Читать книгу Reiner Zanten ... eine Lebensgeschichte - Edgar Dahmen - Страница 9
ОглавлениеDie Ley in Vynen
Das Wort Ley findet man nicht im Duden, dem Nachschlagewerk für die deutsche Rechtschreibung.
Auch im Internet sucht man es vergeblich in der Bedeutung, in der Reiner es kannte. Laut Sprachforschung sollte es aus dem Keltischen kommen und so viel wie Stein, Fels oder Klippe bedeuten. Die bekannteste Ley Deutschlands ist dann wohl die Loreley oder der Loreley Felsen.
Unter der Bedeutung eines Baches war es bei Reiner in den Jahrzehnten seines Aufenthalts in Bayern in Vergessenheit geraten. Erst nach seiner Rückkehr in die alte Heimat fand es sich auch in seinem Gedächtnis wieder.
Einen Bach, beziehungsweise zwei Bäche, die sich vereinten, um in Richtung Rheinschleuse zu fließen, gab es auf dem Grund und Boden des Bauernhofes, auf dem Reiner aufwuchs. An drei Stellen des Anwesens konnte das hier Ley genannte Gewässer von landwirtschaftlichen Maschinen und von Großvieh, Kühen und Pferden, überquert werden. Dafür hatte der Bauer vor Jahren Betonrohre mit einem etwa einen Meter großen Durchmesser tief in das Bachbett legen lassen. Darüber wurde mit Bauschutt ein Weg angelegt und schon war die provisorische Brücke fertig. An zwei Stellen überquerten zusätzlich einfache, etwa 30 Zentimeter dicke, 150 Zentimeter lange Holzbalken die ungefähr einen Meter breite Ley. Diese führte das ganze Jahr über mehr oder weniger nur in ganz geringer Geschwindigkeit fließendes Wasser. Reiners älterer Bruder hatte eine Zeitlang – vermutlich vom Wasserwirtschaftsamt – die Aufgabe bekommen, täglich den Pegelstand an immer derselben Stelle einer Brücke mit einer Holzlatte zu messen und in ein Heft einzutragen. Vertretungsweise durfte der Jüngere auch schon mal die Aufgabe übernehmen. Das machte er besonders gern, weil man mit Hilfe der Messlatte wunderbar den Bach überspringen konnte.
Im Winter war die Ley häufig zugefroren und man konnte auf ihr Schlittschuhlaufen. Das nannten sie Schatzen; es wurde aber erst richtig außergewöhnlich, wenn bei gefährlichem Hochwasser des Rheins die Schleuse im Rheindamm geöffnet wurde, so dass die Ley alle angrenzenden Wiesen überflutete. Wenn es dann noch genügend starken Frost gab, konnte man über kilometerlange Flächen bis zum Damm schatzen.
Eishockey ersetzte das im Sommer in den Wiesen übliche Fußballspielen. Die Schlittschuhe wurden an den Hacken unter die Halbstiefel geschraubt, am Vorderfuß durch einen verstellbaren Mechanismus festgestellt. So manch ein Schuh verlor im Eifer des Gefechts seine Absätze, weshalb diese alten Schlittschuhe auch Hackenreißer genannt wurden.
Wenn dann das Hochwasser im Rhein zurückging und es wieder wärmer wurde, floss das in den Wiesen getaute Eiswasser durch die Schleuse zurück ins Flussbett. Die Wiesen wurden durch die jährlichen Überschwemmungen zusätzlich gedüngt.
Mit dem Öffnen der Schleuse war nicht nur Wasser in die Ley gekommen, sondern mit diesem auch die ganze Vielfalt an Fischen, Krabben und Krebsen. Nicht alle von ihnen fanden beim Abfließen auch wieder den Weg zurück in den Rhein.
An den engsten Stellen der Ley – das war an den Brücken – konnte man mit Hilfe einer Reuse Fische fangen. Das hatte ein Nachbar Reiner verraten und ihm sogleich auch so ein altes Fischfanggerät abgegeben. Er legte es nach dessen Anweisung mit der Öffnung gegen die Fließrichtung des Wassers unter die Brücke.
Die am häufigsten gefangenen Fische waren Hechte und Aale. Gleich beim ersten Mal waren zwei gigantische, etwa 60 Zentimeter große Hechte und ein etwa gleich langer Aal in der Reuse gefangen. Beim Anblick dieser Monsterfische stieg sein Blutdruck steil an und sein Herz begann zu rasen. Bisher hatte er nur ein einziges Mal zugesehen, wie der Nachbar die gefangenen Fische tötete; aber jetzt war er allein und niemand konnte ihm helfen. Für einen Zwölfjährigen eine ungewöhnliche, außerordentliche Aufgabe. Als erstes suchte er sich einen handlichen Knüppel. Mit dem wollte er den Fischen auf den Kopf schlagen, sie betäuben, wie der Nachbar ihm erklärt hatte. Danach sollte er mit einem scharfen Messer den Kopf des Tieres abtrennen. Weil er auf die Schnelle nicht wusste, woher er ein solches nehmen sollte, entschied er sich für ein Beil. Mit dem hackte die Tante sonst immer den Hühnern beim Schlachten den Kopf ab.
