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3. Die Enttarnung

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Irgendwie hatte Hillas Bruder wohl doch besser zugehört, als er sich den Anschein gab. Günther Niebel, Juniorchef des Bankhauses Niebel, war nur in seinem Äußeren eine unauffällige Erscheinung. Wenn er nichtssagend wirkte, dann galt das allein seiner offensichtlichen Schweigsamkeit. Aber dahinter verbarg er strategisches Kalkül: Banker reden nicht, Banker rechnen, das war sein Motto. Und er war Banker - nicht deshalb, weil ihm als Erbe einer der erfolgreichsten Privatbanken kaum etwas anderes übrigblieb. Er war Banker mit Leib und Seele, wie man so sagt, so sehr, daß für ihn Privatleben bislang ein Fremdwort war.

So hatte er mit unauffällig wachem Interesse in seinem inneren Notizbuch verzeichnet, was dieser unbekannte Gast namens Siggi angeblich als bloßen Scherz zum besten gab: daß er sich als Verlobter seiner Schwester titulierte. Sei es nur ein Gag, sei es vielleicht mehr - dieser junge Mann spielte ab sofort eine Rolle in der Familienpolitik des Bankhauses Niebel, ob vorübergehend oder auf längere Sicht, mußte geprüft werden. Und deshalb war es notwendig, ihn auch sonst zu überprüfen - seine wahren Absichten ebenso wie seine bislang unbekannte Herkunft, seine Bonität wie seine Einstellung. Allerdings hatte er sich geschickt bedeckt gehalten bei dieser Vorstellung, die er am Mittagstisch inszeniert hatte - und eine eindeutige Inszenierung war auch beabsichtigt, dessen war sich Günther Niebel sicher. Nicht einmal seinen vollen Namen hatte er sich entlocken lassen, und ob Hilla ihn überhaupt wußte, dessen war sich ihr Bruder keineswegs sicher. Direkt fragen wollte er sie auf keinen Fall, denn sie sollte und durfte nichts von irgendwelchen Nachforschungen erfahren.

Dann war da noch Hagen, der Vertraute des Hauses, aber auch er hatte bei der kurzen Begegnung nichts Bedeutsames in Erfahrung bringen können. Doch Hagen mußte in ihm die Konkurrenz sehen, das war Günther klar, denn sein scharfer Blick sah sehr wohl, daß Hagen ein gewisses Interesse an Hilla nicht vollständig verbergen konnte, ob das nun auf Zuneigung beruhte oder bloßes Kalkül war, um so in den engsten Führungszirkel des Hauses aufzusteigen. Übrigens: Günther, dem mögliche Gefühle bislang fremd waren, sah in beidem letztlich das gleiche - den zielstrebigen und insofern achtenswerten Weg eines jungen Bankers zu mehr Macht.

Also war es sinnvoll, Hagen ins Vertrauen zu ziehen, seine offensichtliche Abneigung zu nutzen. Günther hingegen empfand keine Abneigung gegenüber diesem Fremden - das wäre ja auch ein bloßes Bauchgefühl und keine berechenbare Größe - ihm war nur ein objektives Mißtrauen eigen, solange nicht geklärt war, ob dieser Siggi eine Gefahr war für die Familie und damit für die Bank oder nicht. Hagen war folglich einzuschalten, wenn es dies aufzuhellen galt, denn er selbst mußte sich so weit wie möglich heraushalten, um die Schwester nicht zu verletzen. Und auch der Vater blieb besser uninformiert, solange die Aktion nicht abgeschlossen war.

