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Stammlager XVIII A Wolfsberg

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In der Küche, neben dem großen Esstisch, stand das Radio, ein kleiner hölzerner Kasten, von Karl Sommer zu Ausbruch des Krieges in Fürstenfeld preiswert gekauft. Er war kein Liebhaber der Schlager und Wunschkonzerte, die der „Volksempfänger“, im Deutschen Reich als „Goebbels-Schnauze“ bezeichnet, in die Stube der Sommers schmetterte. Mit wachsender Beklemmung hörte er eher aufmerksam die manipulierten Nachrichten und die bellenden Reden Hitlers und Goebbels, die die Erfolge der deutschen Truppen glorifizierten und das Volk auf den Endsieg einschworen. Dass jeder Sieg tragische Verlierer zurückließ, begriffen die Leute in Übersbach, als die ersten Söhne und Väter nicht auf ihre Höfe zurückkehrten.


Ein Volksempfänger vom Typ VE301W aus dem Jahr 1933

Nachdem der schreckliche Krieg von 1914 bis 1918 sein rechtes Bein gekürzt hatte, drängte es Karl Sommer, die Perspektive des Feindes zu kennen. Gottfried Felber, sein Nachbar und Freund, war wie er bereit, das Risiko einer möglichen Todesstrafe einzugehen, die, gemäß der „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“, für das Hören von „Feindsendern“ verhängt werden konnte. Um aber ihre Familien nicht zu gefährden, machten sich die beiden Männer mit Einbruch der Dunkelheit auf den Weg in die „Berge“, um auf einer Anhöhe bei Rittschein, außerhalb von Übersbach, einen befreundeten Bauern zu besuchen. Niemand konnte ihn überraschend besuchen, weil er jederzeit die Wege zu seinem Haus überblicken konnte. Über das Radio gebeugt, lauschten die drei den Nachrichten von der anderen Seite des Krieges, vom kaltblütigen Feldzug der Deutschen, der auch vor Frankreich nicht haltgemacht hatte. Sie hörten von der Gefangennahme noch ungezählter französischer Soldaten und fragten sich, welchem Schicksal sie entgegengehen würden.

Schon vor 1939 hatte die Wehrmacht eine eigene Dienststelle geschaffen, die sich mit einer nutzbringenden Verwendung der Kriegsgefangenen befasste. Unter der direkten Aufsicht des Oberkommandos der Wehrmacht wurde schließlich der hohen Zahl an Kriegsgefangenen Rechnung getragen. Es musste über ihre Aufteilung in Mannschaftslager, Offizierslager (mancherorts zusätzlich getrennt in Luft- und Marine-Lager), Durchgangslager, Straflager, Heimkehrerlager und über ihren Einsatz in der Industrie, insbesondere in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft und im Bergbau entschieden werden. Die Kriegsgefangenen-Bau- und -Arbeitsbataillone bekamen eine eigene Organisationsstruktur.

Ausgehend von der Haager Landkriegsordnung von 1899 wurden, nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, 1929 in der Zweiten Genfer Konvention die Grundsätze zur einheitlichen Behandlung von Kriegsgefangenen festgelegt. Die unterzeichnenden Länder wie Frankreich, USA, Großbritannien, China, Indien und das Deutsche Reich regelten darin Mindestanforderungen an die Ausstattung von Kriegsgefangenenlagern, an die Versorgung der Gefangenen mit Nahrung, Medizin, Kleidung und den Standard der sanitären Anlagen. Sie legten unter anderem fest, dass Kriegsgefangene nicht in der Rüstungsindustrie und beim Rüstungstransport eingesetzt werden durften und bei bestimmten Arbeiten am Ende der Gefangenschaft entlohnt werden sollten.

Das war die Theorie, die mit der Praxis nicht viel zu tun hatte. Prinzipiell gab es im Deutschen Reich keine Gleichbehandlung der Kriegsgefangenen, sondern sie wurden nach ihrer Nationalität und den Maßstäben der Rassenideologie des Nazi-Regimes eingestuft. Die Einstellung der Lagerkommandantur und der Wachmannschaften spielte eine wichtige Rolle: so wurde in einzelnen Lagern der „Ostmark“ tendenziell zurückhaltender als im „Altreich“ agiert. Der Transport der Kriegsgefangenen in offenen Viehwaggons, in denen sie Krankheiten und im Winter Erfrierungen ausgesetzt waren, ihre Unterbringung in Baracken oder im Freien, teilweise ohne Bekleidung und Schuhe, gipfelte in der äußerst ungleichen Versorgung mit Essen. Den sowjetischen Gefangenen, in der nationalsozialistischen Propaganda als „Untermenschen“ bezeichnet, stand nur Unmenschliches zu. Ihnen galt kein minimaler Schutz durch die Genfer Konvention, da die Sowjetunion dem Abkommen nicht beigetreten war. Der Tod dieser Menschen wurde in Kauf genommen oder beschleunigt. Polnischen und später auch italienischen Soldaten wurde gänzlich der Status von Kriegsgefangenen verwehrt. Vergleichsweise weniger Tote in den deutschen Lagern mussten die alliierten Armeen verzeichnen, wobei auch hier regional Unterschiede gemacht wurden.

