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10. Lübeck und die Hanse der Städte
ОглавлениеNein, Lübeck hat die Hanse nicht gegründet. Es gab überhaupt keine Gründung, es gab weder Satzung noch Beitrittsurkunden. Und entstanden ist das, was wir 'Hanse' nennen, auch gar nicht an der Ostsee, sondern – am schönen Rhein. Genauer: in Köln. Könnte man jedenfalls so sehen.
Hanse – was bedeutet eigentlich dieser vielbenutzte Name, den noch heute Dutzende Städte als stolzen Titel tragen? Eigentlich etwas recht Schlichtes, so sagen jedenfalls die Fachleute. Mit 'Hanse' gemeint ist eine Schar von bewaffneten Männern. Und weil jene ersten wagemutigen Fernhändler sich für eine gemeinsame Reise gegenseitigen Beistand schworen, bildeten sie eben eine solche Gruppe. Und so blieb die Bezeichnung irgendwie an den Schwurgemeinschaften haften, auch als sie zu ständigen Genossenschaften wurden von Kaufleuten, die mit einer bestimmten Stadt Handel trieben.
Eine solche Genossenschaft gab es auch in Köln. Es waren die Kaufleute, die den seit römischen Zeiten am Rhein angebauten ordentlich vergorenen Rebensaft flussabwärts und über den Kanal nach England brachten und meist mit englischer Wolle zurückkamen. Dazu brauchten sie die Unterstützung des englischen Königs, denn der Handel mit Wolle und Tuchen lag fest in der Hand der Flamen, und es drohte die Gefahr, dass die flandrischen Kaufleute ein Handelsmonopol errichteten. Heinrich II, der Herrscher in London, sah es wohl ähnlich, und so stellte er die rheinischen Fernhändler unter seinen Schutz, gewährte ihnen den Bau einer Guildhall als Niederlassung am Ufer der Themse. Sein Sohn, Richard Löwenherz, ging etliche Jahre später wesentlich weiter: 1194 gewährte er den Kölnern die umfangreichsten Privilegien, die es damals gab – als Dank, dass sie ihm das Kapital geliehen hatten, mit dem er sich aus der Gefangenschaft des deutschen Königs loskaufen konnte.
In der Kölner Handelsbasis auf der britischen Insel aber tauchten bald auch niederdeutsche Kaufleute auf, und sie kommen aus verschiedenen Städten. Dennoch haben sich die Nordlichter zusammengeschlossen als Händlergemeinschaft, denn sie haben die gleichen Interessen, steuern die gleichen Ziele an. 1157 erhalten auch sie vom englischen König ein erstes Privileg für ihren Handel. Was aber noch wichtiger ist: Die Kölner und diese „Osterlinge“ schließen sich zusammen, wählen sich Ältermänner als Verhandlungsführer aller, schlicht und einfach, weil sie gemeinsam stärker sind. Miteinander leben und handeln sie nun im Stalhof, einer Erweiterung der alten Gildehalle mit Wohnhäusern und Warenspeichern.
Und hier in London taucht dann 1282 unser Begriff wieder auf, denn sie werden als 'de dudesche Hense' bezeichnet, oder in der allgemeinen Vertragssprache Latein: 'Hansa Alemanniae.' Sie selber sprechen eher von sich als dem 'gemenen Koopman,' also der gemeinsam handelnden Kaufmannschaft. Keine Geburt, keine Herkunft, keine fürstliche Gunst hat diesen Stand geschaffen, sondern allein ihr eigener Wille.
Kehren wir nach Lübeck zurück. Es sind zwar die gleichen Männer, die hier den Fernhandel beherrschen und im Rat die Stadt regieren, aber Beruf und Mandat, so könnten wir es mit heutigen Begriffen sagen, sind doch getrennt. Zunächst noch. Denn ob Kaufmann oder Ratsherr – sie verfolgen die gleichen Interessen. Und manchmal ist es eben nützlich, wenn in den Verhandlungen mit den politischen Größen nicht der Kaufmann auftritt, sondern der Ratsherr – also der Vertreter der Stadt. Und damit die Stadt selbst. Die Historiker sagen es so: Aus der Kaufmannshanse wird die Städtehanse. Natürlich nicht von heute auf morgen, und nicht von klugen Köpfen ausgeheckt. Es ergab sich halt so, und es war ja auch nützlich.
