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9.

Wo war Odette Rider? Diese Frage mußte unter allen Umständen geklärt werden. Sie war verschwunden, als ob die Erde sie verschlungen hätte. Alle Polizeistationen des Landes fahndeten nach ihr. Alle Schiffe, die von englischen Häfen ausfuhren, wurden überwacht, überall, wo man sie hätte finden können, wurden unauffällig Nachforschungen angestellt. Das Haus ihrer Mutter wurde ununterbrochen beobachtet.

Tarling hatte eine Vertagung der Leichenschau durchgesetzt. Welche Gefühle er auch gegen Odette Rider hegen mochte, er war objektiv und wollte zuerst seiner Pflicht gegen den Staat genügen. Es war vor allen Dingen notwendig, daß kein neugieriger Richter den Fall und alle Nebenumstände, die zu Thornton Lynes Tod geführt hatten, zu gründlich prüfte, bevor die Untersuchung nicht weitere Fortschritte gemacht hatte. Bei der jetzigen Lage der Dinge wäre der Verbrecher durch die Aufrollung der ganzen Angelegenheit nur unnötig gewarnt worden.

In Begleitung des Inspektors Whiteside durchsuchte er aufs neue eingehend Odettes Wohnung, die durch den großen Blutfleck auf dem Teppich zweifellos als Tatort anzusprechen war. Der blutige Daumenabdruck an der weißen Schublade war fotografiert worden und sollte mit einem Daumenabdruck Odette Riders verglichen werden, sobald man ihrer habhaft war.

Carrymore Mansions wo Odette Rider wohnte, war ein großes Haus mit vielen vornehmen Wohnungen. Im Erdgeschoß lagen Läden, und die Eingänge zu den Privatwohnungen befanden sich jedesmal zwischen zwei Schaufenstern. Treppen führten zu dem etwas erhöhten Kellergeschoß. Hier lagen sechs Wohnungen, deren Fenster auf den engen Hof hinausgingen.

Die Mitte dieses Kellergeschosses bestand aus einem großen betonierten Lagerraum. Um diesen herum sah man kleine, quadratische Kellerräume, in denen die Mieter Möbel und Gepäckstücke, die nicht gebraucht wurden, abstellen konnten. Tarling entdeckte, daß es möglich war, von dem Gang des Kellergeschosses in den Vorratsraum und von hier aus durch eine kleine Tür auf der Rückseite zu dem hinteren Hof zu kommen. Ein verhältnismäßig großes Tor vermittelte den Zugang zur Straße. Es war hier angebracht worden, damit die Bewohner auf bequeme Weise mit Kohlen, Brennmaterial und anderen Vorräten beliefert werden konnten. In der kleinen Straße, die hinter dem Haus vorbeiführte, lagen etwa ein Dutzend Ställe, die alle an eine Taxigesellschaft verpachtet waren und ständig als Garagen benützt wurden.

Wenn der Mord in der Wohnung geschehen war, mußte die Leiche auf diesem Weg in die hintere Straße gebracht worden sein. Hier hätte ja auch ein wartender Wagen wenig Aufsehen erregt. Tarling stellte Nachforschungen bei den Angestellten der Autofirma an, von denen einige in den Räumen über den Garagen wohnten, und konnte feststellen, daß der Wagen von verschiedenen Leuten in der betreffenden Nacht beobachtet worden war. Diese Tatsache war bei der ersten polizeilichen Untersuchung vollständig übersehen worden.

Lynes Wagen war ein Zweisitzer von auffallend gelber Farbe, der schwer mit einem anderen Auto hätte verwechselt werden können. Man hatte ihn ja auch in der Nähe der Leiche verlassen aufgefunden. Er war in der Mordnacht zwischen zehn und elf Uhr beobachtet worden. Aber obgleich Tarling sich die allergrößte Mühe gab und viele Verhöre anstellte, fand sich doch niemand, der Lyne persönlich gesehen hätte, auch hatte niemand bemerkt, wie der Wagen ankam oder wie er abfuhr.

Der Portier wurde verhört und gab die eindeutige Auskunft, daß zwischen zehn und halb elf niemand durch den Haupteingang des Gebäudes gekommen war. Zwischen halb und dreiviertel elf mochte jemand gekommen sein, denn um diese Zeit war er in seinen Raum gegangen und hatte sich umgezogen, bevor er nach Hause ging. Sein Zimmer lag unter der ansteigenden Treppe, so daß er von dort niemand sehen konnte. Gewöhnlich schloß er die Haustür um elf Uhr. Was später geschah, konnte er natürlich nicht mehr beobachten. Er gab allerdings zu, daß er an jenem Abend vielleicht kurz vor elf gegangen war, aber er wußte auch das nicht mehr genau.