Günther lud Hagen schon am folgenden Tag zu einem vertraulichen Gespräch an einem neutralen Ort. Schnell waren sich beide einig: Eine Detektei wäre hier das geeignete Instrument. Das Bankhaus hatte gelegentlich solche Dienste bereits in Anspruch genommen, wenn die Bonität eines Partners in Zweifel gezogen werden mußte. Also übernahm es Hagen, den Auftrag zu formulieren. Natürlich weder schriftlich noch durch Vorladung des entsprechenden Detektivs; Hagen würde ihn persönlich und privat aufsuchen und auch privat entlohnen. Nichts darf sich später in den Büchern finden, auch nichts auf den Konten, über die Günther privat verfügte und die letztlich doch innerhalb der Familie lesbar gemacht werden konnten. Die Erstattung des Honorars, das natürlich der Juniorchef übernehmen würde, ließ sich auch anders regeln.

Einfach war das Unterfangen nicht, das war den beiden Männern bewußt: Was hatte man schon in der Hand, um dem Schnüffler eine Spur anzubieten? Einen Namen, der nicht einmal eindeutig auf einen richtigen Vornamen schließen ließ, keinen Nachnamen, keine Adresse, überhaupt keine Angaben zu Person oder Aufenthaltsort, nur eine gewisse Personenbeschreibung und die vage Angabe, daß Hilla ihn schließlich irgendwo kennengelernt haben mußte, und wenn es nicht ein völliger Zufall, vielleicht auf dem Mannheimer Unigelände oder an einer Straßenecke war, so kamen dafür vor allem jene Lokalitäten in Betracht, in denen sie häufiger verkehrte. Und deren Zahl war nicht ganz gering, aber doch begrenzt - und vor allem: Die Namen waren gelegentlich in den Gesprächen bei Tisch, dem einzigen privaten Kommunikationsort der Familie, gefallen. So bemühte Günther sein Gedächtnis, diese ihm absolut fremde Welt ins Bewußtsein zurückzurufen.

Was dem Detektiv in die Hand gegeben werden konnte, waren eine Reihe von Bezeichnungen, deren Exaktheit allerdings nicht garantiert werden konnte. Und eine zweite, allerdings heikle Empfehlung: Die Schwester bei ihren nächsten Ausflügen ins Nachtleben dezent zu beschatten. In der Detektei nahm man den Auftrag mit einem gewissen Zögern an, aber schließlich war das Bankhaus, dem Hagen angehörte und das man als eigentlichen Auftraggeber vermutete, ein nicht unwichtiger Kunde, und auch das angebotene Honorar reizte durchaus.

So geschah es, daß ein unauffällig geparkter Wagen sich in Bewegung setzte, als Hilla ihren kleinen Sportwagen aus der Garage fuhr - natürlich mußte es solch ein Sportwagen sein, den der Vater ihr zum 18. Geburtstag geschenkt hatte, obwohl sie viel lieber ein geländegängiges Gefährt gesehen hätte. Aber Hilla kehrte stets frühzeitig zurück, weil sie allein Siggi suchte und nicht fand; und für lange Nächte mit den anderen Freunden fehlte ihr der Mut. Um nicht aufzufallen, mußte die Detektei mehrfach die Leute wechseln, die ihr folgten und sich in den entsprechenden Lokalen - im Grunde waren es nur zwei, die sie ansteuerte - in unauffälliger Nähe an ein Bierglas setzten, das sie so selten wie möglich gegen ein neues eintauschten, um fahrtüchtig zu bleiben. Doch sie warteten vergeblich, daß die Beschattete einen Mann begrüßte, auf den die Beschreibung passen könnte oder der mit Siggi angeredet wurde. Der Gesuchte blieb fern, das stellten beide fest, und beide mit Enttäuschung: das Mädchen und der diensthabende Detektiv.

