Читать книгу Edgar Wallace - Gesammelte Werke - Edgar Wallace, Edgar Wallace - Страница 35
ОглавлениеDas Geheimnis der gelben Narzissen
1.
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht recht, Mr. Lyne«, sagte Odette Rider und sah den jungen Mann düster an, der an dem Schreibtisch lehnte. Ihre zarte Haut war mit Rot übergossen, und in den Tiefen ihrer versonnenen grauen Augen blitzte ein Blick auf, der jeden anderen gewarnt hätte. Aber Mr. Lyne war so von sich selbst, von dem Eindruck seiner Persönlichkeit und von seiner Begabung überzeugt, daß er glaubte, alle Menschen müßten sich seinen Wünschen fügen.
Er schaute nicht in ihr Gesicht. Seine Blicke glitten über ihre herrliche Gestalt und bewunderten ihre tadellose aufrechte Haltung, den schöngeformten Kopf und die zarten feinen Hände.
Er strich sich das lange schwarze Haar aus der Stirn und lächelte. Er gefiel sich darin, zu glauben, daß seine Züge seine geistigen Fähigkeiten verrieten und daß man seine etwas bleiche Gesichtsfarbe vielem Nachdenken zuschreiben müßte.
Plötzlich blickte er von ihr fort und sah durch das große Innenfenster, von dem aus man die belebten Geschäftsräume der Firma Lyne überschauen konnte.
Er hatte sein Büro in das Halbgeschoß einbauen lassen, und die großen Fenster waren so eingesetzt worden, daß er jederzeit die wichtigste Abteilung seines Geschäftes mit einem Blick kontrollieren konnte.
Ab und zu wandte sich sein Kopf zu seinem Zimmer, und er wußte, daß sich die Aufmerksamkeit all dieser Mädchen auf die kleine Szene konzentrierte, die man vom Erdgeschoß aus gut beobachten konnte.
Auch Odette war sich dieser Tatsache wohl bewußt, und je länger sie bleiben mußte, desto unglücklicher und unbehaglicher fühlte sie sich. Sie machte eine kleine Wendung, als ob sie gehen wollte, aber er hielt sie zurück.
»Sie scheinen mich wirklich nicht richtig verstanden zu haben, Odette«, sagte er mit seiner weichen und melodischen Stimme.
»Haben Sie mein kleines Buch gelesen?« fragte er plötzlich.
»Ja, ich habe – Verschiedenes darin gelesen«, erwiderte sie, und ihre Wangen färbten sich noch röter.
Er lachte.
»Sie finden es sicher sehr interessant, daß ein Mann in meiner Stellung sich damit abgibt, Gedichte zu schreiben. Aber Sie können sich ja denken, daß das meiste geschrieben wurde, bevor ich die Leitung dieses Geschäftes übernahm – bevor ich Kaufmann wurde!«
Sie antwortete nicht, und er sah sie erwartungsvoll an.
»Was halten Sie denn von den Gedichten?« fragte er nach einer kurzen Pause.
Ihre Lippen zitterten, aber wieder verstand er dieses Zeichen falsch.
»Ich halte sie für entsetzlich«, sagte sie leise, »ich finde kein anderes Wort dafür!«
Er runzelte die Stirn.
»Was Sie doch für ein mittelmäßiges und schlechtes Urteil haben, Miss Rider«, entgegnete er ärgerlich. »Diese Verse werden von den besten Kritikern des Landes mit den schönsten Gedichten der alten Hellenen verglichen.«
Sie wollte sprechen, aber sie beherrschte sich und preßte die Lippen zusammen.
Thornton Lyne zuckte die Schultern und ging in dem mit größtem Luxus ausgestatteten Büro auf und ab.
»Natürlich, die große Masse beurteilt Poesie wie Gemüse«, sagte er nach einer Weile. »Sie müssen sich noch etwas Bildung aneignen, besonders in Literatur. Es wird noch eine Zeit kommen, in der Sie mir dankbar sind, daß ich Ihnen eine Gelegenheit gab, schöne Gedanken in schöner Sprache kennenzulernen.«
Sie schaute ihn an.
