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5. Lübeck – Stadt der sieben Türme
ОглавлениеZugegeben, Köln hatte im Mittelalter weitaus mehr Kirchen als Lübeck, aber Köln war auch jahrhundertlang die größte Stadt des Reiches nördlich der Alpen – und übrigens auch der Ursprungsort der Hanse. Aber davon später. Doch mit seinem Dom, den vier Pfarrkirchen, vier Klöstern, einem Spital und einigen Kapellen konnte die ja erst viel später entstandene Stadt an der Trave sich schon sehen lassen. Sieben Türme, ihr heutiges Markenzeichen, hatte sie damals allerdings noch nicht. Und wir hatten es schon gesehen: Die Anfänge des Kirchbaus waren noch äußerst bescheiden: Hölzerne Kirchlein, wohin man blickte. Aber schon bald – anders als die ersten Feldsteinkirchen in Wagrien – entdeckte man (wieder) ein solides Baumaterial: den Ziegel, oder, wie man gemeinhin hier entlang der Ostsee sagt: den Backstein.
Steine hatten die Eiszeiten zwar hier und da zurückgelassen, aber nur hartes Felsgestein statt der weiter südlich üblichen und leichter zu bearbeitenden Sand- oder Kalksteine. Ton dagegen gab es in großen Lagern, längs der Trave gleich vor der Stadt, und bald wurden die Holzbauten durch Backsteinkirchen ersetzt. Noch waren es romanische Basiliken, eintürmig und massiv. Aber Herzog Heinrich plante für das Lübecker Bistum schon eine Kathedrale, zweitürmig, wie es sich für eine Bischofskirche gehörte, ähnlich dem Dom seiner Residenzstadt Braunschweig. 1173 hatte er gemeinsam mit Bischof Gerold den Grundstein gelegt – wir wissen es schon - und zugleich für den Bau eine jährliche Gabe von 100 Mark gestiftet – damals eine beträchtliche Summe, zumal der Löwe ja auch andere Bistümer im slawischen Missionsgebiet förderte: Ratzeburg und Schwerin.
Es war mit den 92 Metern in der Länge der erste Großbau, den man allein mit den kleinen Ziegelsteinen aufführen wollte, und entsprechend mächtig mussten Wände und Pfeiler werden. Der Bau zog sich hin, nicht nur, weil die vielen Backsteine mühsam genug produziert werden mussten, sondern auch wegen der unsicheren politischen Verhältnisse, nachdem der Löwe gestürzt und das Herzogtum zerschlagen war. Erst 1247 konnte der Dom geweiht werden - fast hundert Jahre später. Knapp zwei Jahrzehnte danach jedoch reichte er den Bischöfen nicht mehr, denn sie unterlagen einem ständigen Konkurrenzdruck im Vergleich mit der Kirche des Rates, St. Marien.
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Vor jeder Sitzung versammelte sich der Rat in der Marienkirche, um der heiligen Messe zu lauschen, bevor er ins Rathaus hinüberging. Doch heute ist es anders: Statt schweigend in den Ratssaal zu schreiten, hält Wilhelm Witte seinen Ratskollegen Heinrich von Bockholt zurück: „Auf ein Wort, Heinrich! Habt Ihr bemerkt, wie düster unsere Kirche heute wieder gewirkt hat?“ - „Es ist neblig, da mag es wohl so scheinen,“ erhält er zur Antwort.