Schuld daran war die allgemeine Lage. Lassen wir einfach wieder einen Bardewik die Sache erklären. Es gab damals ja tatsächlich wieder einen im Lübischen Rat – Johann von Bardewik, und er war mehrfach zum Bürgermeister gewählt worden zwischen 1263 und 1290. Wir haben uns vor seinem Haus eingefunden, in der Breiten Straße, schräg gegenüber vom Rathaus. Gerade wollen wir uns den Buden der Goldschmiede zuwenden, die gegenüber, am Rand des weiten Marktplatzes, arbeiten und ihre Ringe und Halsketten anbieten, da öffnet sich auch schon die Tür und Herr Johann tritt heraus in seiner Schaube aus feinem braunen flandrischen Tuch mit dem Zobelkragen. Auf die Trippen, die hölzernen Überschuhe mit den Stelzen gegen den allgegenwärtigen Schmutz, hat er diesmal verzichtet, denn der Markt mit seinem festen Belag aus Holzbohlen wird regelmäßig gereinigt und zum Eingang des Gewandhauses sind schließlich nur wenige Schritte. Es ist zwar keine Ratssitzung angesagt, aber er will sich mit Hinrich von Wittenborg treffen, der in diesem Jahr wieder das Amt eines Bürgermeisters versieht. Es geht um einen wichtigen Vertrag, den Lübecker Sendboten mit den Vertretern der Nachbarstädte Wismar, Rostock und Kiel ausgehandelt haben, auch Stralsund ist trotz früherer Feindschaft mit Lübeck bereit, sich anzuschließen.
Wittenborg hatte Herrn Johann hinzugebeten, denn er hat Erfahrungen mit Verträgen, hatte er doch 1250 als gerade neu gewählter Ratsherr bereits erfolgreich mit König Hakon von Norwegen verhandelt. Johann von Bardewik war jahrelang nach Bergen gesegelt, hatte dort gelegentlich auch die Wintermonate verbracht, um rechtzeitig viele Tonnen Stockfisch aufzukaufen. Dafür hatte er neben Pelz und Wachs vor allem Weizen aus den preußischen Häfen nach Norwegen verschifft, denn das Land war schon länger auf Einfuhren angewiesen. Er kannte also die Situation gut, als es zu Auseinandersetzungen über die Rechte der Lübecker Kaufleute dort kam. Und er hatte ein Druckmittel: Die einheimische Getreideernte war 1249 wieder einmal unzureichend gewesen, König Hakon mußte die Lübecker dringend um weitere Lieferungen bitten. Der junge Ratsherr nutzte die Gunst der Stunde und trotzte dem König weitere Privilegien ab, ehe Lübecker Schiffe mit dem dringend begehrten Weizen nach Bergen segelten.
Seitdem galt Herr Johann in seiner Heimatstadt als geschickter Taktiker. Und er kann nun sein Talent auch ganz in den Dienst der Stadt stellen. Wie viele andere Fernhändler geht er nun nicht mehr selbst auf Reisen, sondern lenkt seine Geschäfte von seiner 'Schrivkamere' aus: Auf der Diele seines stattlichen Giebelhauses, bis auf die Rückwand nun ganz in Backstein aufgeführt, hatte er sich eine Dornse seitlich der eichenen Eingangstür abtrennen lassen und dort nicht nur ein Schreibpult und etliche Truhen für die vielen Dokumente hineingestellt, sondern auch einen eigenen Kachelofen für die kalten Monate.