»Kann ich jetzt gehen, Mr. Lyne?«
»Noch nicht«, erwiderte er kühl. »Sie sagten vorhin, daß Sie mich nicht verstehen könnten. Ich möchte es Ihnen noch einmal etwas deutlicher sagen. Sie sind, wie Sie auch wohl selbst wissen, ein sehr schönes Mädchen. Später werden Sie, wie das in Ihrem Stande so üblich ist, einen Mann mit Durchschnittsverstand und ohne große Bildung heiraten, und Sie werden an seiner Seite ein Leben führen, das in vieler Beziehung dem einer Sklavin ähnelt. Das ist das Schicksal aller Frauen des Mittelstandes, wie Ihnen bekannt sein wird. Wollen Sie auch dieses Los teilen, nur weil irgendein Mann mit schwarzem Rock und weißem Kragen gewisse Worte zu Ihnen spricht, Worte, die weder Bedeutung noch Schicksalsbestimmung für intelligente Menschen haben? Ich würde Ihnen niemals zumuten, eine solche närrische Zeremonie durchzumachen, aber ich würde alles daransetzen, Sie glücklich zu machen.«
Er ging auf sie zu und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zurück, und er lachte.
»Was sagen Sie nun dazu?«
Sie wandte sich plötzlich um, ihre Augen blitzten, aber sie hatte ihre Stimme in der Gewalt.
»Ich bin zufällig eines jener törichten jungen Mädchen aus der Vorstadt, die den Worten bei der Trauung, von denen Sie eben so verächtlich sprachen, großen Wert beilegen. Allerdings bin ich auch großzügig genug, um zu wissen, daß die bloße Trauungszeremonie die Menschen weder glücklicher noch unglücklicher macht. Aber ob es sich nun um Ehe oder irgendeine andere Form von Beziehungen handelt, unter allen Umständen soll der Mann, dem meine Liebe gehört, ein ganzer Mann sein.«
Er sah sie gereizt an.
»Was wollen Sie damit sagen?« Seine Stimme war nicht mehr so weich und einschmeichelnd wie vorher.
Odette kämpfte mit den Tränen, aber sie beherrschte sich noch einmal.
»Mir ist ein so haltloser Mensch zuwider, der entsetzliche Gedanken und Gefühle in nichtssagende Verse bringt. Ich wiederhole Ihnen noch einmal, daß ich nur einen Mann lieben kann.«
Sein Gesicht zuckte.
»Wissen Sie auch, zu wem Sie sprechen?« fragte er mit erhobener Stimme.
Ihr Atem ging schnell.
»Ich sprach zu Thornton Lyne, dem Eigentümer der Firma Lyne, dem Chef Odette Riders, die jede Woche drei Pfund Gehalt von ihm erhält.«
Er war wütend und konnte vor Aufregung kaum sprechen.
»Hüten Sie sich«, rief er.
»Ich spreche zu einem Menschen, dessen ganzes Leben einen Vorwurf für einen wirklichen Mann bedeuten würde!« Sie sprach jetzt schnell und hemmungslos. »Sie sind ein Mensch, der unaufrichtig ist und ein luxuriöses Leben führt, weil sein Vater ein großer Geschäftsmann war, der das Geld mit vollen Händen ausgibt, das bessere Männer durch harte Arbeit für ihn erworben haben. Ich lasse mich nicht von Ihnen einschüchtern«, rief sie zornig, als er auf sie zutrat. »Ich werde meine Stellung aufgeben, und zwar noch heute.«
Thornton Lyne war durch ihre Verachtung aufs tiefste verletzt und gedemütigt. Plötzlich kam ihr das auch zum Bewußtsein, sie bedauerte ihre heftigen Worte und wollte sie bis zu einem gewissen Grade wiedergutmachen.
»Es tut mir leid, daß ich so hart war«, sagte sie freundlich, »aber Sie haben mich herausgefordert, Mr. Lyne.«
Er konnte nicht sprechen und wies nur schweigend mit dem Kopf zur Tür.