„Nein, das ist es nicht: Die kleinen Fenster, dieser ganze Bau - das ist doch nicht mehr unserer Zeit angemessen. Da baut man im fernen Frankreich längst anders.“ - „Wilhelm, haben wir nicht die alte Basilika gerade erst zu einer weiten Halle umgebaut, wie man es in Westfalen getan hat? Und unser Werkmeister mit seinen Leuten ist noch lange nicht fertig. Wie sollen wir seine Pläne da noch einmal ändern?“ Herr Wilhelm schaut den anderen mit geheimnisvoller Miene an: „Wir müssen jetzt eilen, die anderen sind schon durchs Tor. Aber ich bitte Euch heute nach dem Angelusläuten zu mir, da möchte ich Euch zeigen, was ich von der letzten Reise nach Flandern mitgebracht habe.“
Heinrich von Bockholt ist neugierig geworden, so schreitet er eilig die Alfstraße hinunter, um Wilhelm Witte zu besuchen, kaum, dass die Glocken im Turm von St. Marien verklungen sind. Der Ratsherr erwartet ihn schon, führt ihn in seine Dornse und öffnet eine Truhe, um eine große Rolle zu entnehmen. Er breitet sie auf dem Pult aus und wartet schweigend, dass sein Gast die Zeichnung betrachtet.
Dann blickt Heinrich auf: „Das ist gewaltig,“ sagt er ehrfürchtig, „aber glaubt Ihr wirklich, eine solche Kirche kann man bauen? Die riesigen Fenster in den Wänden, dieser ganze Zierat! Und dann diese Türme, als ob sie den Himmel berühren! Das kann kein Werkmeister zustande bringen.“
Wilhelm Witte lächelt: „Und wenn ich Euch sage, ich habe solche Bauten mit eigenen Augen gesehen? Wir haben bislang Gottes Burgen errichtet. Nun aber können wir das himmlische Jerusalem auf die Erde holen! Und - wir könnten zwei Türme haben wie der Dom unseres Bischofs, aber sie wären weit höher als seine dort. Wir würden ein Mittelschiff errichten, wie es noch niemand in all den Städten entlang der Küste geschaut hat.“
„Und woher wollen wir die Unmengen an Kalkstein oder Sandstein herbeiholen für ein solches Werk?“ - „Wir werden sie nicht brauchen! Auch unser Backstein wird es tun, da bin ich sicher.“ Er streckt seinem Gast die Hände entgegen: „Ich bitte Euch, Heinrich, unterstützt mich im Rat, dass er einen solchen Bau beschließt. Es wird den Ruhm unserer Stadt bei allen wendischen Städten erhöhen, und...,“ er verzieht den Mund zu einem breiten Lächeln, „wir werden Bischof Johannes zeigen, dass wir Bürger dieser Stadt mächtiger sind als alle seine adligen Domherren zusammen.“
War es so? Oder war es so ähnlich? Vielleicht.
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So ist es: Die Pfeffersäcke hatten nun einmal mehr Geld zur Hand als die Pfaffen im Domkapitel. So hatten die Herren des Rats gewagt, auch ihrer Kirche nun zwei Türme vorzusetzen – eine Provokation. Und die zweite: Man hatte die gerade zur Hallenkirche umgebaute Basilika am Markt schon wieder teilweise abgetragen, um sie im inzwischen modernen Stil, den wir heute Gotik nennen, neu zu planen – mit sage und schreibe 38 Metern ragte nun das Gewölbe im neuen Chor der Bürgerkathedrale empor.
Konnten die geistlichen Herren schon mit dieser schwindelerregenden Höhe nicht mithalten, so versuchte es Bischof Johann von Tralau mit der Länge: ein riesiger Chor, ebenfalls gotisch-filigran, sollte den Dom noch einmal um 40 Meter verlängern. Aber wieder ging es nur schleppend voran, 1341 kann Bischof Bocholt endlich den neuen Chor weihen, um wenige Tage später dort auch seine letzte Ruhe zu finden.
Wir sind der Zeit weit vorausgeeilt, kehren wir also zu den Anfängen der anderen Kirchen zurück: Dass St. Petri und St. Marien, die beiden Kirchen am Markt, als romanische Basiliken ins steinerne Dasein starteten, sahen wir bereits. Aber selbst Kirchbau ist Modesache: Aus den Basiliken wurden frühgotische Hallenkirchen, das entsprach auch dem Selbstbewusstsein ihrer bürgerlichen Auftraggeber: Nicht mehr die Ausrichtung auf den Chor, den Bereich des Klerus, sondern die Halle als Versammlungsort der (Laien-)Gemeinde bestimmte die Bauidee. Und die Petrikirche wurde dann gleich um zwei weitere Seitenschiffe erweitert, war fast so breit wie lang.
