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Mit Kartoffelkäfern fing es an

Als Reiner mit seinen Eltern und Geschwistern nach der Flucht aus Oberschlesien auf den Bauernhof seiner Tante kam, hatte er seinen ersten Geburtstag noch vor sich. Vermutlich hat er kurz danach seine ersten Gehversuche gestartet, erinnern kann er sich verständlicherweise nicht. Wahrscheinlich hat es aber nicht lange gedauert, bis Vater, Mutter, Tante und andere Verwandte an ihm etwas entdeckten, womit er für sie auch von Nutzen sein konnte. Denn, seien wir ehrlich, so ein Hosenscheißer macht doch nur Arbeit, kostet mit seinem Geschrei den letzten Nerv und ist nur in sehr beschränktem Maße durch seine Niedlichkeit zu ertragen. Kein Wunder, dass sich jeder Ältere nach dem Zeitpunkt sehnt, an dem man dem Balg auch mal etwas auftragen kann, damit dieser sich nützlich macht.

Das fängt an mit „wo ist meine Brille?“, „bring mir mal….!“, „mach das Licht aus!“, „mach die Tür zu!“, und anderen Aufträgen, die dem kleinen Knirps auch noch gefallen und ihn sogar stolz machen, wenn er sie erledigt hat. Am besten gefällt es ihm natürlich, wenn er dafür auch noch überschwänglich gelobt wird, weil er es besser als die Mutti wusste, wo die Brille lag. Auf diese Weise zieht man sich Kinder heran, die Bitten gerne erfüllen und sie nicht als Anordnung oder sogar Befehl empfinden. Bei manchen bleibt diese Einstellung ein Leben lang erhalten, bei anderen nicht oder weniger.

Verstärkt werden kann kindliches Engagement noch durch pekuniäre Belohnung, sobald die Vergeltung als Wert erkannt wird. Kinder, die in Armut aufwachsen, kapieren die Nützlichkeit von Geld schneller als solche, die schon immer genug davon hatten. Vermutlich ist es wie mit den Süßigkeiten. Der immer gefüllte Teller mit Bonbons und Schokolade verführt weniger zur Gier nach Schleckereien als ein andauernder Mangel derselben.

In Reiners Fall war es in jedem Fall so, dass er von klein auf an gerne Arbeiten angenommen und erledigt hat, wenn sie mit Geld belohnt wurden. Die erste bezahlte Arbeit, an die er sich erinnern kann, war, dass er und seine um ein Jahr ältere Schwester im Auftrag der Tante, der der Bauernhof gehörte, für ein paar Pfennige Kartoffelkäfer von dem Kartoffellaub absammelten und sie der Tante zur Vernichtung übergaben. Die Tante war – was sie später als besser Mitdenkende feststellen konnten – extrem hinter dem Geld her und hatte mit Sicherheit durch die abgetöteten Kartoffelkäfer einen größeren Nutzen als die Kinder mit den Pfennigen, die sie von ihr bekamen. Dennoch waren sie aus ihrer Sicht ausreichend belohnt worden, zeigten jedem ihr verdientes Geld und taten es in ihr Sparschwein. Ihre Anstrengung war belohnt worden, die Wirksamkeit ihres Tuns interessierte sie weniger. Die Tante hatte die Erfahrung und die Weitsicht, dass ihre Investition sich lohnen würde.

Das war Kapitalismus im Kleinen.

Im Gegensatz zu den Kindern hatte sie es nämlich schon erlebt, wie eine Kartoffelkäfer-Plage die ganze Ernte vernichten kann.

Der Käfer legt an die Unterseite der Blätter der Kartoffelpflanze eine riesige Menge an Eiern ab, aus denen die Larven schlüpfen, die nach mehreren Häutungen in den Erdboden wandern, sich dort verpuppen und nach ein paar Wochen als Käfer wieder ins Freie kommen. Die jungen, gefräßigen Käfer können in entsprechender Menge das Laub eines ganzen Kartoffelfeldes abfressen und dadurch die Entwicklung von neuen Kartoffeln im Boden verhindern.

