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Andy atmete erleichtert auf, als Downer gegangen war, der ihm eine so überraschende Nachricht gebracht hatte. Er hatte von Stella weder etwas gesehen noch gehört, seitdem er Beverley verlassen hatte. Es war nur ein Brief von ihrem Vater gekommen, in dem er ihm mitteilte, daß sie sich einen Monat bei Verwandten aufhalten wollte. Kenneth Nelson hatte sich offenbar damit zufriedengegeben. Es wäre Andy nicht schwergefallen, die Personalien des kranken Matrosen feststellen zu lassen, aber er wollte Stella nicht nachspionieren, welches Geheimnis sie auch haben mochte. Noch mehr allerdings haßte er die Unruhe, die ihn befallen hatte, als er in die Stadt zurückgekehrt war. Das Leben hatte viel von seinem Reiz für ihn verloren, seitdem er das Mädchen nicht mehr sah. War er gekränkt? Ja, er war ein wenig verletzt, weil sie mit ihren Sorgen nicht zu ihm gekommen war. Er wünschte, er hätte Downer gefragt, ob sie noch einen Verband trug. Warum hatte sie ihm nicht alles erzählt? Er hatte es erst von anderer Seite hören müssen – und das verletzte ihn.

Der kranke Matrose –? Er zuckte die Schultern. Stella hatte niemandem Rechenschaft abzulegen. Wenn es ihr gefiel, ihre Zeit einem armen Kranken zu widmen, so war das ihre Sache. Und doch war er neugierig, wer dieser Kranke wohl sein mochte. Das redete er sich aber nur ein, denn in Wirklichkeit wollte er Stella wiedersehen.

Er setzte sich hin, um einen Brief an sie zu schreiben. Aber nach drei vergeblichen Versuchen faßte er einen anderen Entschluß. Sie kannte ihn gut genug, daß sie nicht glauben würde, er wolle sie bespitzeln oder etwas gegen sie unternehmen.

Er nahm seinen Hut und machte sich auf den Weg nach der Castle Street. Er wollte zu Fuß gehen. Unterwegs überlegte er, ob er in das Haus gehen solle oder nicht; aber als er vor Nr. 73 angekommen war, zögerte er keinen Augenblick zu klopfen.

Er hörte Stimmen flüstern und Treppen knacken. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür. Stella wurde verlegen, als sie ihn sah.

»Ach!« Zum erstenmal sah er sie verwirrt. »Das ist aber eine Überraschung, Andrew! Wie hast du denn erfahren, daß ich hier bin? Ich machte hier nur einen Besuch.«

Sie war sichtlich nervös. Aber noch seltsamer war es, daß sie mitten in der Türöffnung stand und keine Anstalten machte, ihn hereinzubitten.

»Ich wollte mich einmal nach dir umsehen«, erwiderte Andy ruhig. »Ich habe gehört, daß du hier jemand pflegst.«

»Wer hat dir das gesagt? Vater weiß es doch nicht?« fragte sie schnell.

Sie war rot geworden. Es schien ihr entsetzlich peinlich zu sein, daß er sie in dieser Lage antraf. Niedergeschlagen wandte er sich wieder zum Gehen, aber sie hielt ihn zurück.

»Willst du nicht einen Augenblick warten?«

Sie ging den Gang entlang, trat in ein Zimmer und kam gleich wieder heraus.

»Komm bitte herein. Ich möchte dir meinen Patienten vorstellen.«

Andy zögerte einen Augenblick, dann folgte er ihr. Sie stand im Zimmer und hielt die Tür für ihn offen. Vom Gang aus konnte er nur das Fußende eines Bettes sehen.

»Komm nur herein«, sagte sie noch einmal.

Andy trat näher und wollte seinen Augen nicht trauen, als er den Kranken sah – es war Scottie.

»Donnerwetter!« Andys Staunen war begreiflich.

Scottie sah nicht sehr krank aus und war vollständig angezogen, obwohl er unter einer leichten Decke lag.

»Was ist denn mit Ihnen los, Scottie?«

»Ich habe eine böse Malaria mit allerhand Nebenerscheinungen«, erwiderte Scottie prompt.

»Was fehlt ihm?« wandte sich Andy an Stella.

Sie sah zu Scottie hinüber, dann schaute sie wieder Andy an.

»Ich muß es wohl sagen. Scottie hat sich verletzt und wollte zu keinem Arzt gehen. Ich bin ja Krankenpflegerin. Obwohl es eine schreckliche Wunde war, ist sie doch recht gut geheilt.«

Scottie nickte.

»Stimmt auffallend, Macleod. Bei allem Respekt vor Ihrer Kunst muß ich doch sagen, daß sie der einzige mir bekannte Mensch ist, der ein Wunder getan hat.«

»Sie haben sich also verletzt – doch nicht etwa an der Hand?«

Scottie nickte wieder.

