Читать книгу Franzosenkind - Eduard Spörk - Страница 7

Übersbach 1940

Оглавление

Aufrecht saß Karl Sommer auf dem Pferdewagen. Die grauen Augen im hageren Gesicht glitten über die goldenen Getreidemandeln, die zum Trocknen auf den Feldern standen. Stundenlang hatten er und Juliana, seine Frau, in diesem Jahr die von den Pferden gezogene Mähmaschine allein führen und ihre Kinder die geschnittenen Halme zu Garben binden müssen. Dem Bauern fehlten die Tagelöhner, die sich in der Erntezeit Geld auf seinem Hof verdienten. In diesem Jahr wurden sie auf anderen Feldern gebraucht, auf Schlachtfeldern.

Schmerzhaft pulsierte sein rechtes Bein, eine lästige Erinnerung aus dem letzten großen Krieg, der so verlustreich verloren gegangen war. Eine Granate hatte nicht nur den Knochen zersplittert, sondern auch seine Seele. Doch davon wusste niemand. In den Falten seiner Haut waren mehr als nur die siebenundvierzig Jahre vergraben.

Sonne, Wind und Wolken zeigten Karl Sommer, dass in den nächsten Tagen die Ernte eingefahren werden musste. Im Dorf konnte er nur wenige um Hilfe bitten. Auf den meisten Höfen gab es nur noch Frauen, Kinder und Männer, die zu alt oder zu schwächlich für Hitlers Pläne waren. Sorgenvoll verzog er die Mundwinkel. Harte, einsame Arbeit wartete noch auf ihn, bevor der Winter eine weiße Decke über das Land breiten würde.

Karl griff die Zügel: „Berta!“

Das Pferd wendete und trabte an. Es folgte dem Weg am Feldrand entlang auf den kleinen steirischen Ort Übersbach zu. Friedlich lag er vor Karl Sommer. Trügerisch friedlich, seit dem Einmarsch von Soldaten der deutschen Wehrmacht am 12. März 1938 in Österreich. Einen Tag danach war das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ beschlossen worden. Scheinheilig hatte Hitler für den 10. April 1938 die österreichische Bevölkerung zu einer Volksabstimmung aufgerufen. Auch in Übersbach war ein Zimmer im Wirtshaus der Felgitschs leer geräumt worden. Bei dem Gedanken an diesen Tag spürte Karl Sommer wieder das Unbehagen, als er damals über den Dorfplatz gegangen war. Er hatte gewusst, dass er sich dieser Abstimmung nicht entziehen konnte.

Schon am Eingang beobachteten braune Uniformierte mit starren Gesichtern die ankommenden Bauern. Ihr Führer gierte nach absoluter Zustimmung. Sie wollten dafür sorgen.

In dem Raum, den Karl Sommer an diesem Apriltag betreten hatte, standen drei Tische und drei Stühle. Kein Tuch, keine Wand dazwischen. An den Wänden lehnten die, die nicht gefragt werden mussten.

Karl Sommer kannte alle, wie es in einem Ort mit vierhundert Einwohnern unvermeidlich war. Die Kindheit, die Schulzeit verbrachten sie gemeinsam, übernahmen die Höfe ihrer Vorfahren, halfen sich bei der Ernte und sahen die Kinder aufwachsen. In der Gaststube beobachtete jeder jeden.

Auf dem Stimmzettel, der Karl Sommer, den anderen Bauern und ihren Frauen vorgelegt wurde, stand: „Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“

Das trügerische Ergebnis von 99 Prozent, in dem sich zum einen die allgemeine, von der nationalsozialistischen Propaganda angetriebene Begeisterung für den „Anschluss“ widerspiegelte, das aber auch durch gezielte Einschüchterung zustande gekommen war, hatte Hitler sicher ein selbstgefälliges Grinsen entlockt. Doch Übersbach durchzog nach der Wahl eine unsichtbare Linie.

Leute wie Karl Sommer hatten ohne innere Überzeugung mit „Ja“ gestimmt. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), die Partei des Führers, gewann in ihm kein neues Mitglied, denn als Steirer und alter Kriegsveteran krümmte er nicht seine aufrechte Haltung. Im oberen Ortsteil, in dem sich sein Bauerngehöft befand, war er nicht allein mit dieser Einstellung. Im unteren musste er dafür umso leiser reden. Dort wohnten viele überzeugte Nazi-Anhänger. Unter ihnen der Ortsbauernführer Karl S., der Bürgermeister Eduard F. und der Ortsgruppenleiter und Kreisbauernführer Karl H. Letzterer stand rangmäßig noch über dem Bürgermeister und war unter anderem für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln verantwortlich. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Bauern Karl Sommer konnte in den vorangegangenen zwei Jahren nicht als freundschaftlich bezeichnet werden.

Als Karl Sommer durch das rückseitige große Tor seines vier Seiten umfassenden stattlichen Hofes fuhr, schob er seine Sorgen für einen Moment beiseite. Stolz betrachtete er seinen Besitz. Die Düngerstätte in der Mitte hatte er vor vier Jahren auf einem betonierten Untergrund mit einer Umrandung bauen lassen. Seitlich abgegrenzt befand sich hinter einer schmalen Holztür der Abort. In der Nähe des Einganges zur Küche sprudelte ein für die Region typischer artesischer Brunnen. Er war durch einen Schacht bis unterhalb des Grundwasserspiegels in einer Senke angelegt worden. Der Überdruck bewirkte, dass das Wasser durch unterschiedliche Gesteinsschichten von selbst und dauerhaft an die Erdoberfläche gelangte.

Rechts führte ein mit Beton ausgegossener, schmaler Fußweg unter dem vorspringenden Hausdach am Pferdestall und der Wohnung der Sommers entlang. Im Herbst hingen hier die Maiskolben zum Trocknen. Gegenüber hörte Karl Sommer das Grunzen der Schweine und das Schnauben der Kühe.

Nachdem er das Pferd in den Stall geführt hatte, trat er durch eine niedrige Tür in die Küche ein.

Am großen gekachelten Herd kochte seine Frau in Streifen geschnittenes, weißes Kraut. Unter dem eisernen Topf loderte ein Feuer, durch Holzscheite gefüttert. Für einen Augenblick ruhte sein Blick auf Julianas blau-weiß geblümtem Kopftuch, unter dem sie ihr hochgestecktes, braunes Haar verbarg. Sie hatte ihm neun Kinder geboren, von denen eines gestorben war. Hans war mit seinen vier Jahren der Jüngste und saß zu ihren Füßen. Er spielte mit einem Holzlöffel.


Eduards Großeltern Sommer bei ihrer Goldenen Hochzeit 1970, dahinter Eduards Mutter

Ihr erstes Kind hatten sie Maria genannt, mittlerweile eine junge Frau von einundzwanzig Jahren. Frühzeitig hatte sie auf dem Hof und auf den Feldern helfen müssen. Karl Sommer schätzte an ihr, dass sie tat, was ihr aufgetragen wurde, ordentlich sogar. Nur einmal hatte sie sich seiner Autorität widersetzt: als sie den jungen Leopold Passath aus Leoben, der als besitzloser Knecht auf einem Nachbarhof arbeitete, kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte. Alle Versuche Karls, die Beziehung zu unterbinden, scheiterten. Maria wurde schwanger und Juliana drängte ihn, der Verbindung seinen Segen zu geben. Erst im April 1940 hatte die Hochzeit stattgefunden, mit Franz, dem dreijährigen Sohn des Paares.

Franzosenkind

Подняться наверх