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[36][369] 1. Ausschaltung der objektiven Zeit

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Einige allgemeine Bemerkungen müssen noch vorausgeschickt werden. Unser Absehen geht auf eine phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins. Darin liegt, wie bei jeder solchen Analyse, der völlige Ausschluss jedweder Annahmen, Festsetzungen, Überzeugungen in Betreff der objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem). In objektiver Hinsicht mag jedes Erlebnis, wie jedes reale Sein und Seinsmoment, seine Stelle in der einen einzigen objektiven Zeit haben – somit auch das Erlebnis der Zeitwahrnehmung und Zeitvorstellung selbst. Es mag sich jemand dafür interessieren, die objektive Zeit eines Erlebnisses, darunter eines zeitkonstituierenden, zu bestimmen. Es mag ferner eine interessante Untersuchung sein, festzustellen, wie die Zeit, die in einem Zeitbewusstsein als objektive gesetzt ist, sich zur wirklichen objektiven Zeit verhalte, ob die Schätzungen von Zeitintervallen den objektiv wirklichen Zeitintervallen entsprechen, oder wie sie von ihnen abweichen. Aber das sind keine Aufgaben der Phänomenologie. So wie das wirkliche Ding, die wirkliche Welt kein phänomenologisches Datum ist, so ist es auch nicht die Weltzeit, die reale Zeit, die Zeit der Natur im Sinne der Naturwissenschaft und auch der Psychologie als Naturwissenschaft des Seelischen.

Nun mag es allerdings scheinen, wenn wir von Analyse des Zeitbewusstseins, von dem Zeitcharakter der Gegenstände der Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung sprechen, als ob wir den objektiven Zeitverlauf schon annähmen und dann im Grunde nur die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit einer Zeitanschauung und einer [37]eigentlichen Zeiterkenntnis studierten. Was wir aber hinnehmen, ist nicht die Existenz einer Weltzeit, die Existenz einer dinglichen Dauer u. dgl., sondern erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche. Das aber sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre. Sodann nehmen wir allerdings auch eine seiende Zeit an, das ist aber nicht die Zeit der Erfahrungswelt, sondern die immanente Zeit des Bewusstseinsverlaufes. Dass das Bewusstsein eines Tonvorgangs, einer Melodie, die ich eben höre, ein Nacheinander aufweist, dafür haben wir eine Evidenz, die jeden Zweifel und jede Leugnung sinnlos erscheinen lässt.

[370] Was die Ausschaltung der objektiven Zeit besagt, das wird vielleicht noch deutlicher, wenn wir die Parallele für den Raum durchführen, da ja Raum und Zeit so vielbeachtete und bedeutsame Analogien aufweisen. In die Sphäre des phänomenologisch Gegebenen gehört das Raumbewusstsein, d. h. das Erlebnis, in dem »Raumanschauung« als Wahrnehmung und Phantasie sich vollzieht. Öffnen wir die Augen, so sehen wir in den objektiven Raum hinein – das heißt (wie die reflektierende Betrachtung zeigt): wir haben visuelle Empfindungsinhalte, die eine Raumerscheinung fundieren, eine Erscheinung von so und so gelagerten Dingen. Abstrahieren wir von aller transzendierenden Deutung und reduzieren die Wahrnehmungserscheinung auf die gegebenen primären Inhalte, so ergeben sie das Kontinuum des Gesichtsfeldes, das ein quasi-räumliches ist, aber nicht etwa Raum oder eine Fläche im Raum: roh gesprochen ist es eine zweifache kontinuierliche Mannigfaltigkeit. Verhältnisse des Nebeneinander, Übereinander, Ineinander finden wir da vor, geschlossene Linien, die ein [38]Stück des Feldes völlig umgrenzen usw. Aber das sind nicht die objektiv-räumlichen Verhältnisse. Es hat gar keinen Sinn, etwa zu sagen, ein Punkt des Gesichtsfeldes sei 1 Meter entfernt von der Ecke dieses Tisches hier oder sei neben, über ihm usw. Ebensowenig hat natürlich auch die Dingerscheinung eine Raumstelle und irgendwelche räumlichen Verhältnisse: die Hauserscheinung ist nicht neben, über dem Haus, 1 Meter von ihm entfernt usw.

Ähnliches gilt nun auch von der Zeit. Phänomenologische Data sind die Zeitauffassungen, die Erlebnisse, in denen Zeitliches im objektiven Sinne erscheint. Wieder sind phänomenologisch gegeben die Erlebnismomente, welche Zeitauffassungen als solche speziell fundieren, also die evtl. spezifisch temporalen Inhalte (das, was der gemäßigte Nativismus das ursprünglich Zeitliche nennt). Aber nichts davon ist objektive Zeit. Durch phänomenologische Analyse kann man nicht das Mindeste von objektiver Zeit vorfinden. Das »ursprüngliche Zeitfeld« ist nicht etwa ein Stück objektiver Zeit, das erlebte Jetzt ist, in sich genommen, nicht ein Punkt der objektiven Zeit usw. Objektiver Raum, objektive Zeit und mit ihnen die objektive Welt der wirklichen Dinge und Vorgänge – das alles sind Transzendenzen. Wohl gemerkt, transzendent ist nicht etwa der Raum und die Wirklichkeit in einem mystischen Sinne, als »Ding an sich«, sondern gerade der phänomenale Raum, die phänomenale raum-zeitliche Wirklichkeit, die erscheinende Raumgestalt, die erscheinende Zeitgestalt. Das alles sind keine Erlebnisse. Und die Ordnungszusammenhänge, die in den Erlebnissen als echten Im[371]manenzen zu finden sind, lassen sich nicht in der empirischen, objektiven Ordnung antreffen, fügen sich ihr nicht ein.