»Vielleicht durch einen Schuß, den ein wütender Hausbesitzer abgab, in dessen Haus eingebrochen wurde?«

»Er hat schon wieder alles herausgebracht«, sagte Scottie ärgerlich. »Ich war zufällig im Park und lief ihm gerade in die Schußlinie.«

»Ich verstehe.« Andy war erleichtert. »Dann waren Sie es also, dessen Hand verletzt wurde. Und Miss Nelson nahm Sie mit auf ihr Zimmer, um Sie zu verbinden. Ich bemerkte aber nichts von Ihrer Verletzung, als Sie damals von Beverley fortgingen.«

»Ich hatte doch meine Hände in die Hosentaschen gesteckt. Ich hatte verdammte Schmerzen, das können Sie mir glauben.«

Stella legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Mr. Scottie war schwer verletzt, und wenn er zu einem Arzt gegangen wäre, hätte das doch allerhand unangenehme Folgen gehabt. Die Polizei suchte doch gerade einen Mann mit einer verletzten Hand.«

»Sie also brachen in Beverley Hall ein?« Andy setzte sich. Er schaute Scottie düster an, der sich aber nicht im mindesten einschüchtern ließ. »Wozu dann all dies Gerede von Ihrer Umkehr?«

»Sie schreitet dauernd fort«, erwiderte Scottie vergnügt. »Ich brauche mich ja jetzt nicht länger zu verstellen. Sie sollen die Wahrheit erfahren, Macleod«, sagte er dann mit überzeugender Offenheit. »Ich hatte die Vermutung, daß der Mann, der Sie und Wilmot damals bedrohte, ein Diener von Beverley Hall war, und ich bin dort hingegangen, um Nachforschungen anzustellen. Ich wollte vor allen Dingen diesen Trauschein wieder zurückholen.«

»Welcher Diener soll es denn gewesen sein?«

»Ich wußte nichts Genaues und weiß auch heute noch nicht, welcher es gewesen ist. Vielleicht wäre es auch besser gewesen, ich hätte mit Ihnen darüber gesprochen, und Sie wären mit Salter der Sache nachgegangen. Ich bin überzeugt, daß es ein Diener von Beverley Hall war. Ich habe ihn nämlich gesehen. Nachdem Sie mir erzählt hatten, was in Wilmots Wohnung passierte, bin ich heimlich aus dem Haus geschlichen und kam auf Salters Gelände. Ich dachte mir schon immer, daß Merrivans Mörder auf diesem Weg entkommen ist. Ich vermutete längst, daß es einer der Parkwächter sein müßte, und das stimmt auch ganz sicher.«

»Was!«

Scottie nickte.

»Sehen Sie, die Parkwächter waren die einzigen, die in der Nacht draußen waren und berechtigt sind, den Park und das Gelände von Mr. Salter zu betreten. Ich erzählte Ihnen doch schon von dem Mann, den ich damals im Obstgarten sah. Ich sagte Ihnen allerdings nicht, daß er wie ein Parkwächter gekleidet war – er trug einen braunen Manchesteranzug und Gamaschen –«

»Warum haben Sie mir denn das nicht gleich gesagt?«

»Weil ich auch einmal ein wenig Detektiv spielen wollte. Es hätte mir einen Heidenspaß gemacht, zu Ihnen zu kommen und zu sagen: ›Macleod, darf ich Ihnen den Mörder Merrivans und Sweenys vorstellen?‹ Das war natürlich verrückt, das gebe ich zu. Aber schließlich war es doch begreiflich.«

»Was hat sich denn in jener Nacht zugetragen?«

»Ich kam in den Park und ging geradenwegs auf das Haus zu. Wenn sich der Bursche, der in Wilmots Wohnung gewesen war, nicht sehr beeilte, mußte ich ihn noch einholen, wenn meine Vermutung richtig war. Und ich habe ihn tatsächlich gesehen! Ich lag hinter einem Gebüsch, als er vorbeikam. Ich hätte meine Hand ausstrecken und ihn berühren können. Aber ich tat es nicht. Er ging direkt ins Haus.«

»Auf welchem Weg?«

»Er kletterte durch ein Fenster, durch dasselbe Fenster, das ich später öffnete, obwohl es nicht so einfach war. Es war kein Licht in dem Raum, als er das Fenster hinter sich schloß. Ich dachte schon, ich hätte seine Spur verloren, aber dann wurde es drinnen hell – die kleine Lampe auf Mr. Salters Schreibtisch brannte.«

»War das in der Bibliothek?«

Scottie nickte.

»Er kehrte mir den Rücken zu und beugte sich über den Tisch, als ob er etwas betrachtete.«

»War es ein Parkwächter?«

»Ja. Aber welcher, hätte ich nicht sagen können. Ich war früher noch nie auf dem Gut, obwohl ich ein paar Kollegen kenne, die schon dort waren.«

Andy starrte ihn an.

»Sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher?«

»Vollkommen. Ich sah ihn nur ein paar Sekunden, er zog eine Schublade auf, dann noch eine andere, und dann drehte er plötzlich das Licht wieder aus. Zuerst verstand ich nicht warum, aber später wurde es mir klar. Ich hatte kaum Zeit, mich zu bücken, als er zum Fenster trat und die Jalousie herunterließ. Gleich darauf brannte das Licht wieder, und es blieb vier bis fünf Minuten hell. Dann wurde es aufs neue dunkel, und ich wartete lange, bevor ich mich rührte. Ich dachte nämlich, daß er aus der Vordertür herauskommen würde. Aber ich irrte mich. Erst nach einer Stunde sah ich, wie er den hinteren Ausgang benützte. Ich schlich Jim das Haus herum und überlegte, was ich nun tun sollte, als sich eine Tür nach dem Hof zu öffnete und ein Mann heraustrat. Aus seiner Kleidung schloß ich, daß es derselbe war wie vorher. Ich beobachtete ihn, bis er außer Sicht kam.«

»Haben Sie denn sein Gesicht nicht gesehen?«

»Dazu war es zu dunkel. Es war aber ein Parkwächter und bestimmt derjenige, den ich vorher schon gesehen hatte – darauf könnte ich schwören. Nachdem er verschwunden war, ging ich wieder zur Hauptfront und versuchte das Fenster zu öffnen, wo er eingestiegen war. Aber er hatte den Riegel von innen vorgeschoben, und es dauerte eine Viertelstunde, bis ich es öffnen konnte. Ich kletterte dann in die Bibliothek. Ich gebe zu, daß ich dort etwas Unordnung gemacht habe, aber ich schwöre Ihnen, Macleod, daß ich keine Wertsachen stehlen wollte. Es ist nicht meine Gewohnheit, in ein Haus einzubrechen, ohne zu wissen, wo die Wertsachen liegen.«

»Das dachte ich mir auch, Scottie, aber ich verstehe nicht, warum Sie in der Bibliothek alles durchwühlt haben?«

»Ich weiß es selbst nicht. Ich habe nur die Vorstellung gehabt, daß der Parkwächter eingebrochen war, um Privatpapiere zu lesen, und ich hätte zu gern herausgebracht, wonach er gesucht hatte.«

»Haben Sie etwas verbrannt?«

»Verbrannt?« fragte Scottie erstaunt. »Nein – wie kommen Sie denn darauf?«

»Erzählen Sie nur weiter.«

»Es ist nicht mehr viel zu erzählen. Ich war töricht genug, im Haus herumzulaufen, und geriet dabei in Salters Schlafzimmer. Ich wünschte, ich hätte die Dummheit nicht begangen«, sagte Scottie reuevoll und betrachtete seine verbundene Hand.

Stella hatte keinen Blick von Andy gewandt. Sie hatte diese Geschichte wieder und wieder gehört und ergänzte nun Scotties Mitteilungen.

»Als Scottie zurückkam und mir alles erzählte, war ich sehr bestürzt. Zuerst dachte ich, er habe selbst eingebrochen, aber als er mir dann erklärte, daß er auf der Spur des Mörders gewesen war, tat ich alles, was in meinen Kräften stand, um ihm zu helfen. Er meinte, man würde ihn verhaften, da sicher alle Ärzte der Umgegend benachrichtigt würden, auf einen Mann mit einer Schußwunde in der Hand zu achten. Mr. Scottie erzählte, daß er ein kleines Haus in London habe, und ich versprach ihm, jeden Tag zu kommen und seine Hand zu verbinden.«

Andy atmete erleichtert auf.

»Nach meiner beruflichen Erfahrung müßte ich Scottie eigentlich für einen Lügner halten, aber ein Gefühl sagt mir, daß er die Wahrheit spricht. Sie beide machen mir fast ebenso viele Schwierigkeiten wie Albert Selim. Können Sie Ihre Hand noch gebrauchen, Scottie?«

»O ja«, entgegnete Scottie mit Genugtuung, »es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß, Macleod, aber meine Hand ist vollständig in Ordnung. Ich bin beinahe wiederhergestellt. Wenn Sie heute nicht gekommen wären, hätten Sie mich nicht mehr gesehen. Und ich wünschte wirklich, Sie hätten von der ganzen Geschichte nichts erfahren.«

»Ich mußte aber kommen«, sagte Andy langsam. »Downer hat Sie hier aufgestöbert, das heißt, er war auf der Spur von Miss Nelson. Wer wohnt übrigens oben?«

Scottie sah einen Augenblick schuldbewußt aus.

»Ein alter Freund von mir«, erwiderte er dann möglichst gleichgültig. »Ein ehemaliger Kollege.«

»Haben Sie ihn in Dartmoor kennengelernt?« fragte Andy ironisch. Scottie lächelte nachsichtig.

»Er ist wirklich nur ein alter Freund von mir. Sie kennen ihn nicht, lassen wir ihn in Ruhe«, fügte er hastig hinzu, »er ist so scheu.«

Andy war taktvoll und fragte nicht weiter.

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