Später, als es mit chemischen Mitteln gelang, den Käfer unter Kontrolle zu bringen, brauchte man die Kinder nicht mehr. Dafür benötigte man sie umso dringender bei der Kartoffelernte. Wenn im Herbst ihr Laub vertrocknet war, konnten die Knollen nicht mehr weiter wachsen, und es kam die Erntezeit. Automatische Kartoffelerntemaschinen gab es Anfang der 50er-Jahre noch nicht. Die mit Hilfe eines Pflugs aus dem Boden ausgegrabenen Erdäpfel mussten von Hand aufgelesen werden. Das kann jedes Kind, sobald es laufen gelernt hat. Reiners Tante engagierte dann auch alle verfügbaren Kinder samt Müttern aus der weiteren Nachbarschaft. Es gab eine kinderreiche Familie, deren Mutter mitsamt ihrer vielköpfigen Brut bei der Ernte mithalf. Die Kleinsten waren zwar noch nicht richtig hilfreich, aber sie waren für die Zeit auf dem Feld zumindest beaufsichtigt.

Gebückt stehend oder auf den Knien rutschend nahm man die Knollen mit der Hand und warf oder legte sie in einen großen Korb. Sobald dieser voll war, nahm ihn der Knecht, trug ihn zur Pferdekarre und schüttete den Inhalt auf den Wagen. Von dort wurden sie zum Hof transportiert.

Am schönsten bei der Arbeit – das empfanden Reiner und die übrigen Kinder damals schon – waren die Pausen.

Da kam nämlich die Bäuerin mit dem Fahrrad zum Feld gefahren. Rechts und links an ihrem Lenker hingen je eine große Tasche mit Getränken und geschmierten Broten. Aus großen Kannen gab es Muckefuck-Milch-Kaffee und die Brote waren meist mit Käse und Rübenkraut geschmiert. Manche auch mit Zucker auf der Margarine bestreut. In kürzester Zeit war alles verputzt und die Tante beeilte sich, die Zeitungspapierreste und die leeren Becher einzusammeln und nach Hause zu bringen. Gleich darauf ging es mit der Arbeit weiter.

Reiner erinnert sich noch besonders an die Mutter der Großfamilie. Sie hatte nämlich im Oberkiefer nur noch zwei Zähne, war aber mit dem Mund erstaunlich gut zu Fuß. Den Namen eines Jungen, der Edgar hieß, konnte sie sich nicht merken. Sie nannte ihn immer Dr. Oetker. Diesen Namen kannte sie aus ihrer Küche, vom Backpulver her.

Wie die Tante die vielen Helfenden bezahlte, das blieb ihr Geheimnis. Auf alle Fälle wurde mehr in Naturalien vom Bauernhof als in Bargeld bezahlt. Für Reiner gab es eine Zeitlang 20 Pfennige in der Stunde.

Eine andere Feldarbeit, für die die Kinder aber schon etwas größer sein mussten, war das Rüben-Verdünnen, auch Rüben-Vereinzeln genannt. Das war nötig, weil die Rüben in langen Reihen ausgesät wurden, wodurch sie sich gegenseitig den Platz für die Weiterentwicklung nahmen. Auf den Knien kroch man über das Feld und entfernte von Hand die überschüssigen Jungpflanzen. Es sollten nur die stärksten Gewächse im richtigen Abstand zueinander stehen bleiben. Heute werden sie einzeln von einer Maschine gepflanzt und zwar so, dass jede Pflanze für ihre optimale Entwicklung genügend Platz hat.

Bevor sich die Rüben richtig ausgedehnt hatten, wuchs zwischen den Pflanzen schon wieder Unkraut, das dem Boden wichtige Nährstoffe entzog. Dieses Unkraut musste von Hand mit sogenannten Schuffeln, einer kleinen, scharfen Schaufel an langem Holzstiel, entfernt werden. Dazu konnte man kleine Kinder nicht gebrauchen, weil die Arbeit anstrengend war und man sich außerdem konzentrieren musste, um nur zwischen den Rübenpflanzen zu schuffeln.

Im Herbst dann, bei der Rübenernte, durften die großen Kinder die aus dem Boden gezogenen Rüben akkurat in lange Reihen legen, damit der Knecht oder der Bauer das Rübenlaub mit einem Spaten Stück für Stück mit einem Stich abtrennen konnte.