Odette Rider verließ das Zimmer, und Mr. Lyne trat an eins der großen Fenster. Er sah ihr nach, wie sie mit gesenktem Blick langsam durch die Reihe des Personals schritt und an der anderen Seite die drei Stufen hinaufstieg, die zu dem Büro der Hauptkasse führten.
»Dafür sollst du noch büßen!« zischte er zwischen den Zähnen hervor.
Er war über alle Maßen beleidigt und gekränkt. Er war der Sohn eines reichen Mannes, der stets behütet und beschützt wurde und nichts von dem harten Kampf ums Dasein erfuhr. Er war nicht in einer öffentlichen Schule unterrichtet worden, wobei er ja mehr mit der Umwelt und anderen Menschen zusammengekommen wäre, sondern er hatte Privatschulen besucht, in denen nur die Söhne der Reichsten aufgenommen wurden. Stets hatte er nur Schmeichler und Leute um sich gehabt, die von seinem Reichtum profitieren wollten. Niemals waren er und seine Handlungen der scharfen Kritik gerechter Lehrer und Erzieher ausgesetzt worden. Nur eine minderwertige Presse hatte seine literarischen Erzeugnisse über alle Maßen gelobt und dementsprechend Nutzen daraus gezogen.
Er biß sich auf die Lippen, ging zu seinem Schreibtisch und klingelte. Gleich darauf trat seine Sekretärin ein, die er vorher fortgeschickt hatte.
»Ist Mr. Tarling gekommen?«
»Ja, Mr. Lyne, er wartet schon seit einer Viertelstunde im Sitzungszimmer.«
Er nickte.
»Danke schön.«
»Soll ich ihn rufen?«
»Nein, ich werde selbst zu ihm gehen«, entgegnete Lyne.
Er nahm eine Zigarette aus seinem goldenen Etui und steckte sie an. Seine Nerven waren durch die letzte Unterredung etwas angegriffen, und seine Hand zitterte, aber der Sturm in seinem Innern legte sich allmählich, denn es kam ihm ein Gedanke. Tarling? Welch eine glänzende Möglichkeit, dieser Mann, dem ein Ruf von Genialität und unheimlicher Klugheit vorausging! Dieses plötzliche Zusammentreffen war einfach großartig.
Mit schnellen Schritten eilte er den Gang entlang, der sein Privatbüro mit dem Sitzungszimmer verband, und trat mit ausgestreckten Händen in den großen Raum.
Der Mann, den er so liebenswürdig begrüßte, konnte ebensogut siebenundzwanzig als auch siebenunddreißig sein. Er war groß, schlank und eher geschmeidig als stark. Sein Gesicht hatte eine dunkelbraune Farbe, und seine blauen Augen, mit denen er Lyne ansah, waren fest und undurchdringlich. Das war der erste Eindruck, den Lyne von ihm hatte.
Tarling drückte Lyne die Hand und war unangenehm berührt, denn sie war so weich wie eine Frauenhand. Nach der Begrüßung entdeckte Lyne noch einen dritten in dem Raum. Er war unter Mittelgröße und saß im Schatten eines Wandpfeilers. Auch er erhob sich und verneigte sich kurz.
»Haben Sie einen Chinesen mitgebracht?« fragte Lyne und betrachtete den Mann neugierig. »Ach, beinahe hätte ich ja vergessen, daß Sie gerade aus China kommen. Aber bitte, nehmen Sie Platz.«
Auch Lyne zog sich einen Stuhl heran und hielt Tarling sein Zigarettenetui hin.
»Den Auftrag, den ich Ihnen geben möchte, will ich später mit Ihnen besprechen«, sagte Lyne. »Ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich durch die Zeitungsartikel, die ich über Sie las, sehr von Ihnen eingenommen bin. Sie haben doch neulich die Juwelen der Herzogin von Henley wieder aufgefunden? Auch habe ich schon früher viel von Ihnen gehört, als ich in China war. Soviel ich weiß, sind Sie nicht bei Scotland Yard angestellt?«
»Nein, ich war wohl einer der höheren Polizeibeamten in Schanghai und hatte auch bei meiner Rückkehr nach England die Absicht, bei der hiesigen Polizeidirektion einzutreten. Aber es ereignete sich allerhand, was mich veranlaßte, meine eigene Detektivagentur aufzumachen. Ich hätte in Scotland Yard nicht so viel freie Hand gehabt, wie ich es brauche!«
»In ganz China erzählte man sich damals von den Heldentaten Jack Oliver Tarlings. Die Chinesen nannten Sie ›Lieh Jen‹, den Menschenjäger.«
Lyne beurteilte alle Leute von seinem eigenen Standpunkt aus und sah in dem Mann, der ihm gegenübersaß, schon ein brauchbares Werkzeug und aller Wahrscheinlichkeit nach einen wertvollen Bundesgenossen.