Von hier aus dirigiert er nun seine Warenströme, teilt sich Schiffe und Ladungen mit anderen Kaufleuten, beauftragt Schiffsführer oder junge Handelsgehilfen mit den Verhandlungen in den angesteuerten Häfen, korrespondiert mit Geschäftsfreunden in manchen anderen Städten, um stets Angebote und Nachfragen genau zu kennen. So bleibt ihm die Zeit, seine Aufgaben im Rat wahrzunehmen. Und er war soeben zum Wetteherrn berufen worden, ein verantwortungsvolles und zeitraubendes Amt, muß er doch die vielen Händler auf dem Markt und die Handwerker in der Stadt überwachen, ob sie richtig maßen und abwogen, keine gefälschten Münzen nutzten, keinen Pfusch anboten und an den ihnen zugewiesenen Plätzen ihre Waren anboten. Da ist es gut, dass ihm die Büttel zur Seite standen.
Während wir hier ins Plaudern kommen, ist unser Ratsherr schon in den ersten Stock des Gewandhauses hinaufgestiegen, wo Bürgermeister Hinrich von Wittenborg, Ratsherr Arnold Schotelmund und der Stadtschreiber bereits zusammensitzen. Der Rat von Wismar hatte den Entwurf einer Urkunde geschickt, die es zu beraten gilt. Worum geht es da? Seit langem schon klagen die Händler darüber, dass Straßen und Wege immer unsicherer werden. Zwar herrscht Landfrieden, und die Landesherren sollen ihn durchsetzen, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die vielen Adligen in ihren befestigten Häusern sind in den Augen der Städte zu bloßen Wegelagerern geworden, zu Räubern und Erpressern. Gut, das mag einseitig sein, denn meist ging es ganz legal um eine Fehde, und die war keineswegs verboten.
Aber Anlaß für eine solche Kriegserklärung konnte (fast) alles sein, und sie konnte jeden treffen: Einen einzelnen Bürger oder gleich die ganze Stadt. Und war sie erst einmal erklärt, konnte der Ritter jeden Warenzug, jeden reisenden Kaufmann gleichsam als Pfand nehmen, bis seine Forderung erfüllt war. Es gelang den Fürsten nur selten, die Rückgabe von widerrechtlich einbehaltenem Gut zu erzwingen oder wenigstens für Entschädigung zu sorgen. Hier aber war nun die Stadt, also die Räte und Bürgermeister, gefragt, waren sie doch zum Schutz ihrer Bürger verpflichtet, und das nicht nur innerhalb der Mauern.
So hatten schon die beiden Städte Hamburg und Lübeck seit längerem einen Vertrag geschlossen, um die Wege, die sie verbanden, sicherer zu machen. Und nun liegt das Pergament aus Wismar auf dem Tisch. Johann studiert es genau, und er weiß wohl, was es bedeutet: Die Städte sollen sich urkundlich verpflichten, so liest er, jeden, der einen Kaufmann beraubt, für geächtet zu erklären. Im Klartext: Jeder darf dann solche Leute ohne weiteres Gerichtsverfahren, aber dennoch ohne Angst vor Strafe ins Jenseits befördern. Und wer diese Räuber schützt, ihnen Zuflucht gewährt, verfällt ebenfalls der Acht.