Er wusste, wie er es machen sollte, die Umsetzung aber gelang nur mit Schwierigkeiten.
Die Hechte blieben nämlich nicht ruhig liegen, zappelten so erheblich und schnappten, so deutete Reiner es zumindest, nach ihrem Mörder. Der Kampf dauerte eine ganze Weile, er sollte waidgerecht geführt werden, was aber nicht besonders gut gelang. Zuletzt lagen die beiden Hechte ganz ruhig da, der Aal jedoch bewegte sich auch ohne Kopf noch ständig. Sogar in der Bratpfanne der Mutter zuckte er noch. Dem Geschmack tat es keinen Abbruch. Auch die Hechte, die an den folgenden Tagen gegessen wurden, schmeckten dank Mutters Kochkünsten ganz hervorragend.
Geradezu stolz auf den ihn unterstützenden Ernährer und auf die Unterbrechung im Speiseplan war Reiners Vater. Die Ernährungssituation hatte sich Mitte der 50er-Jahre zwar etwas entspannt, war aber immer noch heikel, vor allem was die Abwechslung betraf.
Außer Reiner – oft mit seinem jüngeren Bruder – ströpten (durchstreiften) auch die gleichaltrigen Kinder aus den benachbarten kinderreichen Familien im Gebiet der Ley herum. Wenn es um Knickern, Fußball- oder Eishockeyspielen ging, waren sie mehr oder weniger befreundet. Ging es aber beispielsweise um Fische fangen, da misstrauten sie sich gegenseitig und wurden zu Konkurrenten.
Eines Tages war Reiners Reuse verschwunden. Jemand hatte sie unter der Brücke hervorgezogen und mitgenommen. Auf der Fahndung nach ihr suchte er die ganze Ley ab. An der Stelle, wo die Pistley genannte (die Kinder sprachen immer nur von der Pissley) aus Xanten kommend mit der Vynschen Ley zusammenfloss, entdeckte er im Schilf unter Schlingpflanzen einen dort stehenden Hecht. Während er überlegte, wie er dessen habhaft werden könnte, stellte er bei genauerem Hinsehen fest, dass das Tier ja in einer Reuse gefangen war. Es war die seine, die er suchte, das wurde ihm beim Bergen des Gerätes sofort klar.
Die Reuse war wiedergefunden, sogar mit großem Hecht als Inhalt. Das war ein riesiger Triumph.
Leider war es nach dem nächsten Verschwinden der Reuse mit dem Fische fangen vorbei, weil sie endgültig gestohlen und nicht mehr auffindbar war.
Zur Beobachtung der Natur war die Ley für einen interessierten Jungen ganz besonders gut geeignet. Stundenlang saß Reiner bei warmem Wetter auf dem Holzbalken, der über das Wasser führte, und beobachtete alles, was sich dort bewegte. Der Boden der Ley war sehr morastig. Wenn man mit kniehohen Gummistiefeln darin zu waten versuchte, kam es vor, dass man so tief einsank, dass die Stiefel mit Wasser vollliefen. Man hatte, um im damaligen Jargon zu sprechen, Sickse in den Stiefeln. Schon beim kleinsten Versuch, etwas aus dem Schlamm herauszuziehen, entstand sofort eine dunkle Trübung des ansonsten klaren Wassers. Nur gefühlt alle paar Jahre wurde der Schlamm mit den Wasserpflanzen entfernt. Deswegen vermied man jede Berührung mit dem Bachboden, wenn man die Schöpfung beobachten wollte.
Spinnen konnten mit ihren langen Beinen wegen ihrer Leichtigkeit über das Wasser laufen. Die auffälligen Wasserläufer glitten auf der Oberfläche wie Schlittschuhläufer hin und her, warteten darauf, dass ein Insekt aufs Wasser auftraf und fielen über dieses her, töteten es, indem sie es aussaugten.
Blutegel konnte man im Schlamm verschwinden sehen; vor ihnen musste man sich hüten, weil sie sich schon nach kurzem Aufenthalt im Wasser an den nackten Beinen angesaugt hatten und beim Entfernen eine kleine blutende Wunde hinterließen.