Auch beim Anbau und bei der Ernte von Getreide konnte man als Kind nur helfen, wenn man schon etwas größer war. Für das Pflügen und Eggen der Felder mit Hilfe von Pferden musste man schon ausgewachsen sein, das Walzen wiederum, das durfte Reiner schon bald. Dafür spannte ihm der Bauer das bravste Pferd vor die Walze und er leitete es über die damals kaum befahrene Straße zu dem Feld, das geglättet werden musste. Reihe für Reihe wurde so bearbeitet. Ansonsten war die Arbeit mit Pferden, wie später die mit dem Traktor, dem Bauern vorbehalten.

Ein folgsames Pferd zum Beschlagen der Hufe zur Schmiede und wieder nach Hause zu bringen, das traute man ihm schon bald zu.

Reiners einige Jahre älterer Bruder durfte regelmäßig mit einem Pferd und einer Karre voll Getreide zum Müller des Dorfes fahren, um Weizen, Roggen und Gerste mahlen zu lassen. Das Mehl brauchte man zum Backen von Brot, aber auch als Futter für Geflügel und Schweine. Während des Mahlvorgangs besuchte er den alten, nicht mehr arbeitenden Müller im Nebenhaus. Der interessierte sich nämlich sehr für die moderne schulische Ausbildung. Die zwei Generationen verstanden sich gut und die Unterhaltung der beiden muss wohl so spannend gewesen sein, dass sie nicht merkten, dass das Korn längst gemahlen und das Mehl in Säcken auf der Karre verladen war. Nur das Pferd hatte es längst mitbekommen und hatte sich alleine auf den Heimweg gemacht. Zu Fuß eilte sein Bruder hinterher, schaffte es aber nicht mehr, das Pferd einzuholen. Es könnte das letzte Mal gewesen sein, dass er zur Mithilfe auf dem Bauernhof eingespannt wurde.

Eine wesentlich bessere Bezahlung als bei der Tante lockte Reiner vom Bauernhof in die Zementfabrik in der Mitte des Dorfes. Diese gehörte zu einem Bauunternehmen und dort wurden Baufertigteile wie Fensterstürze, Betonstufen und Bodenplatten hergestellt. Er war zwar noch nicht einmal 14 Jahre alt, wurde aber mit Erlaubnis seiner Eltern und des verantwortlichen Unternehmers auch zu körperlich anstrengenden Arbeiten herangezogen. Das häufige Verladen von Betonteilen ohne Schutzhandschuhe, von denen die festangestellten Arbeitnehmer auch nur ein einziges Paar besaßen, führte dazu, dass alle seine Fingerkuppen wund wurden. Man konnte sozusagen das blanke Fleisch sehen. Um weiterarbeiten zu können, wurden die Fingerspitzen einfach mit Hansaplast-Pflaster versorgt.

Die normale Arbeitszeit war von 7 Uhr bis 12 Uhr, unterbrochen von einer viertelstündigen Kaffeepause um 9 Uhr und von 12.30 Uhr bis 17 Uhr mit 15 Minuten Kaffeepause um 15 Uhr. Das ergab pro Tag 9 1/2 Stunden bei einem Stundenlohn von 1 DM.

In seinem Tagebuch von 1958 fand er den Eintrag, am 16. April für 6 Tage Arbeit in den Osterferien 56,50 DM in bar in einer Lohntüte bekommen zu haben. Im Jahr 1959 war er sowohl in den Osterferien vom 1.4.–8.4. für 62,5 Stunden bei 1,40 DM Stundenlohn, als auch in den Sommerferien – laut noch erhaltener Lohntüte – vom 1.7.–31.7. bei 1,30 DM Stundenlohn 216,5 Stunden beschäftigt.

Eine Arbeitszeit, die sich heute kaum noch einer vorstellen kann und die auch kaum noch einer bereit ist zu arbeiten. Es sei denn, es werden Überstunden mit Aufschlag vergütet.

Für die Kaffeepausen hatte er Brote dabei, für die Mittagszeit gab seine Mutter ihm einen sogenannten Henkelmann mit. Dieses war ein zweistöckiges mit Essen gefülltes, verschlossenes Aluminiumgefäß. Im oberen Teil war der Nachtisch, der untere Teil wurde in einem Wasserbad erhitzt, sodass man nicht auf eine warme Mittagsmahlzeit verzichten musste.