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Herr Johann blickt auf und schaut die drei Männer an: „Damit nehmen wir uns ein Recht heraus, das nur dem König zusteht,“ sagt er nachdenklich. Der Bürgermeister erwidert den Blick: „Nennt mir einen Herrn, lieber Johann, ob Kaiser, Herzöge oder Grafen, die unsere Kaufleute zu schützen wissen. Es bleibt uns keine Wahl, als dieses Recht in die eigenen Hände zu nehmen.“
Und Johann von Bardewik weiß aus manch eigener Erfahrung, dass Wittenborg die Wahrheit spricht. „Ja, es ist leider wahr! Wie oft schon haben diese Buchwalds und Scharpenbergs einen Warenzug überfallen, ihn ausgeraubt und die gefangenen Kaufgesellen nur gegen hohes Lösegeld freigelassen. Und das mit höchst fadenscheinigen Vorwänden für eine Fehde.“ - „Wenn es denn überhaupt eine Fehde gab,“ mischt sich nun Herr Arnold in der Runde ein: „Vergangenes Jahr hat dieser Lorenz Scharpenberg meine Wagen in der Hahnheide überfallen, ohne je einen Fehdebrief geschickt zu haben. Das ist eindeutig Straßenraub. Und weil mein Ältester unter den Begleitern war, hat er eine gewaltige Summe für seine Freilassung verlangt. Was sollte ich tun? Ich habe zahlen müssen!“
„Ja, was soll man anderes tun?“ nimmt Herr Johann den Faden auf. „Auf die Fürsten können wir kaum zählen, ob es nun der Lüneburger Herzog oder Graf Adolf ist. Dabei sind diese Strauchritter ihre Lehnsleute. Aber hat der Herzog je einen gezwungen, die Gefangenen freizulassen? Oder uns den Schaden zu ersetzen? Nichts als schöne Worte bekommen wir von ihm zu hören.“ - „Eben darum müssen die Städte nun selber handeln,“ sagt Wittenborg und deutet auf das Pergament, um das es hier geht. „Aber werden sie auch einwilligen, diesen Vertrag besiegeln?“
Der Bürgermeister lächelt „Da bin ich sicher. So sehr unsere Kaufleute auch auf den vielen Märkten rings um die Ostsee konkurrieren mögen, hier haben alle ein gemeinsames Interesse, und das läßt sich gemeinsam am besten vertreten.“
War es so? Oder war es doch so ähnlich? Vielleicht
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Verlassen wir das Lübecker Rathaus und die drei Herren dort für einen Augenblick des Nachdenkens. Wie könnte unser Urteil – aus der Sicht des 21. Jahrhunderts – wohl ausfallen? Jedenfalls alles andere als einhellig. Lautet es: Die Stadt(regierung) damals stellte sich schützend vor ihre Bürger? Oder sollte man eher sagen: Jetzt hat eine elitäre Schicht die Stadt endgültig zum Instrument eigener Interessen gemacht?
Könnten wir feststellen: Hier entsteht ein globales Netzwerk, um den freien Austausch von Waren (und manchmal ja auch von Ideen) zu fördern und zu sichern? Oder sollten wir entsetzt konstatieren: Hier vollzieht sich ein gnadenloser Kampf um ein Handelsmonopol, ein Preisdiktat zu Lasten der Produzenten? (Also genau das, was in unseren Tagen die großen Einzelhandelskonzerne auch praktizieren.)
Damals entstanden die ersten regionalen Städtebündnisse – die 'wendischen' mit Lübeck und die rheinisch-west-fälischen mit Köln an der Spitze, die sich dann in der großen hansischen Gemeinschaft zusammenfanden. Dabei tobte der Konkurrenzkampf der Städte untereinander um Märkte und Absatz kaum gebremst weiter. Aber es gab eben auch Dinge, die allen gemeinsam waren und nur gemeinsam durchgesetzt werden konnten: Schutz vor Wegelagerei und den lästigen Zollschranken einerseits, Ausschaltung fremder Konkurrenz andererseits. Freiheit des Handels und rigorose Kartellpolitik – nur zwei Seiten einer Medaille, auf der stets eines stand: de dudesche hense. Wenn wir die Münze werfen – was würde dann oben liegen?
Es dauert noch mehr als ein halbes Jahrhundert, bis sich 1356 auf Einladung des lübischen Rats hier in seiner Stadt Vertreter (Sendboten nannte man sie damals) all der vielen Städte zu einer ersten 'Tagfahrt' trafen, also zu einer gemeinsamen Konferenz. Die ja längst bestehende Hanse der Städte hatte ein Gesicht bekommen. Traf man sich anfangs hier und da in den Städten, so wurde bald Lübeck zum eigentlichen Tagungsort, und Lübecks Rat verschickte die Tagesordnung.