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4. Die Schwester

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Sie hatte schon lange nichts Näheres mehr vom Bruder gehört - der ja nicht nur Bruder war, sondern das ständige Abbild geheimer, lange nicht mehr erfüllter Wünsche. Ein paar E-mails nur, nichtssagend und voller Kälte, seitdem er, um endlich zu studieren, das leer gewordene Vaterhaus noch leerer hinterlassen hatte, indem sie nun umherging wie ein Schloßgespenst, das wehklagend früheren Glückes gedenkt. Was brauchte sie diese Zimmerfluchten, wo doch ihr eigenes Zimmer ihr schon unendlich groß erschien! Was brauchte sie die Gemälde und Büsten, die noch nie jemand mit ehrfürchtiger Bewunderung betrachtet hat, die nur Kapitalanlage waren und Nachweis großbürgerlichen Mäzenatentums. Was brauchte sie die goldbedruckten, ledergebundenen Bände, verstaubt schon beim Erwerb, die niemand im Hause je aufgeschlagen hat und die sie selbst in keiner Weise interessierten.

Siegfried, der hätte sie wohl gern gelesen, und sie erinnert sich schon, wie der Achtjährige an den Regalen entlang schlich und die alten Titel zu entziffern suchte, aber der Vater verweigerte sie ihm, wohl wissend, daß ihr Wissen anderes lehren würde als die Macht des Geldes, die er dem Knaben vor Augen führen wollte, daß ihre Botschaften verborgene Fantasien wecken könnten statt das Streben nach Gewinn. Ach Siegfried!

Sie brauchte das alles nicht. Sie brauchte nur ihren Schreibtisch, um elektronische Verbindung zu halten zu ihren leitenden Angestellten, zu den Geschäftsführern all der Firmen, die ihr Vater zusammengerafft hatte mit seinem sicheren Blick für künftigen Gewinn. Sie brauchte nur ihr Bett für die wenigen Stunden Schlaf, die sie sich gönnte, weil ihr dieses Bett so leer vorkam ohne den einen, der ihr früher in seiner unbekümmerten Hingabe gezeigt hatte, daß Leben auch anders sein kann. Sie brauchte höchstens noch diesen breiten Kleiderschrank, um dem Gerede in den Vorzimmern zu entgehen, wo die schwarznageligen Jungfern in ihren zu kurz geratenen Röcken sich über die Garderobe der Chefin ausließen, wenn sie versehentlich zum zweiten Mal im Monat das gleiche Kostüm gegriffen hatte in der Eile des Aufbruchs.

Aber all das war vergessen, wenn sie dem Vorstand präsidierte oder eine Abteilungsleiterkonferenz einberufen hatte, wenn sie genaue Zahlen, korrekte Analysen, zielführende Vorschläge einforderte, leise und höflich im Ton, aber stets kalt und in bedrohlicher Härte. Dann spürte sie den Geist des Vaters in sich, der einzig gelungene Geschäfte zum Maßstab eines gelungenen Lebens gemacht hatte, denn sie war Erbin - nicht so, als pflegte sie nur, was ihr einst in den Schoß fiel, sondern in dieser besonderen Weise, daß sich fortsetzte, fortentwickelte, ins Unendliche wuchs, was er noch klein gepflanzt hatte.

Dann kehrte das Leben für kostbare Augenblicke zurück, ein anderes, als sie es damals entdeckte, als sie Haut an Haut mit dem Bruder lag, aber doch lebendiges Leben: Herrschaft und Wille, Macht und Erfolg, und als Nebenprodukt auch sich mehrender Reichtum und die zähneknirschende Anerkennung der anderen, der Konkurrenz, männlich nur und schon deswegen von wütendem Neid erfüllt. Dann war sie stark, und das Blut pulsierte, die Vulva straffte und feuchtete sich, die Brustwarzen fühlten sich fest an und stark - dann war es lustvoll, zu leben.

Doch die Rückkehr in die Leere war danach um so qualvoller, weil jene andere Lust nicht zu imitieren war, so sehr sie es auch manchmal versuchte. Dann haßte sie den Bruder, und sie haßte und verachtete sich selbst, weil sie schwach war, der Sehnsucht ausgeliefert und den Wünschen, die sie sich nicht erfüllen konnte. Ach, Siegfried!