Die Herren des Rats aber erfuhren von den neuen, himmelstürmenden Kathedralbauten in Frankreich, und sie beschlossen es den Vorbildern gleichzutun – ein kühnes Unterfangen angesichts des Backsteins als Baumaterial. Sie setzten damit zugleich ein Zeichen für all die vielen Neubauten in den neuen Städten entlang der Ostseeküste – von Wismar angefangen über Danzig und Riga bis ins ferne Tallinn, das damals Reval hieß. Aber auch innerhalb Lübecks wuchs die Zahl der Backsteinkirchen: St. Jakobi im Schifferviertel am Koberg, St. Ägidien im Handwerkerviertel am Osthang des Stadthügels. Hinzu kommen die Klosterkirchen, von denen heute nur noch St. Katharinen erhalten ist, die Predigtstätte der Franziskanermönche. Kirchen hatten natürlich auch die Dominikaner im sogenannten Burgkloster, die Zisterzienserinnen bei St. Johannes, Lübecks ältestem Kloster, und schließlich, nur wenige Jahre vor der Reformation erst fertig gestellt, das St. Annen-Kloster als Heimstätte für Lübecks ehelos gebliebene Jungfrauen aus den reichen Familien, nachdem den Bürgertöchtern die beiden Nonnenklöster in Rehna und Zarrentin verschlossen blieben.
Kirchen jedoch waren mehr als nur Orte, an denen ein Kleriker die (lateinische) Sonntagsmesse las. In ihnen wuchs die Zahl der Altäre und der seitlichen Kapellen, weil es galt, bewusste und unbewusste Sünden zu sühnen, ehe der Tod den Menschen dahinraffte – und auch danach noch gab es eine Chance, dem Fegefeuer rascher zu entfliehen: die Seelenmessen zu Gunsten der verstorbenen Vorfahren. An Sünden mangelte es dem normalen Christenmenschen ja nicht, und ob nicht sogar das Gewinnstreben des Kaufmanns ohne alle produktive Tätigkeit schlechthin sündhaft war, das blieb letztlich ungeklärt.
So war es schon angebracht, sich die Fürbitte der Heiligen durch mancherlei Geschenke zu sichern – von der schlichten Wachskerze bis hin zum geschnitzten Retabel auf einem steinernen Altartisch. Und eine Präbende – Pröven sagte man in Norddeutschland dazu - mit der man einen eigenen Priester bezahlen konnte, der für den Stifter die tägliche Messe las und seine Fürbitte gen Himmel schickte, war ebenso von Vorteil wie eine fromme Stiftung zugunsten der Witwen und Waisen, denn Barmherzigkeit war eine wichtige Tugend, wo man schon nicht immer tugendsam leben konnte. Es waren die reichen Bürger, die ein dem Heiligen Geist geweihtes Hospital stifteten, zunächst in der Marlesgrube, aber dort erhob der Bischof Ansprüche. Und so baute man wenig später am Koberg eine riesige Halle und davor eine zweischiffige Kirche, und beides wurde von einem bürgerlichen Gremium verwaltet.
Kirchen waren jedoch ebenso der Ort, in dem oder doch um den herum die Menschen ihre letzte Ruhe fanden, und je näher dem allerheiligsten Sakrament, desto näher auch dem erhofften Paradies. Wer zu den angesehenen, den ratsfähigen Familien gehörte, hatte sein Erbbegräbnis möglichst gleich in St. Marien – dort, wo der Rat sich versammelte, ehe er in das neu errichtete Rathaus gleich nebenan zog.