So wechselte die Detektei die Strategie: Man wußte nun, an welchen Orten Hilla Niebel offensichtlich diesen Siggi getroffen haben mußte, also galt es durch geschicktes Fragen zunächst bei der Bedienung, dann auch bei Leuten, die unschwer zu den näheren Bekannten der beiden gerechnet werden konnten, herauszufinden, ob dort Informationen über einen gewissen Siggi zu gewinnen waren. Und einer der Fragenden wurde endlich fündig, als die Nacht vorgerückt und der Befragte für ein gewisses Mißtrauen bereits zu betrunken war: "Siggi? Den hab ich auch schon lange nicht mehr gesehen!" "Der fährt doch jetzt auf Hilla ab, die mußt du mal fragen." "Nein, wir nennen ihn immer bloß Siggi. Reicht dir das nicht?" "Sonst kam er immer donnerstags, gleich nach einer Vorlesung, aus Mannheim herüber. Da hielt er dann immer Reden über den Regenwald, wenn du verstehst, was ich meine." "Also, ich glaube, der wohnt im Mannheimer Studentendorf." "Was fragst du denn so viel? Bist du etwa ein Bulle?" Da wurde das Gespräch vorsichtshalber abgebrochen. Immerhin gab es jetzt konkrete Hinweise, die man auswerten konnte.

Das Büro des Studentendorfes war sehr kooperativ, als man dort erfuhr, daß einer der Bewohner wegen einer geheimnisvollen Erbschaft gesucht wurde. Da wollte man doch gern helfen: "Wir haben zur Zeit drei Studenten, die Siegfried heißen. Und einer nennt sich Sigbert. Komischer Name, nicht? Also die vier könnten es sein. Hier sind die Zimmernummern. Und viel Glück auch!"

Nun galt es, geschickt die vier Kandidaten abzugleichen mit dem, was man bislang wußte. Mit der Personenbeschreibung war zunächst wenig anzufangen. Eher schon der Studiengang. Donnerstagabend und Regenwald! Also das Vorlesungsverzeichnis durchforsten. "Fachbereich Politikwissenschaften, Ringvorlesung Donnerstag 18.00 Uhr c.t., Nachhaltigkeit und Raubbau als wirtschaftliche Grundtendenzen an ausgewählten Beispielen." Das könnte es sein. Aber bei einer Ringvorlesung gab es keine Testate. Außerdem würde der Fachbereich kaum Auskunft geben. Also alle vier Kandidaten am Donnerstag observieren. Zwei fielen aus, sie hatten ab 17.00 Uhr Seminare bei den Juristen. Blieben die beiden anderen. Ein Siegfried und der ominöse Sigbert. Aber der war klein und untersetzt und hatte obendrein einen Vollbart. Endlich also waren sich die Detektive sicher, den richtigen geortet zu haben. Allerdings ging er nicht zu der Vorlesung, weder am gleichen Tag noch am folgenden Donnerstag. Er ließ sich überhaupt nicht sehen, soweit eine Observation durchgeführt werden konnte.

So begann wieder das Fragen, in aller Vorsicht, bei den nächsten Nachbarn auf dem Flur des Hauses. "Der Siggi? Ja, der wohnt hier. Aber ich hab ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen." "Der Siggi? Ich glaube, der ist irgendwie krank. Nein, Näheres weiß ich auch nicht." Immerhin: Man hatte seinen Namen, seinen vollen Namen, und der war seltsam genug: "Siegfried de Castro" Weiß der Teufel, woher der kommt. Ist auch egal. Man hatte seine derzeitige Adresse. Und - durch eine Indiskretion im Büro des Hauses - auch sein Geburtsdatum. Na bitte! Das dürfte reichen, um den Auftrag als erfüllt anzusehen. Und die Prämie zu kassieren. Und Hagen zahlte. Das weitere erledigte er lieber selbst. Wozu gab es das Internet.