»Seine Aussage kann uns nicht viel helfen«, bemerkte Whiteside. »Gerade in der Zeit, als der Mörder das Haus betreten haben kann, nämlich zwischen halb und dreiviertel elf, war er nicht auf seinem Posten.«

Tarling nickte. Er hatte eine genaue Untersuchung aller Keller, der Gänge und des hinteren Hofes vorgenommen, aber nirgends hatte er eine Blutspur entdeckt. Er hatte das allerdings auch nicht erwartet, denn es war ganz klar, daß das seidene Gewand Blutspuren beim Transport der Leiche verhinderte.

»Eines steht meiner Meinung nach fest. Odette Rider muß einen Helfer gehabt haben, wenn sie überhaupt den Mord beging. Es ist unmöglich, daß sie diesen verhältnismäßig schweren Mann allein ins Freie trug. Auch hätte sie ihn weder allein in den Wagen heben noch ihn dann wieder herausziehen und auf den Rasen tragen können.«

»Ich weiß immer noch nicht, was eigentlich die gelben Narzissen auf seiner Brust zu bedeuten haben. Und wenn er hier ermordet wurde, warum machte sie sich dann die Mühe, die Blumen auf die Brust zu legen?«

Tarling schüttelte den Kopf. Er war der Lösung dieses Rätsels näher, als der andere ahnte.

Als sie die Wohnung durchsucht hatten, fuhren sie zusammen nach Hydepark, und Whiteside zeigte ihm die Fundstelle in der Nähe eines Fahrweges. Er erklärte ihm auch die Lage der Leiche. Tarling schaute sich um und stieß plötzlich einen unterdrückten Schrei aus.

»Sehen Sie einmal dorthin!« Er zeigte auf ein Blumenbeet. Whitesides Blick folgte seiner ausgestreckten Hand, und er begann zu lachen.

»Es ist doch merkwürdig! Wir scheinen bei diesem Mord nichts anderes als gelbe Narzissen zu sehen!«

Tarling ging zu dem großen Blumenbeet, das ganz mit gelben Narzissen bedeckt war, deren zierliche Kelche in der leichten Frühlingsbrise hin und her schwankten.

»Hm«, sagte Tarling. »Wissen Sie mit gelben Narzissen Bescheid, Whiteside? Kennen Sie die verschiedenen Arten?«

Whiteside schüttelte lachend den Kopf.

»Für mich sind alle Narzissen gleich. Gibt es dabei überhaupt Unterschiede?«

Tarling nickte. »Diese Sorte heißt Goldsporen«, erklärte er fachmännisch.

»Es ist eine Sorte, die man in England sehr häufig findet. Die Blumen in Miss Riders Wohnung dagegen heißen Kaisernarzissen.«

»Nun? Welchen Schluß ziehen Sie daraus?«

»Die Narzissen, die auf Lynes Brust gefunden wurden, waren Goldsporen.«

Er kniete neben dem Beet nieder, bog die Stauden auseinander und betrachtete die Pflanzen genau.

»Sehen Sie hier.« Er zeigte auf mehrere abgebrochene Stengel.

»Hier sind die Narzissen gepflückt worden, darauf möchte ich einen Eid leisten. Sie sind alle mit einem Griff abgerissen worden.«

»Es können aber auch unnütze Buben hier Blumen abgerupft haben.«

Whiteside sah ihn zweifelnd an.

»Blumendiebe pflegen nur einzelne Blüten abzubrechen«, entgegnete Tarling. »Die meisten Leute, die das tun, vermeiden es sorgfältig, an einer Stelle zu viele abzupflücken, damit es den Parkwächtern nicht auffällt.«

»Dann vermuten Sie also –«

»Ich vermute, daß der Täter – mag es nun ein Mann oder eine Frau sein – aus irgendeinem Grund, den wir vorläufig noch nicht kennen, die Leiche mit Blumen schmückte. Und er nahm die Blumen von diesem Beet.«

»Nicht aus der Wohnung von Odette Rider?«

»Nein«, erwiderte Tarling nachdenklich. »Mir war das schon klar, als Sie mir die Blumen in Scotland Yard zeigten.«

Whiteside fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Je weiter wir mit der Aufklärung dieses Falles kommen, desto rätselhafter wird mir die Sache. Also haben wir hier einen reichen Mann, der offensichtlich keine Todfeinde hatte. Er wird eines Morgens im Hydepark aufgefunden, das Nachthemd einer Dame ist um seine Brust geschlungen, er hat Filzschuhe an, in seiner Tasche findet man einen Zettel mit einer chinesischen Inschrift – und obendrein ist ein Strauß gelber Narzissen auf seine Brust gelegt. So etwas kann nur eine Frau getan haben«, fügte er plötzlich hinzu.