Die bräunlichen Molche waren ungefähr 10 Zentimeter groß. Selbstverständlich gehörten sie auch zu den Tieren, die er gerne fangen wollte. Sie waren allerdings so glitschig, dass sie ihm aus der Hand flutschten. Wenn er zu fest zugepackt hatte, ließen sie schon mal den Schwanz in der Hand zurück. Angeblich sollte dieser aber nachwachsen.
Stichlinge sah Reiner meist in Schwärmen auftreten. Diese kleinen Fischchen bewegten sich höchst unruhig und in großer Schnelligkeit. Es war fast unmöglich, sie mit bloßer Hand zu fangen. Wenn man einmal einen erwischt hatte, ließ man ihn gerne wieder los. Sie hatten nämlich dornartige Verstärkungen in der Rückenflosse, die einem tief in die Haut stachen, wenn man versuchte, sie in der geschlossenen Hand zu halten. Zum Fangen verwendeten Reiner und sein Bruder daher gerne das Küchensieb ihrer Mutter, was diese, auf Grund ihrer in Hygiene geschulten Denkweise, gar nicht lustig fand.
Eine Schimpfkanonade konnte die beiden aber nicht von erneuter Benutzung abhalten. In Gedanken hatten sie zwar nach einer anderen Möglichkeit gesucht, der Fischchen habhaft zu werden, kamen aber immer wieder zu dem Ergebnis, dass das Küchensieb nicht zu ersetzen war.
Die gefangenen Stichlinge kippten sie, sofern sie vorher nicht herausgesprungen waren, aus dem Sieb in ein großes Einmachglas. Da konnte man sie gut beobachten.
In so einem Glas fanden sich auch einige Kaulquappen wieder, die sie nach dem Schlüpfen in der Ley gefangen hatten. Die Entwicklung zum Frosch dauerte ein paar Wochen und wenn man regelmäßig das Wasser wechselte, immer wieder frische Wasserpflanzen dazugab, überlebten sie die Gefangenschaft. Ohne tägliche Pflege konnte es passieren, dass die ganze Brut eines Morgens tot im Glas schwamm.
Die Frösche lebten an und in der Ley. Mit einem Sprung ins Wasser retteten sie sich vor den Menschen, wenn man ihnen zu nahe kam. In jedem Frühjahr laichten sie entweder in einem im Obstgarten mit Wasser gefüllten Bombentrichter aus dem zweiten Weltkrieg oder an den Stellen der Ley mit der geringsten Fließgeschwindigkeit. Die Laichklumpen schwammen auf der Wasseroberfläche, die Eier darin waren etwa zwei Millimeter groß und schwarz gefärbt.
Während der Laichzeit und auch noch im Sommer veranstalteten die Wasserfrösche ihre nächtlichen Konzerte. Aus ihren Eiern schlüpften die Kaulquappen, aus denen sich junge Frösche entwickelten. Nur die wenigsten schafften eine vollständige Entwicklung, weil alle Zwischenstufen gerne von Wildenten, Fischen, Kröten und Insekten, insbesondere Wasserläufern und Libellen, gefressen wurden.
Vom Wohnhaus zum Überqueren der Ley führten zwei Wege. Der eine ging durch den Obstgarten rechts am Hühnerstall vorbei zu erwähntem Balken. Auf dem Weg dorthin gab es auch schon einige Möglichkeiten zur Naturerkundung.
An Apfelbäumen waren Jahre nach dem Absägen armdicker Äste an den Schnittstellen häufig Löcher und Höhlen entstanden. Darin brüteten gerne die Spatzen. Man konnte sie beobachten, wie sie beim Nestbau alles Mögliche im Schnabel in die Höhlen hineintrugen. Wenn alles gut ausgepolstert war, legten sie ihre Eier dort hinein und begannen mit dem Brüten. Um frisch gelegte, noch nicht bebrütete Spatzeneier aus dem Baum herauszubekommen, bedurfte es einer besonderen Technik. Mit einem am unteren Ende mit Widerhaken versehenen Stöckchen drehte man das ganze Nest auf und zog es aus der Höhle heraus. Die Eier legte man zur Kontrolle, ob sie wirklich erst vor kurzem gelegt waren, in eine Wasserschüssel. Frische Spatzeneier sinken im Wasser auf den Boden und bleiben liegen, ohne sich aufzurichten. Sie wurden unter Aufsicht der Mutter als Spiegeleier gebraten.