Der Umgangston der gelernten Maurer und angelernten Arbeiter zu Reiner war rau aber herzlich. Natürlich machten sie sich über einen schwachen Schüler wie ihn immer wieder lustig und an einem Tag wurde er von allen ganz schön veräppelt. Man schickte ihn zu einer anderen Baustelle, um dort einen Betonhobel abzuholen. Von dort war das gewünschte Teil aber schon an eine andere Baustelle verbracht worden und man schickte ihn weiter. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, das gesuchte Werkzeug zu bekommen, landete er wieder am Ausgangspunkt der Odyssee, wo er mit großem Helau empfangen wurde. Es war der 1. April.

Nachdem er sich in der Zementfabrik wohl genügend bewährt hatte, wurden ihm auch Arbeiten auf verschiedenen Baustellen übertragen. Bei Hausbauten durfte er den Speis in der Betonmischmaschine herstellen und in einem länglichen, viereckigen Kübel (dem Speiskübel) auf der rechten Schulter zu den Maurern tragen. Wenn diese gerade im ersten oder im zweiten Stockwerk mauerten, war es besonders anstrengend, weil es keinen Aufzug gab.

Interessant und bis heute in seinem Gedächtnis haftend, war ein Brückenbau über einen Bach, am Niederrhein Ley genannt. Dabei sah er zum ersten Mal, dass vor dem Betonieren eine Verschalung gezimmert, und in diese ein Geflecht aus Stahl zur Stabilisierung der späteren Brücke eingebracht werden musste. Zu dieser Baustelle musste er morgens etwa 4 Kilometer mit dem Rad fahren und am Abend wieder zurück nach Hause.

Einmal wurde er auch einem kurz vor dem Ruhestand stehenden Fliesenleger als Handlanger zugeteilt. Dieser war ein ganz besonderer Typ. Klein, zwergenhaft und aufbrausend wie Rumpelstilzchen. Schon bald merkte Reiner, warum ausgerechnet er seine rechte Hand sein sollte. Es wollte nämlich kein anderer mit ihm zusammenarbeiten. Der Mann hielt sich für den besten Fliesenleger weit und breit, und wenn einmal etwas nicht so gut geworden war, wie er sich das vorgestellt hatte, dann beschimpfte er seinen Helfer. Reiner gewöhnte sich schon bald an seine beständig schlechte Laune.

Er stellte sich einfach vor, dass der Mann zu Hause von seiner Frau genauso behandelt wurde, wie er ihn behandelte.

Neben der Arbeit in der Zementfabrik und auf dem Bau half er auch manchmal an Sonntagen in der Vereinsgaststätte seiner Kusine aus. Sein Fußballverein Rheingold Vynen trug die Heimspiele ganz in der Nähe aus, und nach solchen Spielen war der Durst aus Freude über den Sieg oder aus Trauer über die Niederlage immer besonders groß. Die Fußballer, ihre Angehörigen und die Fans wollten alle mit Bier versorgt werden und so schnell wie die 0,2 Liter fassenden Gläser geleert wurden, konnte er sie nicht bedienen, weil seine Kusine mit dem Zapfen nicht Schritt halten konnte.

In manchen Schulferien fuhr er auch ins Sauerland nach Lüdenscheid zu seiner Patentante. Sie hatte auf den Wochenmärkten der weiteren Umgebung einen Stand mit Wild, Geflügel und Eiern. Ihr Mann verkaufte auf denselben Märkten Obst, Gemüse und Südfrüchte. Dabei durfte Reiner überall, wo gerade jemand gebraucht wurde, mithelfen. Meistens verkaufte er am Stand ihres Mannes Waren aus dem Sortiment, die stückweise abgegeben wurden und nicht gewogen werden mussten. Zum Beispiel Schlangengurken. Einmal verkaufte er auch ganz allein auf dem Markt in Altena Knickeier. Das waren Eier mit einer leichten Beschädigung an der Schale, die sich auf diesem Markt traditionsmäßig besonders gut verkaufen ließen. Nach Marktschluss wurde er, nachdem alle Eier verkauft waren, wieder abgeholt. Für diese Tätigkeit belohnte ihn seine Patentante fürstlich. Er bekam etwas weniger als die gelernten Verkäuferinnen, was aber eine erhebliche Steigerung zu seinem gewohnten Stundenlohn bedeutete. Jedes Mal, wenn er nach seinen Besuchen bei ihr mit dem Zug wieder nach Hause fuhr, fühlte er sich wie ein kleiner Krösus.