Die Entscheidung, Gefangene in der Industrie und in der Landwirtschaft einzusetzen, resultierte aus dem Mangel an Arbeitskräften im Deutschen Reich. Keiner der auf den Schlachtfeldern Kämpfenden konnte gleichzeitig Munition produzieren oder das Getreide säen.

Anders als bei vielen der norwegischen, belgischen, niederländischen und griechischen Soldaten, die nach dem Ende der Kämpfe bald freigelassen wurden, entschied die Wehrmacht, die französischen Kriegsgefangenen zum Arbeiten in das Deutsche Reich zu bringen. Vor der Verteilung dieser fast 1,6 Millionen Kriegsgefangenen auf die Lager in den dreizehn Wehrkreisen im „Altreich“, auf die zwei auf polnischem Gebiet befindlichen Wehrkreise sowie auf die zwei Wehrkreise in der „Ostmark“, dem Wehrkreis XVII Wien und XVIII Salzburg, wurden die meisten von ihnen in den Frontlagern festgehalten und alphabetisch registriert. Unter ihnen die Männer des 20. Artillerie-Corps Nord Africa, die sich vor dem Angriff der Deutschen nach Vaudemont zurückgezogen hatten.

Der winzige mittelalterliche Ort in Lothringen, malerisch auf einer Bergkuppe dreißig Kilometer südlich von Nancy gelegen, hatte für die deutsche Wehrmacht keine strategische Bedeutung. Ihre siegreichen Soldaten durchstreiften trotzdem die Gassen und entdeckten die französische Truppe.

Antoine Ménan und seine Kameraden blickten in feindliche Gewehrläufe und hörten Befehle in einer fremden Sprache, die die schlimmsten Befürchtungen der letzten Tage und Wochen bestätigten.

Drei Jahre zuvor hatte es ihm und seinen Freunden zu Ehren ein Fest in Sainte-Gemmes-d’Andigné gegeben. Der kleine Ort im Anjou, vierzig Kilometer nordwestlich von Angers entfernt, hatte ihre Musterung zum Militärdienst gebührend gefeiert. Stolz und mit mutig-fröhlichem Lächeln hatten sich die jungen Männer dem Fotografen präsentiert. Antoine war für die Position eines Meldereiters vorgesehen, deshalb hielt er als einziger seiner Kameraden eine Trompete vor seiner Brust. Als er im November 1938 den Namen seines Regimentes erfahren hatte, wähnte sich Europa im Frieden, und die Trennung von Familie und Freunden schien von kurzer Dauer zu sein. Doch in den Monaten danach wurde offensichtlich, dass der deutsche Reichskanzler Hitler durchaus keine friedlichen Absichten hegte.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen hatten Frankreich und England dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, ohne effektive militärische Maßnahmen zu ergreifen. Unterstützt durch das defensive Verhalten der französischen Armeeführung gipfelte die erfolgreiche Westoffensive der deutschen Truppen in der siegreichen Eroberung Frankreichs.

Über das Schicksal der gefangenen Soldaten entschied das Oberkommando der Wehrmacht und die um Kollaboration bemühte Vichy-Regierung des Henri Philippe Pétain, die auf den Schutz der französischen Kriegsgefangenen durch die von der Genfer Konvention vorgesehene neutrale Schutzmacht USA verzichtete. Damit sah sich die deutsche Wehrmacht noch weniger an die Festlegungen des Abkommens gebunden.


Antoine Ménan (1. Reihe, 2. von links) nach seiner Musterung im Jahr 1937

Am 24. Juni 1940 wurden die Soldaten des 20. Artillerie-Corps Nord Africa festgenommen. Im eilig errichteten Frontlager wurde für Antoine Ménan bestimmt, ihn in ein Offizierslager nach Kärnten zu bringen, das seit Oktober 1939 der Gefangennahme polnischer Offiziere diente. Anfänglich waren sie in den Ställen des Ortes Wolfsberg untergebracht worden.