So manche Höhle in den Obstbäumen untersuchte Reiner mit seinem Stöckchen auch, ohne vorher beobachtet zu haben, von welchem Tier oder Vogel sie bewohnt war. Einmal passierte es, dass ein etwas größerer Vogel gleich nach dem Einführen des Stabs herausflatterte und Reiner einen großen Schrecken einjagte. Es handelte sich um einen Steinkauz, den man jeden Abend und in der Nacht an seinem typischen Ruf erkannte. Es gab auch noch andere Eulenarten, die die Nacht beseelten. Reiner konnte sie aber nicht voneinander unterscheiden und er wusste auch nicht, wo sie brüteten.
Der andere Weg zur Ley ging links am Hühnerstall vorbei durch die Kuhweide zur Brücke. Die Kühe hinterließen ihre als Kuhfladen bekannten Ausscheidungen überall, wo sie gerade grasten. Wenn man unaufmerksam war, gerade einen Vogel in der Luft beobachtete, konnte es passieren, dass man mitten hinein trat. Hatte man seine Gummistiefel an, rutschte man aus und kam zu Fall. Das war schlimmer, als wenn man mit nackten Füßen ging. Die empfanden das Treten in einen frischen, noch warmen Fladen als gar nicht so unangenehm. Wenn niemand zuschaute, gehörte es zu Reiners ganz besonderer Belustigung, in die dampfende Kuhscheiße zu treten und zu fühlen, wie diese zwischen den Zehen hindurch quoll.
Das Abwaschen in der Ley war immer schnell geschehen. Dabei kam ihm im Frühjahr einmal eine Wildentenmutter mit fast einem Dutzend noch flauschigen Küken in die Quere. Alle Versuche, eins von ihnen zu fangen, schlugen fehl. Die Kleinen tauchten beim Zugriff sofort ab und kamen erst nach mehreren Metern wieder an anderer Stelle an die Wasseroberfläche zurück. Unglaublich, welchen Instinkt die Natur ihnen schon nach wenigen Tagen geschenkt hatte.
Die Enten brüteten in den Kopfweiden, die dem Laufe der Ley zu beiden Seiten folgten. Zu Beginn der Brutzeit hielt sich auch der väterliche Teil der Entenfamilie in der Nähe des Nestes auf. Irgendwann war er dann verschwunden. Zusammen mit den Jungen war immer nur die Mutter zu sehen.
Die Korbweide, ein typischer Baum des Niederrheins, wird, wenn er eine Höhe von etwa zweieinhalb Metern erreicht hat, am Stamm gekappt. Die dann dort nachwachsenden Triebe werden alle zwei bis drei Jahre abgeschnitten, wodurch die sich wie ein Kopf aussehende Form entwickelt. Daher auch der Name Kopfweide. Die Triebe wurden zum Flechten von Körben verwendet. Wurden sie nicht abgeschnitten, entwickelten sich daraus stärkere Äste, die man je nach Bedarf alle drei bis acht Jahre erntete. Man machte Brennholz aus ihnen oder verwendete sie als Pfosten oder auch als Baumaterial für Wände und Decken von Hütten. Für all das war etwa ab den 1950er-Jahren kaum noch Bedarf. Wenn dann das Schneiden, insbesondere der großen Äste, unterblieb, wurde die Stabilität des Stammes herabgesetzt und als Folge davon entwickelten die Bäume Hohlräume. So entstanden die vielen unterschiedlichen, bizarren Formen der niederrheinischen Korbweiden. Die Höhlen waren gesuchte Brutstätten von Fledermäusen, Eulen, Wildenten sowie von vielen anderen Vogelarten, Tieren und Insekten.
Reiners älterer Bruder hatte die Idee, in so einem hohlen, nach vorne offenen Baum einen Marienaltar anzulegen. Ein Marienbild war auf dem Bauernhof schnell gefunden. Da war die Tante, die Besitzerin des Hofes, sehr behilflich.
Bei allem, was mit Frömmigkeit zu tun hatte und wo das Beten dem Wohle des Hofes dienen konnte, durfte man mit ihrem Wohlwollen rechnen.
Unter das Bild, auf dem die heilige Maria das Jesuskind auf dem Arm trug, wurde eine Vase gestellt. Den ganzen Mai über gingen die Kinder zur täglichen Andacht an die Ley. Auf dem Weg dorthin pflückten sie alles an Blumen und Blümchen, was sie finden konnten. Die frischen Blüten von Wiesenschaumkraut und anderen Pflanzen stellten sie in die Vase, anbeteten und verehrten die heilige Maria.
Das ging solange gut, bis eines Tages das ganze Theater vorbei war.
Das Marienbild und die Vase mit den blühenden Pflanzen waren verschwunden.
Die Nachbarskinder, die ja mindestens ebenso gläubig und katholisch waren, hatten es geklaut.
Vermutlich konnten sie es nicht mit ansehen, dass Reiner und seine Geschwister dem Himmel schon näher waren als sie.