Das Geld, das er als Junge verdiente, brauchte er auch für sein großes Hobby. Neben Fußball interessierten ihn ganz besonders – und nach einer Sportverletzung ausschließlich – seine Tauben. Angefangen hatte es mit ein paar sogenannten Kröpfertauben, die er über einem Rinderstall halten durfte. Die Genehmigung dazu musste seine Tante geben, denn ihr gehörte der Bauernhof. Regelmäßige Gefälligkeiten, die man für sie erledigte, erleichterten ihr die Bewilligung. Seine bald danach aufkeimenden Wünsche nach Brieftauben und einem Taubenschlag im Haupthaus durfte er sich erfüllen, musste aber alles selbst bezahlen und das kostete regelmäßig wiederkehrende Beträge für Schlagausstattung, Futter, Vereinsbeiträge usw.

Weizen und Gerste konnte er von der Tante bekommen, meistens gegen Ausführung verschiedener Arbeiten auf ihrem Hof. Umsonst bekam er nichts und darauf achtete sie peinlichst. Einmal verdächtigte sie ihn, ein Kilogramm Weizen ohne Genehmigung genommen zu haben.

Die Gegenleistung erbrachte er auf der Stelle, denn sie hatte ja recht.

Für den Taubenverein und die Reisevereinigung mehrerer Vereine arbeitete ein Schriftführer genauso wie die übrigen Vorstandsmitglieder ehrenamtlich. Die Erstellung der Preislisten bei den Wettflügen wurde allerdings vergütet. Während der Reisesaison von Anfang Mai bis Mitte September gab es an jedem Sonntag einen Wettflug. Pro teilnehmende Taube wurde ein Betrag von 10 Pfennig einbehalten. Da kam manchmal ein Betrag von bis zu 50 DM zusammen. Dafür musste dann in 10 bis 20 Stunden am zu Ende gehenden Wochenende und am Anfang der neuen Woche die neue Preisliste erstellt werden.

Als der junge Mann, der diese Arbeit machte, die Sonntagnachmittage lieber mit seiner Freundin als mit dieser Beschäftigung verbringen wollte, wurde für ihn ein Nachfolger gesucht.

Die Wahl fiel auf Reiner und so war er für 2 Jahre, obwohl erst 16 Jahre alt und noch nicht zeichnungsberechtigt, Schriftführer des Vereins Rheinwacht Vynen und der Reisevereinigung Xanten und Umgebung. Er machte die Arbeit, die Unterschriften gaben die jeweiligen Vorsitzenden.

Seine Arbeit mit und für die Brieftauben endete mit dem Umzug der Familie.

Mindestens 16 Jahre alt mussten Schüler sein, wenn sie bei den archäologischen Ausgrabungen in Xanten in den Ferien Geld verdienen wollten. Da die Bezahlung dort wegen der Tarifbindung (Tiefbau) wesentlich besser war als alle seine vorherigen Tätigkeiten, meldete Reiner sein Interesse schon ein halbes Jahr vor seinem Stichtag an und wurde auch sofort genommen. Die Arbeit fiel ihm, der es vom Bauernhof her gewohnt war, mit Spaten und Schaufel zu arbeiten, nicht schwer. Im Gegensatz dazu taten sich die Schüler aus den vornehmeren Familien recht schwer. Das fing schon damit an, dass sie nicht wussten, wie man eine Schaufel in die Hände nehmen musste. Je nachdem, ob man Rechts- oder Linkshänder war, ob man nach rechts oder nach links schaufeln musste, muss man das Arbeitsgerät anders anfassen. Ist man Rechtshänder, nimmt man die Schaufel mit der rechten Hand am oberen Ende des Stils und schaufelt nach links, als Linkshänder macht man es umgekehrt. Die Hauptaufgabe bestand nämlich darin, eine spatentiefe Schicht Erde nach der anderen abzustechen, den Inhalt zu untersuchen und die untersuchte Erde wegzuschaufeln oder auf eine Schubkarre zu laden und diese wegzufahren und auszukippen.

