Читать книгу Reiner Zanten ... eine Lebensgeschichte - Edgar Dahmen - Страница 6
ОглавлениеBlinddarmoperationen
Reiners Vater war zweimal verheiratet. Seine erste Frau starb nach der Geburt des zweiten Kindes.
In zweiter Ehe hatte sein Vater fünf Kinder. Reiner, 1944 geboren, war von denen das Zweite.
Ursula, im März 1949 geboren, war ein sehr temperamentvolles Mädchen. Immer lustig, immer in Bewegung, fast immer ein Liedchen auf den Lippen. Noch nicht einmal dreijährig, hatte sie ein Lieblingslied, das sie bei jeder Gelegenheit anstimmte:
Ham’se nicht, ham’se nicht,
ham’se nicht ’nen Mann für mich?
Ja ja ja, wir ha’m verschied’nes da!
Er muss schick sein! Ja ja ja!
Nicht zu dick sein! Nein nein nein!
Mit viel Zaster! Ja ja ja!
Keine Laster! Nein nein nein!
Schön solide! Ja ja ja!
Nicht zu müde! Nein nein nein!
Kurz und klein: Er muss ein Engel sein!
Dieses Liedchen trällerte sie in den verschiedensten Versionen.
Im Herbst des Jahres 1951 wohnte die Familie nach der kriegsbedingten Flucht aus Schlesien noch auf dem Bauernhof der Schwester des Vaters. Dort passierte ein Unfall. Ursula wurde im Wirtschaftsgebäude des Hofes, in dem Heu und Stroh über dem Kuhstall lagerten, von einem herabgeworfenen Strohballen getroffen, stürzte und brach sich ein Bein. Im nächstgelegenen Krankenhaus bekam sie einen Gipsverband. Wenige Tage später, wieder daheim, klagte sie über starke Bauchschmerzen. Der herbeigerufene Hausarzt überwies sie wegen akuter Blinddarmentzündung in dieselbe Klinik zur sofortigen Operation. Die Ärzte dort erkannten nicht die Notwendigkeit eines dringenden Eingriffs und verschoben ihn auf den nächsten Morgen. Sie wollten pünktlich zu ihrem Kegelabend kommen, hieß es später.
Am nächsten Tag war es zu spät.
Über Nacht war es zu einem Durchbruch des vereiterten Wurmfortsatzes in die Bauchhöhle gekommen.
Infolge der Bauchfellentzündung verstarb sie wenige Tage später. Alle waren entsetzt. Der Hausarzt war dermaßen erbost, dass er sich zu der Aussage hinreißen ließ „Wenn wir sie auf dem Küchentisch operiert hätten, würde sie heute noch leben!“
Der Vater lehnte es ab, die Krankenhausrechnung zu bezahlen. Er verweigerte die Begleichung der Liquidation so lange, bis der Gerichtsvollzieher ins Haus kam und einen Kuckuck auf das Radio klebte. Erst auf Drängen der Mutter, die nicht mehr an das Unfassbare erinnert werden wollte, bezahlte er.
Nur wenige Monate danach diagnostizierte derselbe Hausarzt bei Reiner, zu diesem Zeitpunkt fast 8 Jahre alt, ebenfalls eine akute Blinddarmentzündung. Aus verständlichen Gründen sollte er nicht in dasselbe Krankenhaus gebracht werden. Der Hausarzt hatte – nach den Erfahrungen mit Ursula – natürlich auch Angst vor einem Durchbruch und brachte ihn persönlich mit seinem neuen, todschicken Borgward Isabella Cabriolet in ein weiter entfernt liegendes Hospital. So eine privilegierte Behandlung gefiel dem Jungen natürlich. Im Dorf hatte man schon erzählt, dass der Doktor mit 80 Sachen in wenigen Stunden bis nach Frankfurt gefahren sei. Und so genoss er die zwanzig Kilometer bis zum Krankenhaus, so gut es mit den Bauchschmerzen ging.