Die Geheimpolizei in Schanghai hatte nach allem, was man von ihr hörte, ihre eigenen Methoden und machte sich keine großen Gewissensbisse darüber, ob ihre Handlungsweise auch genau mit dem Buchstaben des Gesetzes übereinstimmte. Ja, man wollte sogar wissen, daß der Menschenjäger seine Gefangenen gefoltert hatte, wenn er hierdurch Geständnisse erzwingen konnte, um größeren und schwereren Verbrechen auf die Spur zu kommen. Lyne kannte nicht alle Legenden über den Menschenjäger, auch konnte er bei den Geschichten, die über den berühmten Detektiv erzählt wurden, nicht das Wahre vom Falschen unterscheiden.
»Ich weiß wohl, warum Sie nach mir geschickt haben«, meinte Tarling. Er sprach langsam und überlegt. »Sie haben mir in Ihrem Brief die Aufgabe ja schon in großen Umrissen angedeutet. Sie verdächtigen einen Ihrer Leute, der seit Jahren die Firma durch große Unterschlagungen geschädigt hat. Es handelt sich um einen gewissen Mr. Milburgh, Ihren Hauptgeschäftsführer.«
»Ich möchte, daß Sie diese ganze Geschichte erst einmal vergessen, Mr. Tarling«, sagte Lyne leise. »Ich werde Ihnen Milburgh jetzt vorstellen, er kann uns wahrscheinlich bei meinem Plan sehr gut helfen. Ich will nicht behaupten, daß er ein ehrlicher Mensch ist, auch nicht, daß mein Verdacht gegen ihn unbegründet ist, aber im Augenblick beschäftigt mich viel Wichtigeres, und ich wäre Ihnen zu Dank verbunden, wenn Sie die ganze Sache mit Milburgh vorläufig hintenanstellen. Ich werde ihn jetzt holen lassen.«
Er ging zu einem langen Tisch, nahm den Telefonhörer ab und sprach zu der Vermittlung:
»Bestellen Sie Mr. Milburgh, daß er zu mir in das Sitzungszimmer kommen soll.«
Dann ging er zu seinem Besucher zurück.
»Die Sache mit Milburgh kann warten. Ich weiß noch nicht genau, ob ich noch einmal darauf zurückkommen werde. Haben Sie überhaupt schon mit Ihren Nachforschungen begonnen? Wenn das der Fall sein sollte, so sagen Sie mir bitte das Hauptsächlichste, bevor Milburgh kommt.«
Tarling nahm eine kleine weiße Karte aus seiner Tasche und warf einen Blick darauf.
»Welches Gehalt bekommt Milburgh bei Ihnen?«
»Neunhundert Pfund im Jahr«, erwiderte Lyne.
»Er gibt aber etwa fünftausend aus«, entgegnete Tarling. »Wenn ich meine Nachforschungen fortsetze, wird sich diese Summe vielleicht noch vergrößern. Er hat ein Haus oberhalb des Stroms, gibt große Gesellschaften –«
Lyne winkte ungeduldig mit der Hand ab.
»Wir wollen das doch lieber bis später lassen. Ich habe im Augenblick, wie ich schon sagte, eine viel größere Aufgabe für Sie. Milburgh mag ein Dieb sein –«
»Haben Sie nach mir verlangt, Mr. Lyne?«
Lyne wandte sich schnell um. Die Tür hatte sich geräuschlos geöffnet. Auf der Schwelle stand ein Mann, der heuchlerisch lächelte und sich dauernd die Hände rieb, als ob er sie mit unsichtbarer Seife wüsche.