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[5]Analyse der Wahrnehmung1 [3] 1. Originalbewusstsein und perspektivische Abschattung der Raumgegenstände

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Die äußere Wahrnehmung ist eine beständige Prätention, etwas zu leisten, was sie ihrem eigenen Wesen nach zu leisten außerstande ist. Also gewissermaßen ein Widerspruch gehört zu ihrem Wesen. Was damit gemeint ist, wird Ihnen alsbald klarwerden, wenn Sie schauend zusehen, wie sich der objektive Sinn als Einheit 〈in〉 den unendlichen Mannigfaltigkeiten möglicher Erscheinungen darstellt und wie die kontinuierliche Synthese näher aussieht, welche als Deckungseinheit denselben Sinn erscheinen lässt, und wie gegenüber den faktischen, begrenzten Erscheinungsabläufen doch beständig ein Bewusstsein von darüber hinausreichenden, von immer neuen Erscheinungsmöglichkeiten besteht.

Worauf wir zunächst achten, ist, dass der Aspekt, die perspektivische Abschattung, in der jeder Raumgegenstand unweigerlich erscheint, ihn immer nur einseitig zur Erscheinung bringt. Wir mögen ein Ding noch so vollkommen wahrnehmen, es fällt nie in der Allseitigkeit der ihm zukommenden und es sinnendinglich ausmachenden Eigenheiten in die Wahrnehmung. Die Rede von diesen und jenen Seiten des Gegenstandes, die zu wirklicher Wahrnehmung kommen, ist unvermeidlich. Jeder Aspekt, jede noch so weit fortgeführte Kontinuität von einzelnen Abschattungen gibt nur Seiten, und das ist, wie wir uns überzeugen, kein bloßes Faktum: Eine äußere Wahrnehmung [6]ist undenkbar, die ihr Wahrgenommenes in ihrem sinnendinglichen Gehalt erschöpfte, ein Wahrnehmungsgegenstand ist undenkbar, der in einer abgeschlossenen Wahrnehmung im strengsten Sinn allseitig, nach der Allheit seiner sinnlich anschaulichen Merkmale gegeben sein könnte.

[4] So gehört zum Urwesen der Korrelation äußere Wahrnehmung und körperlicher »Gegenstand« diese fundamentale Scheidung von eigentlich Wahrgenommenem und eigentlich Nichtwahrgenommenem. Sehen wir den Tisch, so sehen wir ihn von irgendeiner Seite, und diese ist dabei das eigentlich Gesehene; er hat noch andere Seiten. Er hat eine unsichtige Rückseite, er hat unsichtiges Inneres, und diese Titel sind eigentlich Titel für vielerlei Seiten, vielerlei Komplexe möglicher Sichtigkeit. Das ist eine sehr merkwürdige Wesensanlage. Denn zu dem eigenen Sinn jeder Wahrnehmung gehört ihr wahrgenommener Gegenstand als ihr gegenständlicher Sinn, also dieses Ding: der Tisch, der gesehen ist. Aber dieses Ding ist nicht die jetzt eigentlich gesehene Seite, sondern ist (und dem eigenen Sinn der Wahrnehmung gemäß) ebendas Vollding, das noch andere Seiten hat, Seiten, die nicht in dieser, sondern in anderen Wahrnehmungen zur eigentlichen Wahrnehmung kommen würden. Wahrnehmung, ganz allgemein gesprochen, ist Originalbewusstsein. Aber in der äußeren Wahrnehmung haben wir den merkwürdigen Zwiespalt, dass das Originalbewusstsein nur möglich ist in der Form eines wirklich und eigentlich original Bewussthabens von Seiten und eines Mitbewussthabens von anderen Seiten, die eben nicht original da sind. Ich sage mitbewusst, denn auch die unsichtigen Seiten sind doch für das Bewusstsein irgendwie da, »mitgemeint« als mitgegenwärtig. Aber sie [7]erscheinen eigentlich nicht. Es sind nicht etwa reproduktive Aspekte als darstellende Anschauungen von ihnen da, wir können nur jederzeit solche anschaulichen Vergegenwärtigungen herstellen. Die Vorderseite des Tisches sehend, können wir, wenn wir gerade wollen, einen anschaulichen Vorstellungsverlauf, einen reproduktiven Verlauf von Aspekten inszenieren, durch den eine unsichtige Seite des Dings vorstellig würde. Was wir dabei aber tun, ist nichts anderes, als uns einen Wahrnehmungsverlauf vergegenwärtigen, in dem wir, von Wahrnehmung zu neuen Wahrnehmungen übergehend, den Gegenstand von immer neuen Seiten in den originalen Aspekten sehen würden. Das geschieht aber nur ausnahmsweise. Es ist klar, dass, was die wirklich gesehene Seite als bloße Seite charakterisiert und es macht, dass nicht sie als das Ding genommen wird, sondern dass etwas über sie Hinausreichendes bewusst ist als wahrgenommen, von dem gerade nur [5] das wirklich gesehen ist, in einem unanschaulichen Hinausweisen, Indizieren besteht. Das Wahrnehmen ist, noetisch gesprochen, ein Gemisch von wirklicher Darstellung, die das Dargestellte in der Weise originaler Darstellung anschaulich macht, und leerem Indizieren, das auf mögliche neue Wahrnehmungen verweist. In noematischer Hinsicht ist das Wahrgenommene derart abschattungsmäßig Gegebenes, dass die jeweilige gegebene 〈Seite〉 auf anderes Nichtgegebenes verweist, als nicht gegeben von demselben Gegenstand. Das gilt es zu verstehen.