Im Wehrkreis XVIII, welcher die Regionen Tirol-Vorarlberg, Salzburg, Kärnten und die Steiermark einschloss, hatte die Wehrmacht versäumt, neben den drei Offizierslagern auch Mannschaftsstammlager zu schaffen. Gemäß der Genfer Konvention von 1929, Artikel siebenundzwanzig, durften Offiziere keine Tätigkeiten ausüben und Unteroffiziere nur Aufsichtsdienste leisten. Somit gab es in den Lagern dieser Regionen Österreichs zu wenige der so dringend benötigten Arbeitskräfte.


Antoine Ménan als Meldereiter bei seiner militärischen Ausbildung 1938

Mit dem Westfeldzug änderte sich die Situation. Die vielen, vor allem französischen Gefangenen mussten untergebracht werden. Aus dem „Kriegsgefangenen-Offizierslager Oflag XVIII B“ wurde das „Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager Stalag XVIII A Wolfsberg“, eines der größten Kriegsgefangenenlager der „Ostmark“. In Wolfsberg wurden zeitweise bis zu achtundvierzigtausend Kriegsgefangene, getrennt nach ihrer Staatsangehörigkeit, in fünfunddreißig Mannschaftsbaracken festgehalten. Sie schliefen auf doppelstöckigen Holzpritschen, die russischen Kriegsgefangenen später sogar auf dreistöckigen. Als Matratzen dienten mit Stroh gefüllte Säcke, in denen sich Ungeziefer einnistete. Es gab Tage, an denen dreihundert Männer einer Baracke um ihren Platz an den einundzwanzig Wasserhähnen für einige Tropfen kalten Wassers kämpfen mussten. Die Abortanlagen waren ständig überlastet und verstopft.

Die Bewacher der Kriegsgefangenen, organisiert in Landesschützen-Bataillonen, dienten vormals in der k. u. k. Armee oder im Bundesheer der Ersten Republik, waren entweder körperlich oder altersbedingt nicht voll einsatzfähig oder galten als politisch so unzuverlässig, dass sie keine Aufnahme in die deutsche Wehrmacht fanden.

Im März 1941, als in den Wehrmachtsunterlagen nur noch vom „Stalag XVIII A Wolfsberg“ die Rede war, fuhr Antoine Ménan, gemeinsam mit einigen seiner Kameraden auf der Ladefläche eines Lastwagens sitzend, einem unbekannten Ziel entgegen. Erst beim Aussteigen erkannte er, dass sie vor dem Gasthof eines Dorfes angehalten hatten und von Soldaten der Wehrmacht mit Maschinengewehren erwartet wurden. „Aussteigen! Beeilt euch!“ Auch wenn sie die Sprache nicht verstanden, hatten sie im Lager gelernt, was von ihnen verlangt wurde.

Im Tanzsaal des „Gasthofes Sindler“ lagen mit Stroh gefüllte Matratzen mit grauen, steifen Decken, die schnell unter den Gefangenen aufgeteilt waren. In Reih und Glied marschierten sie mit ihren Bewachern die leicht bergab führende Straße entlang, an der Kirche vorbei, die links von ihnen auf einem kleinen Hügel thronte, von einer Mauer schützend umgeben. Vor den französischen Kriegsgefangenen öffnete sich der Blick auf eine große, rechteckige Wiese, an deren Rändern Bäume aufragten, der Mittelpunkt des Dorfes, umrahmt von den Höfen der Bauern.

Die Ankunft der Fremden hatte sich bereits herumgesprochen. In den Augen der Frauen, Kinder und wenigen Männer, die die Gefangenen erwarteten, spiegelten sich Misstrauen, aber auch Neugierde. Sie waren auf die Hilfe derer, die da kamen, angewiesen. Der Krieg hatte ihre Männer, Söhne und Knechte fortgerissen und ihnen die Höfe, die Felder und die Kinder allein überlassen. Nicht jeder Bauer hatte wie Karl Sommer Pferde im Stall stehen. Dann mussten die Kühe den Pflug ziehen, was sie nur widerspenstig taten. Das überstieg nicht nur die Kräfte der Bäuerin, sondern auch die des Viehs, das weniger Milch gab. Aber die Ernte durfte nicht gefährdet werden. Aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wussten die Nationalsozialisten, dass sie weder vom Hunger geschwächten Soldaten noch einem notleidenden Volk die Idee von der Weltherrschaft schmackhaft machen konnten. Die menschlichen Tragödien zehrten schon genügend am Kampfwillen.