Brunhild de Castro kam am Abend nach einem Tag voller Verhandlungen ins Haus zurück, müde und ärgerlich, weil sie nicht alle Ziele erreicht, nicht alle Forderungen durchgesetzt hatte. Sie warf ihre Kostümjacke auf einen Stuhl, ging ins Bad und starrte eine Weile angestrengt in den Spiegel. In gewisser Weise war sie eine schöne Frau.

Ihr volles dunkles Haar konnte lang und locker auf die Schulter hängen, wenn sie es nicht zumeist streng gerafft mit einer Spange zu einem Pferdeschwanz gebändigt hätte. Die hohe Stirn, die nur ganz zart hervortretenden Wangenknochen, die vollen Lippen gaben ihr ein slawisch anmutendes Aussehen, das durch das straff zurückgekämmte Haar noch verstärkt wurde. Sie hatte sich einen herrischen, abweisenden Blick angewöhnt, den die sehr präzise schmal gezupften Brauen noch verstärkten. Ihrer schlanken Gestalt sah man an, daß sie die Geräte in ihrem privaten Fitness-Studio im Erdgeschoss regelmäßig nutzte. Die typischen Managerinnenkostüme, die sie in der Regel trug, eng und lang geschnitten, machten sie zwar nicht gerade sexuell anziehend, betonten aber durchaus ihre Figur und versteckten auch ihre Brüste nicht völlig. Aber sie sah nur die dunklen Schatten unter den Augen, den Anstrengungen des Tages geschuldet, und schüttelte unwillig den Kopf.

Ohne zu den vielen Utensilien der Schönheitspflege zu greifen, beendete sie die Prüfung, wandte sich vom Spiegel ab und ging zurück in ihr Zimmer, das Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer in einem war. Lustlos fuhr sie noch einmal den PC hoch, um rasch die Mails durchzusehen, die sich bereits wieder angesammelt hatten. Alles Angelegenheiten, die am nächsten Morgen erledigt werden konnten. Vom Bruder keine Nachricht. Aber dann eine Notiz ihres persönlichen Referenten mit dem Stichwort "Geheim, wichtig", die sie nur mit einem speziellen Paßwort auf den Schirm holen konnte.

Und dann las sie: "Offensichtlich sehr diskrete Ausforschungen mit Blick auf Ihren Bruder. Absicht noch unklar, ebenso Auftraggeber. Ich bleibe dran." Sie dachte noch einen Augenblick nach, dann griff sie zum Handy. Der Referent meldete sich sofort: "Ich habe mit ihrem Rückruf gerechnet. Viel kann ich zur Zeit allerdings noch nicht sagen. Es wäre unklug zu dieser Tageszeit herumzufragen, das macht die Sache unnötig heiß. Aber ich habe unseren Abhörspezialisten in Gang gesetzt, er versucht, die Fragen zurückzuverfolgen. Der Tipp kam aus unserer Hausbank. Leider haben die bloß abgeblockt, ohne alle Daten abzuspeichern. Vielleicht schafft er es trotzdem. Sobald ich Nachricht habe, melde ich mich."

"In Ordnung, Sven. Rufen Sie mich auf jeden Fall morgen früh in meinem Büro an, aber bitte nicht über das Hausnetz. Und - danke!" Sie schaltete aus. Siegfried! Wer mochte sich für ihn interessieren? Und wieso? Warum fragen die nicht einfach offen bei mir an? Geheimniskrämerei macht schließlich verdächtig.

Sie setzte sich auf die Bettkante, strich in Gedanken die Decke glatt. Ich könnte ihn einfach anrufen, vielleicht weiß er ja davon, vielleicht ist das alles ganz harmlos. Und - ich würde endlich wieder seine Stimme hören. Ich hätte einen Grund, ganz objektiv. Ich würde mir nichts dabei vergeben. Nein, jetzt nicht. Noch nicht. Erst einmal soll Sven sein Ding machen, dann sehen wir weiter. Ach, Siegfried. Dann streifte sie entschlossen die Kleider ab, ging noch einmal zurück ins Bad und duschte, so kalt, daß sie die Zähne zusammenbeißen mußte. Aber sie hielt es aus, und man könnte meinen, sie wollte sich so selbst bestrafen für etwas, was sie selber nicht in Worte fassen konnte.

Die Niebelsaga

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