Zunächst werden wir darauf aufmerksam, dass jede Wahrnehmung, noematisch: Jeder einzelne Aspekt des Gegenstandes in sich selbst auf eine Kontinuität, ja auf vielfältige Kontinua möglicher neuer Wahrnehmungen [8]verweist, eben diejenigen, in denen sich derselbe Gegenstand von immer neuen Seiten zeigen würde. Das Wahrgenommene in seiner Erscheinungsweise ist, was es ist, in jedem Momente des Wahrnehmens, 〈als〉 ein System von Verweisen, mit einem Erscheinungskern, an dem sie ihren Anhalt haben, und in diesen Verweisen ruft es uns gewissermaßen zu: Es gibt hier noch Weiteres zu sehen, dreh mich doch nach allen Seiten, durchlaufe mich dabei mit dem Blick, tritt näher heran, öffne mich, zerteile mich. Immer von neuem vollziehe Umblick und allseitige Wendung. So wirst du mich kennenlernen nach allem, was ich bin, all meinen oberflächlichen Eigenschaften, meinen inneren sinnlichen Eigenschaften usw. Sie verstehen, was diese andeutende Rede besagen soll. In der jeweiligen aktuellen Wahrnehmung habe ich gerade die und keine anderen Aspekte und Aspektwandlungen, und immer nur begrenzte Aspektwandlungen. In jedem Moment ist der gegenständliche Sinn derselbe hinsichtlich des Gegenstandes schlechthin, der gemeinter ist, und ist in der kontinuierlichen Abfolge der Momentanerscheinungen in Deckung. So etwa dieser Tisch da. Aber dieses Identische ist ein beständiges x, ist ein beständiges Substrat von wirklich erscheinenden Tisch-Momenten, aber auch von Hinweisen auf noch nicht erscheinende. Diese Hinweise sind zugleich Tendenzen, Hinweistendenzen, die zu den nicht gegebenen Erscheinungen forttreiben. Aber es sind nicht einzelne Hinweise, sondern ganze Hinweissysteme, Strahlensysteme von Hinweisen, die auf entsprechende mannigfaltige Erscheinungssysteme deuten. Es sind Zeiger in eine Leere, da ja die nicht aktualisierten [6] Erscheinungen nicht als wirkliche, auch nicht als vergegenwärtigte Erscheinungen bewusst [9]sind. Mit andern Worten, alles eigentlich Erscheinende ist nur dadurch Dingerscheinendes, dass es umflochten und durchsetzt ist von einem intentionalen Leerhorizont, dass es umgeben ist von einem Hof erscheinungsmäßiger Leere. Es ist eine Leere, die nicht ein Nichts ist, sondern eine auszufüllende Leere, es ist eine bestimmbare Unbestimmtheit. – Denn nicht beliebig ist der intentionale Horizont auszufüllen; es ist ein Bewusstseinshorizont, der selbst den Grundcharakter des Bewusstseins als Bewusstsein von Etwas hat. Seinen Sinn hat dieser Bewusstseinshof, trotz seiner Leere, in Form einer Vorzeichnung, die dem Übergang in neue aktualisierende Erscheinungen eine Regel vorschreibt. Die Vorderseite des Tisches sehend, ist die Rückseite, ist alles von ihm Unsichtige in Form von Leervorweisen bewusst, wenn auch recht unbestimmt; aber wie unbestimmt, so ist es doch Vorweis auf eine körperliche Gestalt, auf eine körperliche Färbung usw., und nur Erscheinungen, die dergleichen abschatten, die im Rahmen dieser Vorzeichnung das Unbestimmte näher bestimmen, können sich einstimmig einfügen; nur sie können ein identisches x der Bestimmung durchhalten als dasselbe, sich hierbei neu und näher bestimmende. Bei jeder Wahrnehmungsphase des strömenden Wahrnehmens, bei jeder neuen Erscheinung gilt immer wieder dasselbe, nur dass der intentionale Horizont sich geändert und verschoben hat. Zu jedem Dingerscheinenden einer jeden Wahrnehmungsphase gehört ein neuer Leerhorizont, ein neues System bestimmbarer Unbestimmtheit, ein neues System von Fortschrittstendenzen mit entsprechenden Möglichkeiten, in bestimmt geordnete Systeme möglicher Erscheinungen einzutreten, möglicher Aspektverläufe mit untrennbar [10]zugehörigen Horizonten, die in einstimmiger Sinnesdeckung denselben Gegenstand als sich immer neu bestimmenden zu wirklicher, erfüllender Gegebenheit bringen würden. Die Aspekte sind, wie wir sehen, nichts für sich, sie sind Erscheinungen-von nur durch die von ihnen nicht abtrennbaren intentionalen Horizonte.