Es wurde eine lange Nacht, aber er wurde fündig. Und was er herausfand, ließ ihn hellwach werden trotz der vorgerückten Stunde. Geburtsort - irgendein Nest am Niederrhein. Aber - er war eingetragen unter einem anderen Nachnamen, Verwechslung unmöglich. Doch das erschien weniger wichtig gegenüber der nächsten Erkenntnis: Siegfried de Castro, erster Wohnsitz Xanten. Und "de Castro" - jetzt fiel es ihm wieder ein, der Name war ihm früher schon einmal untergekommen. Dahinter steckte eine Unternehmensgruppe mit Firmensitz eben in Xanten - "A. Albrecht AG. Groß- und Außenhandel." Eine Aktiengesellschaft als Holding, und darunter ein unübersichtliches Geflecht unterschiedlicher Firmen, aber alle irgendwie mit internationalen Handelsbeziehungen unterschiedlichster Art. Produktionsbetriebe: Fehlanzeige. Aktienstreuung gleich Null, die Firma war praktisch in Familienbesitz, und die Hauptaktionärin eine gewisse Brunhilde de Castro, zugleich Vorsitzende im Vorstand. Geboren 1978 in Xanten, Tochter des vorhergehenden Firmenchefs Alberto de Castro, geboren in La Plata, Argentinien, deutsche Staatsangehörigkeit.

Doch ein Siegfried de Castro? Fehlanzeige - sein Name taucht nirgendwo auf in dieser Firmenansammlung. Aber daß er irgendwie dazugehört, auch wenn er erst später diesen Namen erhielt, war dennoch sicher. Wie jedoch kam er in diese Familie? Vielleicht voreheliches Kind des Alten? Aber dafür war er zu jung, Brunhilde de Castro war ehelich und fast acht Jahre älter. Oder ein Fehltritt, irgendwann nach dem Tod der Ehefrau akzeptiert - sie starb früh, da war die einzige Tochter erst dreizehn. Oder irgendeine Adoption, warum auch immer, möglicherweise wollte er einen männlichen Nachfolger und wurde enttäuscht. Vermuten ließ sich so manches, doch es blieb die Namensgleichheit und damit die Zugehörigkeit zu diesem Clan.

Der Alte war vor fünf Jahren verschieden - übrigens als Ehrenbürger von Xanten mit allem Pomp beigesetzt, und Träger aller möglichen Orden war er auch. Er hatte einen argentinischen Vater - oder vielleicht einen deutschen, der sich nach Kriegsende dorthin abgesetzt hatte? Denkbar wäre das schon, so mancher Nazi verschwand damals in Südamerika und hat seinen Namen hispanisiert. Castro? Hieß er einmal "Burg" - oder "Borg", er kam schließlich vom Niederrhein, vielleicht auch "van Borg"? Oder - Hagens Fantasie war geweckt, und alte Schulkenntnisse kamen zurück: Xanten, war da in der Nähe nicht ein römisches Kastell, wie hieß das noch gleich? Er zog das Internet zu Rat: Vetera Castra. Nur ein Zufall, oder stammte der Typ bereits aus Xanten und machte sich den Spaß, in Argentinien nun de Castro zu heißen? Und der Sohn kehrte zurück, um das freigegebene Erbe anzutreten?

Gab es also mehr als die Firma? Industrie, Ländereien, städtischer Grundbesitz, eventuell sogar Kunstschätze? Und war dieses Mehr - vielleicht Siegfrieds Erbe? Hagen schloß seinen Laptop. Hier mußte er vorsichtiger vorgehen. Aber es gab sicher eine, die Auskunft geben könnte, wenn man geschickt genug fragt: Brunhilde de Castro. Doch wie sollte er einen Kontakt herstellen, solange er nicht wußte, in welchem Verhältnis Brunhilde und Siegfried zueinander standen?

Morgen früh würde er mit Bankkollegen sprechen, die Beziehungen zum Niederrhein hatten. Vielleicht ergaben sich da weitere Informationen. Zunächst aber konnte er dem Juniorchef seinen Erfolg vermelden. "Siggi" war enttarnt, weitgehend jedenfalls. Nur ein Teilchen fehlte ihm noch in diesem Puzzle: Was besaß dieser Mann, welchen Einfluß hatte er im Clan de Castro? Das ließ Hagen nur unruhig schlafen.

Die Niebelsaga

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