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[11]2. Das Verhältnis von Fülle und Leere im Wahrnehmungsprozess und die Kenntnisnahme

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Um jetzt ein tieferes Verständnis zu gewinnen, müssen wir auf die Art achten, wie in jedem Momente Fülle und Leere zueinander stehen und wie im Wahrnehmungsverlauf die Leere sich Fülle zueignet und die Fülle wieder zur Leere wird. Wir müssen die Zusammenhangsstruktur in jeder Erscheinung und die alle Erscheinungsreihen einigende Struktur verstehen. Im kontinuierlichen Fortgang der Wahrnehmung haben wir, wie bei jeder Wahrnehmung, Protentionen, die sich stetig erfüllen im neu Eintretenden, eintretend in der Form des urimpressionalen Jetzt. So auch hier. In jedem Fortgang äußeren Wahrnehmens hat die Protention die Gestalt von stetigen Vorerwartungen, die sich erfüllen, und das sagt: Aus den Hinweissystemen der Horizonte aktualisieren sich gewisse Hinweislinien kontinuierlich als Erwartungen, die sich stetig erfüllen in näher bestimmenden Aspekten.

In der letzten Vorlesung lernten wir die Einheit jeder äußeren Wahrnehmung nach verschiedenen Richtungen verstehen. Die äußere Wahrnehmung ist ein zeitlicher Erlebnisabfluss, in dem [8] Erscheinungen in Erscheinungen einstimmig ineinander übergehen, in die Deckungseinheit, der Einheit eines Sinnes entspricht. Diesen Fluss lernten wir verstehen als ein systematisches Gefüge fortschreitender Erfüllung von Intentionen, womit freilich nach anderer Seite wieder Hand in Hand geht eine Entleerung schon voller Intentionen. Jede Momentanphase der Wahrnehmung ist in sich selbst ein Gefüge von partiell vollen und partiell leeren Intentionen. Denn in jeder Phase haben wir [12]eigentliche Erscheinung, und das ist erfüllte Intention, aber doch nur graduell erfüllte, da ein Innenhorizont der Unerfülltheit und einer noch bestimmbaren Unbestimmtheit da ist. Außerdem aber gehört zu jeder Phase ein völlig leerer Außenhorizont, der nach Erfüllung tendiert und im Übergang nach einer bestimmten Fortschrittsrichtung danach in der Weise der leeren Vorerwartung langt.

Genauer besehen müssen wir aber Erfüllung und Näherbestimmung noch (und in folgender Weise) unterscheiden und müssen jetzt den Prozess der Wahrnehmung als einen Prozess der Kenntnisnahme beschreiben. Indem im Fortschritt der Wahrnehmung sich der Leerhorizont, der äußere und innere, seine nächste Erfüllung schafft, besteht diese Erfüllung nicht bloß darin, dass die leer bewusste Sinnesvorzeichnung eine anschauliche Nachzeichnung erfährt. Zum Wesen der leeren Vordeutung, die sozusagen eine Vorahnung des Kommenden ist, gehört, wie wir sagten, Unbestimmtheit, und wir sprachen von bestimmbarer Unbestimmtheit. Unbestimmtheit ist eine Urform von Allgemeinheit, deren Wesen es ist, sich in der Sinnesdeckung nur durch »Besonderung« zu erfüllen; soweit diese selbst den Charakter der Unbestimmtheit hat, aber der besonderen Unbestimmtheit gegenüber der vorangegangenen allgemeinen, gewinnt sie eventuell in neuen Schritten weitere Besonderung usf. Nun ist aber zu beachten, dass dieser Prozess der Erfüllung, die besondernde Erfüllung ist, auch ein Prozess der näheren Kenntnisnahme ist, und nicht nur einer momentanen Kenntnisnahme, sondern zugleich ein Prozess der Aufnahme in die bleibende, habituell werdende Kenntnis. Das werden wir sogleich besser verstehen. Im Voraus merken wir schon, dass die Urstätte dieser Leistung [13]die immerfort mitfungierende Retention ist. Zunächst sei daran erinnert, dass kontinuierlich fortschreitende Erfüllung [9] zugleich kontinuierlich fortschreitende Entleerung ist. Denn sowie eine neue Seite sichtig wird, wird eine eben sichtig gewordene allmählich unsichtig, um schließlich ganz unsichtig zu werden. Aber was unsichtig geworden ist, ist für unsere Kenntnis nicht verloren. Worauf das thematisch sich vollziehende Wahrnehmen hinauswill, ist ja nicht bloß, von Moment zu Moment immer Neues vom Gegenstand anschaulich zu haben, als ob das Alte dem Griff des Interesses entgleiten dürfte, sondern im Durchlaufen eine Einheit originärer Kenntnisnahme zu schaffen, durch die der Gegenstand nach seinem bestimmten Inhalt zur ursprünglichen Erwerbung und durch sie zum bleibenden Kenntnisbesitz würde.2 Und in der Tat: Die ursprüngliche Kenntniserwerbung verstehen wir in der Beachtung des Umstandes, dass die mit der Erfüllung sich vollziehende Näherbestimmung ein bestimmtes Sinnesmoment neu beibringt, das zwar im Fortgang zu neuen Wahrnehmungen aus dem eigentlichen Wahrnehmungsfeld entschwindet, aber retentional erhalten bleibt. (Das geschieht schon vorthematisch, schon im Hintergrundwahrnehmen. Im thematischen Wahrnehmen hat die Retention den thematischen Charakter des Im-Griff-Bleibens.) Demgemäß hat der Leerhorizont, in den das Neue dank der Retention jetzt eingeht, einen anderen Charakter als der Leerhorizont der Wahrnehmungsstrecke, bevor sie originär aufgetreten war. Habe ich die Rückseite eines unbekannten Gegenstandes einmal gesehen und kehre ich wahrnehmend zur Vorderseite zurück, so hat die leere Vordeutung auf die Rückseite nun eine bestimmte Vorzeichnung, die sie vordem nicht [14]hatte. Im Wahrnehmungsprozess verwandelt sich dadurch der unbekannte Gegenstand in einen bekannten; am Ende habe ich zwar genau wie am Anfang nur eine einseitige Erscheinung, und ist das Objekt gar aus unserem Wahrnehmungsfeld ganz herausgetreten, so haben wir von ihm überhaupt eine völlig leere Retention. Aber trotzdem, den ganzen Kenntniserwerb haben wir noch, und bei thematischem Wahrnehmen noch im Griff. Unser Leerbewusstsein hat jetzt eine gegliederte, systematische Sinneseinzeichnung, welche vordem, und vor allem [10] bei Beginn der Wahrnehmung, nicht bestand. Was damals ein bloßer Sinnesrahmen war, eine weit gespannte Allgemeinheit, ist jetzt eine sinnvoll gegliederte Besonderheit, die freilich weiterer Erfahrung harrt, um noch reichere Kenntnisgehalte als Bestimmungsgehalte anzunehmen. Kehre ich zu Wahrnehmungen der früheren Bestimmung wieder zurück, so laufen sie nun ab im Bewusstsein des Wiedererkennens, im Bewusstsein: »All das kenne ich schon.« Nun findet bloß Veranschaulichung, und mit ihr erfüllende Bestätigung der leeren Intentionen statt, aber nicht mehr Näherbestimmung.

Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II

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