Wir unterscheiden dabei zwischen Innenhorizont und Außenhorizont der jeweiligen Aspekterscheinung. Es ist nämlich zu beachten, dass die Scheidung von eigentlich Wahrgenommenem und nur Mitgegenwärtigem zwischen inhaltlichen Bestimmt[7]heiten des Gegenstandes unterscheidet, die wirklich erscheinungsmäßig und leibhaft dastehen, und solchen, die in völliger Leere und noch vieldeutig vorgezeichnet sind; dass auch das wirklich Erscheinende in sich selbst mit einem ähnlichen Unterschied behaftet ist. Auch hinsichtlich der schon wirklich gesehenen Seite ertönt ja der Ruf: Tritt näher und immer näher, sieh mich dann unter Änderung deiner Stellung, deiner Augenhaltung usw. fixierend an, du wirst an mir selbst noch vieles neu zu sehen bekommen, immer neue Partialfärbungen usw., vorhin unsichtige Strukturen des nur vordem unbestimmt allgemein gesehenen Holzes usw. Also auch das schon Gesehene ist mit vorgreifender Intention behaftet. Es ist, was schon gesehen ist, immerfort ein vorzeichnender Rahmen für immer Neues, ein x für nähere Bestimmung. Immerfort ist antizipiert, vorgegriffen. Neben diesem Innenhorizont dann aber die Außenhorizonte, die Vorzeichnungen für solches, das noch jedes anschaulichen Rahmens entbehrt, der nur differenziertere Einzeichnungen forderte.

Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II

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