Dieselbe Arbeit wie die Schüler machten die dauerhaft angestellten Arbeiter auf der Grabungsstelle. Diese waren altersmäßig zwischen 40 und 65 Jahre einzustufen, waren ungelernte Hilfsarbeiter und hatten fast alle den zweiten Weltkrieg bewusst erlebt. Ihre Gespräche drehten sich eigentlich immer nur um zwei Themen: Kriegserlebnisse und Saufen. Dass sie so viel über ihre Zeit an der Kriegsfront erzählen wollten, lag wohl daran, dass sie das Erlebte bis dahin immer noch nicht verarbeitet hatten. Kein Mensch dachte in der Nachkriegszeit daran, traumatisierte Soldaten zu betreuen, so wie es heute normal geworden ist. Das wiederum führte zu mehr oder weniger unkontrolliertem Alkoholmissbrauch. Sie tranken sich die Welt schön, um zu vergessen.

Jeder Neuankömmling auf der Baustelle wurde vom Vorarbeiter zum Ausgeben einer Flasche Schnaps verdonnert. Wer sich dagegen wehrte, hatte schlechte Karten. Zuerst wurde er nur für die schwereren Arbeiten eingeteilt und für die nächsten Ferien konnte er sich eine erneute Einstellung abschminken.

Reiner erinnert sich an einen Mitarbeiter, einen etwa 60-jährigen großen, starken Mann, der in Xanten wohnte und, wie er sagte, sieben Kinder hatte. Seine offiziellen Kinder. Als etwa 30-Jähriger war er in der Nazizeit einer der auserwählten Arier, der in einem der Lebensbornheime für arischen Nachwuchs sorgen musste. Wenn er dazu etwas zu erzählen hatte, waren die jungen, pubertierenden Burschen ganz hellhörig. Nicht nur Reiner interessierte sich mehr für das sexuelle Geschehen in diesen Heimen als für den politischen Hintergrund, der zur Gründung dieser perversen Zuchtstationen geführt hatte.

Das Schaffen bei dieser staatlichen Stelle empfand Reiner als angenehm und privilegiert. Es war, wenn man – wie er –arbeiten gewohnt war, wesentlich leichter als auf dem Bau. Leider bekam man nicht in allen Ferien einen Job wie gewünscht. Das lag oft daran, dass nicht immer staatliche Mittel für zusätzliche Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Dann gingen die Grabungen halt langsamer voran. Für ihn hieß das, dass er sich etwas anderes suchen musste.

Einmal bekam Reiner in den Semesterferien 1964 für zwei Monate Arbeit beim Landkreis Grevenbroich. Dort unterschrieb er einen regelrechten Arbeitsvertrag als Angestellter mit Bezahlung nach BAT, dem Bundesangestelltentarif. Er sollte als Vorbereitung zum geplanten Braunkohleabbau Feldbegehungen machen und dabei nach alten Besiedlungsspuren suchen. Seine Arbeit bei den Xantener Ausgrabungen reichte als Qualifikation für diesen Job aus. Ohne Führerschein und Fahrzeug war er auf öffentliche Verkehrsmittel und auf gesunde Beine angewiesen. Wohnen konnte er in dieser Zeit bei seiner großen Schwester in Neuss. Von dort zog er jeden Morgen mit einer Handvoll Katasterkarten los, fuhr mit dem Bus oder mit der Bahn zu den vorher mit seiner Chefin abgesprochenen Orten, wo er Flur um Flur nach Scherben und anderen Spuren ehemaliger Siedlungen absuchte. Seine Funde trug er in die genannten Karten ein, die Stellen wurden später noch einmal von einem studierten Archäologen nachuntersucht.

Ein anderes Mal bekam er statt bei den Ausgrabungen nur einen Job in einer Gärtnerei. Die Arbeit selbst war ihm nicht unsympathisch, sie war aber schlechter bezahlt, als er es schon gewohnt war, und für länger als eine Woche wäre es auch langweilig geworden. Er musste nämlich in den Osterferien jeden Tag von morgens bis abends Beet- und andere Edelrosen bis auf 15 Zentimeter zurückschneiden, damit sie sich im Sommer umso schöner entwickeln konnten.