Die französischen Kriegsgefangenen in Übersbach beim Aufgang zu ihrem Quartier (Antoine Ménan sitzend, 2. von rechts)

Antoine Ménan atmete tief durch. Er fühlte sich unwohl in seiner Uniform, auf die er im Lager an mehreren Stellen ein rotes Stoff-Dreieck mit den Buchstaben „KGF“ aufnähen musste, die Abkürzung für Kriegsgefangener. Seit Monaten trug er sie, notdürftig sauber gehalten, weil es den Soldaten nicht gestattet war, sie gegen zivile Kleidung zu tauschen.

Der hagere Mann, der auf ihn zutrat, deutete mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Er schien kein Mann großer Worte zu sein, denn auch mit den Wehrmachtssoldaten sprach er nicht viel. In wenigen Schritten traten sie durch das Holztor in den Hof des Bauern Sommer. Antoine sah sofort, dass sich hinter den Wänden der Ställe und der Scheune viel Arbeit verbarg. Aber er scheute sie nicht. Im Gegenteil. Nach der Willkür des Lagerlebens sehnten sich seine Hände nach fruchtbarer Erde, dem Geruch von Heu, dem Fell der Tiere.

Arbeit, die er als ältester Sohn von neun Kindern auf dem Hof La Feltière in Sainte-Gemmes-d’Andigné von klein auf kennengelernt hatte. Sein Vater Antoine Ménan, geboren am 14. April 1878, und seine Mutter Anna, eine am 19. Mai 1886 geborene Vigneron, führten fleißig und umsichtig den seit vierhundert Jahren im Familienbesitz befindlichen Hof. Sie warteten auf ihren Sohn, den dreiundzwanzig-jährigen Antoine Ménan, der diese Tradition fortsetzen sollte und wollte. Doch der Krieg hatte ihn in die östliche Steiermark gezerrt, die an Ungarn und an Slowenien grenzte. Im Gegensatz zum flachen Anjou wechselten in der Gegend um Übersbach Ebenen mit sanften Hügelketten, bewachsen von Wäldern, Wiesen, Weiden sowie Obst- und Weingärten.

Die Sehnsucht nach seiner Familie brannte gerade in Antoines Herz, als sich ihm Juliana in den Weg stellte. Sie war einige Jahre jünger als ihr Mann und hatte unweit von Übersbach auf dem Hof der Greitners gelebt, den Tod der Mutter verkraften und die Stiefmutter ertragen müssen.

Als sich Karl Sommer für Juliana zu interessieren begonnen hatte, bemängelten seine Schwestern ihre geringe Mitgift. Sie machten es Juliana nicht leicht auf dem Hof und schoben ihr die Arbeiten zu, die sie nicht erledigen wollten.

Nachdem die Schwägerin aus Schiefer bei Fehring kinderlos blieb, setzte sie durch, dass die zweitälteste Tochter Julianas ab ihrem vierten Lebensjahr bei ihr aufzuwachsen hatte. Das Kind kehrte auch später nicht mehr an den Hof der Sommers zurück.

Juliana blitzte Antoine zwischen leicht zusammengekniffenen Augenlidern an, doch in ihren Mundwinkeln zuckte ein wohlwollendes Lächeln. Beim gemeinsamen Essen um den großen hölzernen Esstisch in der Küche lernte Antoine die Kinder des Bauern Karl Sommer kennen. Karl, der älteste Sohn, betrachtete ihn skeptisch, die jüngeren wie Seppl, Tochter Hanni und der kleine Hans lächelten erwartungsvoll. Als Maria mit ihrem vierjährigen Sohn Franz die Küche betrat, fielen Antoine als Erstes die braunen Augen und die langen, schmalen Finger der jungen Frau auf. Dem Fremden galt nur ein scheuer Blick.

Gemeinsam beschloss die Familie, dass Anton einfacher als Antoine auszusprechen war, und der junge Franzose ließ es geschehen. Er war froh, in Übersbach bei den Sommers angekommen zu sein. Im Gegensatz zu anderen Kriegsgefangenen schien er es gut getroffen zu haben.