In der Klinik kam er sofort in ein Krankenzimmer mit mehreren Betten. Auf Anordnung seines Hausarztes wurde umgehend mit den Vorbereitungen zur Operation begonnen. Der Junge wurde gründlich gewaschen und – nachdem der Bauch mit Jodlösung desinfiziert war – sofort in den Operationsraum verbracht. Wegen eines Ätherbauschs auf der Nase kam er mit dem Zählen nicht weit.
Als er mitten in der Nacht wieder wach wurde, lag er in seinem Bett in der Nähe der anderen Patienten, die alle schliefen. Er hatte entsetzlichen Durst und die Operationswunde schmerzte fürchterlich. Insbesondere, wenn er versuchte, sich zu bewegen. Deshalb blieb er lieber auf dem Rücken liegen. Von einer Krankenschwester war weit und breit nichts zu hören und zu sehen. Am liebsten hätte er geschrien, doch alleine das Atmen schmerzte schon höllisch. Wenn der Durst nicht so groß gewesen wäre, hätte er es vielleicht ausgehalten.
Die Zunge klebte am Daumen fest.
Das Waschwasser vom Vorabend stand noch auf dem Nachttisch und er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Es schmeckte zwar nach Seife, aber egal. Fast die ganze Schüssel trank er aus. Dabei hätte er so kurz nach der Operation noch gar nichts trinken dürfen, wie sie ihm später erklärten. Dieses unerlaubte Trinken nur wenige Stunden nach der Operation soll auch der Grund für sein schlechtes Allgemeinbefinden in den nächsten Tagen und für eine verzögerte Wundheilung gewesen sein. Als die Klammern gezogen wurden, klaffte die Wunde jedenfalls noch leicht.
Mehr als 25 Jahre später konnten sich die Ärzte in einem anderen Krankenhaus keinen Reim auf die immer wiederkehrenden Bauchschmerzen des mittlerweile Erwachsenen machen. Sie entschlossen sich zu einer diagnostischen Bauchhöhlenoperation. Die Chirurgen fanden eine Darmverwachsung mit dem Bauchfell und einen kalten Abszess. Eine Folge der durch Selbstverschulden fast missglückten Operation von 1952. Bei der Lösung der Verwachsung brach die papierdünne Darmwand, sodass Darminhalt in die Bauchhöhle gelangte. Über eine Drainage wurde dieser zusammen mit dem Abszess-Inhalt nach außen abgeleitet. Über eine Woche durfte Reiner keine feste Nahrung zu sich nehmen. Erst als im Drainageschlauch keine Sekrete und Exkremente mehr abgeführt wurden, durfte er wieder etwas essen. Er bekam eine Haferschleimsuppe aus der Krankenhausküche. Überglücklich löffelte er mit Heißhunger etwas in sich hinein, was er sonst niemals angerührt hätte. Gerade in dem Moment, als sich im Drainageschlauch wieder Inhalt verschob, kam ein Arzt zur Visite. Sofort zog er den Teller mit der Suppe vom Tablett und es begannen weitere Tage mit Nahrungsverbot. Erst nach Tagen wurde die Drainage entfernt; langsam durfte er wieder beginnen, etwas Festes zu essen.
Somit endete die zweite Blinddarmoperation mit viel Glück mehr als 25 Jahre, nachdem sie begonnen hatte.
Franz, geb. 1947, war der Liebling der Mutter, weil er wegen häufiger Erkrankungen mehr Zuwendung als die älteren Geschwister gebraucht hatte. Aber auch der Liebling des Vaters, weil er schon als Kleinkind so viel Pfiffigkeit bewies, dass man ihm auch kleine Schlechtigkeiten nicht übel nehmen konnte. Franz drückte sich vor der Mitarbeit für die Familie, wann immer es möglich war. Jedes Kind hatte nämlich abwechselnd eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, sonst hätte die Mutter noch zusätzliche Nachtschichten einlegen müssen. Einer musste für die ganze Familie jeden Abend die Schuhe putzen, ein anderer bei der Vorbereitung des Abendessens helfen (es gab nämlich jeden Abend als erstes zum Sattwerden Bratkartoffeln zu essen), wiederum ein anderer hatte das Geschirr zu spülen und meistens auch abzutrocknen.