Eine weitere Beschäftigung gab es für ihn in den Sommerferien 1962. Sie war fast genauso gut bezahlt und die Arbeitsstelle war in direkter Nachbarschaft innerhalb des noch nicht abgegrenzten archäologischen Parks in einer Fabrik für Stahlbetonfertigteile. Dort kam er das erste Mal mit gut organisierter Fabrikarbeit in Berührung. Eine Stechuhr hielt die Arbeitszeiten minutengenau fest, jeder hatte seine eigene Schutzkleidung, die Pausen wurden durch Sirenentöne auf die Sekunde genau angezeigt, es gab einen eigenen Aufenthaltsraum mit einem abschließbaren Spind für jeden und einen Waschraum. Waschmittel und Handtücher wurden von der Firma gestellt, kurz, alles war bestens organisiert. Reiner arbeitete die Hälfte seiner letzten Sommerferien als Schüler in der Eisenbiegerei. Er wollte sich für die zweite Hälfte der Ferien – einen Aufenthalt auf Ameland – das nötige Geld verdienen. Seine Mutter konnte ihn dafür nicht unterstützen. Nach der Fertigstellung ihres Hauses steckte sie selbst in den tiefsten Geldnöten.

Die wochenlangen Arbeiten während der Semesterferien waren kurz nach dem Physikum in München aus studientechnischen Gründen nicht mehr möglich. Entweder arbeitete er am praktischen Teil seiner Dissertation, hatte Praktika oder Kurse zu absolvieren oder er schaute sich bei akuter Geldnot mal schnell beim Studentenschnelldienst nach einem Stunden- oder Tagesjob um.

An einen Kurzauftrag erinnert er sich noch gut, weil es eine außergewöhnliche Arbeit war. Im Fernsehen lief der mehrteilige Krimi Melissa, ein richtiger Straßenfeger, über den ganz Deutschland redete und dessen Lösung alle interessierte. Für eine Programmzeitschrift des Burda-Verlags sollte das bis zuletzt gut gehütete Geheimnis vor der letzten Ausstrahlung bildhaft dargestellt werden. Der Regisseur sollte mit dem Drehbuch in der Hand fotografiert werden. Dabei wurde er von vier Polizisten mit Pickelhauben bewacht, um den Täter nicht vorzeitig verraten zu können. Mit drei anderen Studenten kam er also zum Kostümverleih Breuer in der Schwabinger Hohenzollernstraße, wo sie entsprechend eingekleidet wurden. Von dort mit einem Kleinbus in die nicht weit entfernte Niederlassung des Verlags, wo der Regisseur schon auf sie wartete. Die Fotos waren in wenigen Minuten gemacht, der Verdienst für 4 Stunden künstlerische Dienste nicht zu verachten.

Weitaus anstrengender waren die Tage, die Reiner, um das Geld für die Rückfahrkarte nach Xanten an Weihnachten zu verdienen, in der Flaschenabfüllanlage der Spatenbrauerei in der Nähe des Hauptbahnhofs arbeiten musste. Mit immer denselben Handgriffen sollte er die leeren, nicht beschädigten Bierflaschen aus den Kästen vom Fließband nehmen und auf ein anderes Förderband stellen, das die Flaschen zur Waschanlage weitertransportierte. Diese Arbeit war die stupideste, die er in all den Jahren aus der Not heraus angenommen hatte und sie verfolgt ihn bis heute in unangenehmen Träumen.

Bei seiner letzten außerberuflichen Arbeit hatte er das Staatsexamen schon abgeschlossen, hatte seine Dissertation eingereicht, musste aber noch drei Monate bis zur Promotion überbrücken, bevor er in der darauffolgenden Woche am 1. August 1968 seine erste Stelle als Tierarzt antreten konnte. Er hatte einen Job beim Quelle-Versand in Schwabing bekommen. Dort kamen die Retouren der Kunden an, wenn es Reklamationen gab. Die reparierten Teile musste er, zusammen mit mehreren Mitarbeitern, vor der Wiederversendung neu verpacken. Das hatte man ihm in wenigen Stunden beigebracht.

In der Freizeit absolvierte er in dieser Zeit etwa ein Dutzend Fahrstunden und machte seinen Führerschein. Ohne ihn hätte er die Assistentenstelle nicht antreten können.

Für den Tag der Promotion, die Prüfung und die feierliche Überreichung der Urkunde, hatte er sich einen Tag bei Quelle freigenommen.

Reiner Zanten ... eine Lebensgeschichte

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