Tarling sah ihn groß an.

»Warum meinen Sie das?«

»Nur eine Frau konnte dem Toten Blumen auf die Brust legen«, sagte Whiteside ruhig. »Diese gelben Narzissen sprechen von Mitgefühl und Mitleid – vielleicht auch von Reue.«

Tarling lächelte unmerklich.

»Mein lieber Whiteside, nun werden Sie sentimental.« Er blickte auf. »Sehen Sie einmal, wie von diesem Platz angezogen, taucht wieder der Herr auf, den ich überall treffen muß – Mr. Milburgh.«

Milburgh war plötzlich stehengeblieben, als er die beiden Detektive bemerkte. Man konnte ihm ansehen, daß er am liebsten unbemerkt verschwunden wäre. Aber Tarling hatte ihn bereits entdeckt, und so kam er nun in einem merkwürdig schleichenden Gang näher. Obwohl er seine Verlegenheit unter einem Lächeln zu verbergen suchte, erkannte Tarling doch den ängstlichen, unsicheren Blick wieder, den er schon früher einmal an ihm beobachtet hatte.

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte Milburgh und grüßte die beiden, indem er den Hut abnahm. »Etwas Neues ist wohl noch nicht entdeckt worden?«

»Auf jeden Fall hatte ich nicht erwartet, Sie heute morgen hier zu entdecken!« erwiderte Tarling mit einem spöttischen Lächeln. »Ich dachte, Sie hätten im Geschäft genug zu tun.« Milburgh fühlte sich unbehaglich.

»Dieser Ort übt eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus«, sagte er dann heiser. »Immer wieder treibt es mich, hierher zu kommen.«

Als Tarling ihn scharf ansah, senkte er verlegen den Blick.

»Haben Sie irgendwelche neuen Nachrichten über den Täter?« fragte er wieder.

»Das möchte ich Sie fragen«, entgegnete Tarling ruhig.

Milburgh sah ihn nervös an.

»Sie meinen doch nicht etwa Miss Rider?« fragte er. »Nein, Mr. Tarling, es hat sich nichts gefunden, was gegen sie spräche. Ich kann aber ihren gegenwärtigen Aufenthalt nicht feststellen, obgleich ich mir die größte Mühe gegeben habe. Es ist wirklich beunruhigend.«

Tarling bemerkte eine Änderung in seinem Verhalten. Er konnte sich noch sehr gut darauf besinnen, wie Milburgh Lyne gegenüber zuerst entschieden in Abrede stellte, daß Odette gestohlen haben könne. Aber jetzt war er ihr irgendwie feindlich gesinnt, der Unterton in seiner Stimme sagte Tarling genug.

»Glauben Sie denn, daß Miss Rider Grund hatte zu fliehen?«

Milburgh zuckte die Schultern.

»In dieser Welt«, meinte er salbungsvoll, »wird man immer von denen am meisten getäuscht, denen man das größte Vertrauen geschenkt hat.«

»Sie wollen also damit sagen, daß Sie Miss Rider im Verdacht haben, daß sie die Firma beraubt hat?«

Aber sogleich erhob Milburgh abwehrend seine großen Hände.

»Nein, das will ich nicht behaupten. Ich möchte eine junge Dame nicht anklagen, daß sie ihre Vorgesetzten in einer solchen Weise betrogen hat, und ich lehne es ausdrücklich ab, irgendwelche Anschuldigungen zu erheben, bevor die Bücherrevisoren nicht ihre Arbeit beendet haben. Zweifellos«, fügte er hinzu, »hat Miss Rider große Summen in der Hand gehabt und war zuerst von allen Damen an der Kasse in der Lage, irgendwelche Unterschlagungen zu machen, ohne daß ich oder Mr. Lyne es gleich hätten merken können. Aber dieses teile ich Ihnen nur im Vertrauen mit.«

»Haben Sie keine Ahnung, wo sie sein könnte?«

Milburgh schüttelte den Kopf.

»Das einzige, was ich –«, er zögerte und sah Tarling unsicher an.

»Nun, was wollten Sie sagen?« fragte der Detektiv ungeduldig.

»Es ist allerdings nur eine Vermutung von mir, daß sie vielleicht außer Landes gegangen ist. Ich möchte unter keinen Umständen diese Behauptung aufstellen, ich weiß nur, daß sie sehr gut französisch sprach und auch schon früher auf dem Festland war.«

Tarling schaute ihn nachdenklich an.

»Nun, in diesem Fall muß ich eben den Kontinent absuchen lassen. Denn ich bin fest entschlossen, Odette Rider aufzufinden.«

Er winkte seinem Assistenten und drehte sich kurz um. Mr. Milburgh schaute betroffen hinter ihm her.

Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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