Wenn die Mutter zusätzliche Aufgaben verteilte, war das in der Familie am häufigsten gehörte Wort: „Immer ich!“
Franz hatte sehr schnell gemerkt, dass Aufgaben meistens nach dem gemeinsamen Mittagessen verteilt wurden und dass man keine Pflichten übernehmen konnte, wenn man nicht anwesend war. Und so kam es, dass er komischerweise immer direkt nach dem Essen mit den Worten „Ich muss mal schnell aufs Klo“ aufstand und auch danach verschwunden war; meistens zum Fußballspielen mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Das Klo war nicht in der Wohnung im ersten Stockwerk, sondern unten im Haus neben der Waschküche.
Dorthin verfolgte Reiner ihn einmal und wartete auf ihn vor der Klotür, damit der Drückeberger nicht wieder abhauen konnte. Der hatte das längst gemerkt und war durch das enge Klofenster verschwunden. Diese und ähnliche Geschichten und Ausreden passierten den Geschwistern mit Franz am laufenden Band. Vor ungeliebten Aufgaben war seine beliebteste Ausrede: „Ich habe Bauchschmerzen.“
Das hatte vor längerer Zeit auch gestimmt, als er sehr krank war und danach meistens erbrechen musste. Dann behandelte ihn die Mutter immer ganz besonders liebevoll und diese natürliche Reihenfolge hatte er sich gemerkt.
Davon wusste aber seine in Bonn lebende, fast zwanzig Jahre ältere Halbschwester nichts. Sie wollte dem etwa Zehnjährigen unbedingt das Schwimmen beibringen lassen. Direkt am Rhein zu leben und nicht schwimmen zu können, das ginge gar nicht, meinte sie.
Zumal im Juni ein Junge aus dem Dorf im Rhein ertrunken war. Franz musste also im August während der Ferien in Bonn jeden Morgen zum Schwimmunterricht. Da kannte die große Schwester kein Pardon. Dort im Viktoriabad kommandierte ihn der Schwimmlehrer ständig herum, was er noch nie leiden konnte und auch in seinem späteren Leben nicht akzeptieren wollte. Um aus dieser für ihn verzwickten Situation herauszukommen, musste er sich etwas einfallen lassen. Am nächsten Morgen hatte er schon vor dem Frühstück starke Bauchschmerzen. Die sollten ihn vor dem Schwimmunterricht bewahren.
Seine Schwester, als junge Assistenzärztin auf dem Venusberg beschäftigt, untersuchte ihn sofort auf dem Sofa. Mit geübten, noch aus dem Studium bekannten Griffen diagnostizierte sie eine Blinddarmentzündung. Es passte gut, dass Franz noch nicht gefrühstückt hatte, so konnte sie ihn zur Notoperation sofort zum Universitätsklinikum mitnehmen. Der diensthabende Arzt äußerte noch seine Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose, hatte aber gegen die Meinung der Schwester keine Chance. Als diese auch noch die Geschichte von der vor einigen Jahren wegen Blinddarmdurchbruchs gestorbenen kleinen Schwester erzählte, gab der Universitätsarzt entnervt auf. Franz wurde operiert.
Es war einer der ersten chirurgischen Eingriffe, der unnötig durchgeführt wurde. Seitdem sind unnötige Operationen in der Medizin häufiger, noch später eher normal geworden.
Die folgende Genesung im Krankenhaus und danach in der Wohnung der Schwester gelang zufriedenstellend. Nach zehn Tagen durfte der Junge wieder nach Hause. Dort ignorierte er das vorläufige Sportverbot und spielte mit den Nachbarskindern Fußball. Dabei platzte die äußere Wundnaht auf.
Ein erneuter Krankenhausaufenthalt war die Folge.
Zum Glück passierte alles in den großen Ferien, sonst …