[39]In eine ausgeführte Phänomenologie des Räumlichen gehörte auch eine Untersuchung der Lokaldaten (die der Nativismus in psychologischer Einstellung annimmt), welche die immanente Ordnung des »Gesichtsempfindungsfeldes« ausmachen, und dieses selbst. Sie verhalten sich zu den erscheinenden objektiven Orten wie die Qualitätsdaten zu den erscheinenden objektiven Qualitäten. Spricht man dort von Lokalzeichen, so müsste man hier von Qualitätszeichen sprechen. Das empfundene Rot ist ein phänomenologisches Datum, das, von einer gewissen Auffassungsfunktion beseelt, eine objektive Qualität darstellt; es ist nicht selbst eine Qualität. Eine Qualität im eigentlichen Sinne, d. h. eine Beschaffenheit des erscheinenden Dinges, ist nicht das empfundene, sondern das wahrgenommene Rot. Das empfundene Rot heißt nur äquivok Rot, denn Rot ist Name einer realen Qualität. Spricht man mit Beziehung auf gewisse phänomenologische Vorkommnisse von einer »Deckung« des einen und anderen, so ist doch zu beachten, dass das empfundene Rot erst durch die Auffassung den Wert eines dingliche Qualität darstellenden Momentes erhält, an sich betrachtet aber nichts davon in sich birgt, und dass die »Deckung« des Darstellenden und Dargestellten keineswegs Deckung eines Identitätsbewusstseins ist, dessen Korrelat »ein und dasselbe« heißt.

Nennen wir empfunden ein phänomenologisches Datum, das durch Auffassung als leibhaft gegeben ein Objektives bewusst macht, das dann objektiv wahrgenommen heißt, so haben wir in gleichem Sinne auch ein »empfundenes« Zeitliches und ein wahrgenommenes Zeitliches zu unterscheiden.6 Das letztere meint die objektive Zeit. Das erstere aber ist nicht selbst objektive Zeit (oder Stelle in der [40]objektiven Zeit), sondern das phänomenologische Datum, durch dessen empirische Apperzeption die Beziehung auf objektive Zeit sich konstituiert. Temporaldaten, wenn man will: Temporalzeichen, sind nicht tempora selbst. Die objektive Zeit gehört in den Zusammenhang der Erfahrungsgegenständlichkeit. Die »empfundenen« Temporaldaten sind nicht bloß empfunden, sie sind auch mit Auf[372]fassungscharakteren behaftet, und zu diesen wiederum gehören gewisse Forderungen und Berechtigungen, die aufgrund der empfundenen Daten erscheinenden Zeiten und Zeitverhältnisse aneinander zu messen, so und so in objektive Ordnungen zu bringen, so und so scheinbare und wirkliche Ordnungen zu sondern. Was sich da als objektiv gültiges Sein konstituiert, ist schließlich die eine unendliche objektive Zeit, in welcher alle Dinge und Ereignisse, Körper und ihre physischen Beschaffenheiten, Seelen mit ihren seelischen Zuständen ihre bestimmten Zeitstellen haben, die durch Chronometer bestimmbar sind.

Es mag sein – hier haben wir darüber nicht zu urteilen – dass diese objektiven Bestimmungen letztlich ihren Anhalt besitzen an Konstatierungen von Unterschieden und Verhältnissen der Temporaldaten oder in unmittelbarer Adäquation an diese Temporaldaten selbst. Aber ohne weiteres ist z. B. empfundenes »Zugleich« nicht objektive Gleichzeitigkeit, empfundene Gleichheit von phänomenologisch-temporalen Abständen nicht objektive Gleichheit von Zeitabständen usw., das empfundene absolute Zeitdatum nicht ohne weiteres Erlebtsein objektiver Zeit (auch für das absolute Datum des Jetzt gilt das). Erfassen, und zwar evident Erfassen eines Inhalts, so wie er erlebt ist, das heißt noch nicht, eine Objektivität im empirischen Sinne [41]erfassen, eine objektive Wirklichkeit in dem Sinne, in welchem von objektiven Dingen, Ereignissen, Verhältnissen, von objektiver Raumlage und Zeitlage, von objektiv wirklicher Raumgestalt und Zeitgestalt usw. die Rede ist.

Blicken wir auf ein Stück Kreide hin; wir schließen und öffnen die Augen. Dann haben wir zwei Wahrnehmungen. Wir sagen dabei: wir sehen dieselbe Kreide zweimal. Wir haben dabei zeitlich getrennte Inhalte, wir erschauen auch ein phänomenologisches zeitliches Auseinander, eine Trennung, aber am Gegenstand ist keine Trennung, er ist derselbe: im Gegenstand Dauer, im Phänomen Wechsel. So können wir auch subjektiv ein zeitliches Nacheinander empfinden, wo objektiv eine Koexistenz festzustellen ist. Der erlebte Inhalt wird »objektiviert«, und nun ist das Objekt aus dem Material der erlebten Inhalte in der Weise der Auffassung konstituiert. Der Gegenstand ist aber nicht bloß die Summe oder Komplexion dieser »Inhalte«, die in ihn gar nicht eingehen, er ist mehr als Inhalt und anderes. Die Objektivität gehört zur »Erfahrung«, und zwar zur Einheit der Erfahrung, zum erfahrungsgesetzlichen Zusammenhang der Natur. Phänomenologisch gesprochen: die Objektivität konstituiert sich eben nicht in den »primären« Inhalten, sondern in den [373] Auffassungscharakteren und in den zu dem Wesen dieser Charaktere gehörigen Gesetzmäßigkeiten. Das voll zu durchschauen und zum klaren Verständnis zu bringen, ist eben Erkenntnisphänomenologie.

Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II

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