doch Krieger sprang nicht darauf an. Seine Stimme klang normalerweise immer etwas ölig und einschleimend und erinnerte an einen Gebrauchtwagenhändler oder Versicherungsvertreter unmittelbar vor dem Vertragsabschluss; vor allem, wenn er mit Frauen oder Vorgesetzten sprach. Doch dieses Mal war nichts davon herauszuhören. Stattdessen klang seine Stimme geradezu geschäftsmäßig ernst.
»Ich weiß, was laufen ist«, sagte er humorlos.
Anja seufzte. Sonst ärgerte sie sich immer über Kriegers dumme und geradezu primitive Kommentare. Aber wenn er wie jetzt vollkommen darauf verzichtete, war ihr das dann auch wieder nicht recht, weil es alles andere als normal war. Ihr Instinkt sagte ihr, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte und er sich deshalb so seltsam verhielt. Sie wusste allerdings nicht, was nicht stimmte. Vermutlich hatte es mit dem Grund seines Anrufs zu tun. Deshalb wollte sie endlich wissen, worum es eigentlich ging.
»Wie wär’s, wenn du mir endlich sagst, warum du mich um diese Uhrzeit anrufst? Bestimmt nicht nur, um mit mir zu plaudern. Vor allem, weil du heute anscheinend nicht zum Plaudern aufgelegt bist.«
»Stimmt«, war alles, was er darauf erwiderte.
Seine ungewohnte Wortkargheit trieb Anja allmählich zur Weißglut. Sie hatte eine furchtbare Nacht hinter sich und wusste noch nicht einmal, was eigentlich genau passiert war. Da konnte sie so etwas nicht auch noch gebrauchen. Sie stöhnte daher laut, sodass er es hören musste. »Ich verliere wirklich bald die Geduld mit dir, Krieger. Entweder lässt du mich mit deinem Partner reden, damit ich endlich mit einem vernunftbegabten Erwachsenen sprechen kann, oder du sagst mir gefälligst, was los ist.« Sie wartete seine Antwort jedoch gar nicht erst ab, sondern fuhr unverzüglich fort: »Lass mich raten: Ihr habt ein neues Mordopfer. Und nach einem Blick in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen beim BKA habt ihr festgestellt, dass es sich um einen meiner Vermissten handelt. Und jetzt rufst du mich an, damit ich zu euch ins Institut für Rechtsmedizin komme, um die Leiche zu identifizieren. Und? Habe ich recht oder habe ich recht?«
»Teilweise«, erwiderte Krieger knapp. Welche Laus auch immer ihm über die Leber gelaufen war, sie musste riesig gewesen sein.
»Was meinst du damit?« Anja runzelte die Stirn, während sie darüber nachdachte. »Jetzt lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen und rede gefälligst in ganzen und verständlichen Sätzen mit mir!«
»Wir haben tatsächlich ein neues Mordopfer …«
»Aber …?«
»Wir kennen bereits seine Identität. Und ausnahmsweise handelt es sich nicht um einen deiner Vermisstenfälle.« Damit wollte er vermutlich darauf anspielen, dass sie im Fall des Apokalypse-Killers gleich mehrere vermisste Frauen verloren hatte, weil der Täter sie zunächst entführt und anschließend getötet hatte. »Außerdem sollst du nicht ins Institut für Rechtsmedizin, sondern zum Tatort kommen.«
»Aber wieso? Was habe ich mit eurem Mordopfer zu schaffen, wenn es keiner meiner Fälle ist? Und wozu braucht ihr mich dann am Tatort, wenn ich euch ohnehin nicht bei der Identifizierung helfen muss?«
Einerseits war Anja erleichtert, dass sich nicht schon wieder einer ihrer Fälle durch den Tod der vermissten Person erledigt hatte. Andererseits beunruhigte sie Kriegers Anruf über alle Maßen. Sie musste an den Albtraum und den Wodka denken und hatte das unangenehme Gefühl, dass dieses Telefonat nichts anderes war als eine Fortsetzung der Katastrophenserie, mit der dieser Tag begonnen hatte.
»Das erzählen wir dir, wenn du hier bist.«
Anja sah ein, dass sie von einem ungewöhnlich wortkargen und ernsten Krieger keine weiteren Informationen bekommen würde. Es schien ihm im Gegenteil geradezu einen Mordsspaß zu bereiten, sie weiterhin im Unklaren und zappeln zu lassen, auch wenn er sich davon nichts anmerken ließ.
Sie seufzte. »Na schön, ich komme. Wo finde ich euch?«
Als der Mordermittler ihr die Adresse nannte, überlief es sie eiskalt. Die düstere Vorahnung, die sie bislang erfüllt hatte, verwandelte sich jäh in eine schreckliche Gewissheit und ließ sie erschaudern.