Antoine Ménan als junger Soldat – ein sogenanntes „Souvenir de captivité“ für seine Mutter

Die Insassen der Mannschaftsstammlager wurden in allen Wirtschaftszweigen eingesetzt. Neben der Land- und Forstwirtschaft wurden sie gezwungen, Großbetriebe, aber auch Unternehmen der Rüstungsindustrie aufzubauen. Sie verlegten Gleise, betonierten Straßen, förderten Kohle und produzierten Munition. Besonders die in Arbeitskommandos zusammengefassten Kriegsgefangenen, die außerhalb der Stammlager untergebracht wurden, waren bei körperlich schwerer Arbeit und mangelnder medizinischer Versorgung häufig Repressalien und Hunger ausgesetzt.

Erleichtert stellte Antoine fest, dass der Patron, wie er den Bauern bald nannte, kein Anhänger der Nazis zu sein schien. Für ihn fleißig und ordentlich zu arbeiten, fiel Antoine leicht.

Morgens wurde die Gruppe der Gefangenen von einem alten Wachmann bis zum Dorfplatz geführt. Er machte sich bald nicht mehr die Mühe, das Maschinengewehr in den Händen zu tragen, sondern es schaukelte an seiner Schulter. An der Mariensäule, oberhalb des Platzes, löste sich die Gruppe der Männer auf. Antoine hatte den kürzesten Weg, doch selten trat er durch das vordere Tor ein, welches die kleine Wohnung Marias auf der rechten Seite von der ihrer Eltern auf der linken Seite des Hoftores trennte. Er liebte es, an Marias Fenstern vorbei links den kleinen Fußweg an der Mauer des Hofes entlang zu gehen, über ihm die Kronen der Ringlotten-Bäume, die ihn so sehr an seine Heimat erinnerten. Auch wenn sie im Französischen Reineclaude hießen, trugen sie im Frühjahr das gleiche weiße Blütenkleid und die rundlich blauen Früchte die Süße des Sommers.

Sobald Antoine durch das rückseitige große Tor in die Scheune trat, wusste er, wo seine Hände gebraucht wurden. Im Vergleich zu La Feltière besaß sein Patron wenige Pferde und Felder. Doch in Übersbach genoss Karl Sommer das Ansehen eines vermögenden und respektierten Bauern. Viele der Bauern auf den kleineren Höfen am unteren Teil des Dorfplatzes führten ein mühsames und beschwerliches Leben, weil sie sich nur wenige Schweine und Kühe leisten konnten und kleine Felder bewirtschafteten. Es konnte kein Zufall sein, dass besonders diese Bauern für die Parolen der Nazis empfänglicher waren.


Französische Kriegsgefangene in Übersbach bei ihrer Arbeit auf den Feldern

Bereits in Zeiten, in denen die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) in Österreich noch verboten gewesen war, hatten sich überzeugte Anhänger Hitlers bemüht, junge Leute auf den Dörfern für die Ziele ihrer Ideologie zu begeistern. Sie übten mit ihnen das Marschieren und Schießen in Ställen und im Wald, was im Dorf gegensätzlich diskutiert wurde. In einer Gemeinschaft, in der jeder jeden von klein auf kannte, die katholische Kirche den Menschen das Prinzip der Nächstenliebe predigte und Traditionen seit Generationen gepflegt wurden, stießen die Nationalsozialisten häufig an ihre Machtgrenzen. Um den Einfluss der Kirche auf die Bevölkerung einzuschränken, verboten die Nazis in manchen Orten sonntags den Besuch des Gottesdienstes und schickten die Leute vor der Kirchentür zurück auf die Felder zum Arbeiten. Sie konnten aber nicht verhindern, dass zwischen den „deutschen Volksgenossen“ und den „kriegsgefangenen Angehörigen der Feindmächte“ die „volkstümliche Gefahr einer Annäherung“ bestand. Der im Laufe des Krieges gravierende Mangel an deutschen Arbeitskräften zwang die Nazis letztendlich, einige Verordnungen „zum Schutze der Volksgesundheit“ zurückzunehmen.

Karl Sommer verhielt sich eigenwillig gegenüber Verordnungen und Verboten der Nazis. Er stattete Antoine eines Tages mit einem Hemd, einer Arbeitshose und festen Schuhen aus und legte die Uniform des jungen Franzosen in einen Kasten. Ihn kümmerte nicht, dass das Oberkommando der Wehrmacht festgelegt hatte, dass die Kriegsgefangenen keine Zivilkleidung tragen durften und sie selbst in Ordnung zu halten hatten. Er erfuhr rechtzeitig, wenn sich offizielle Kontrollen im Ort ankündigten. Dann konnte die Familie Antoine wieder in die Uniform stecken.

In gleicher Weise setzte er sich über das „Verbot von Schüsselgemeinschaften“ hinweg. Antoine aß bei den Mahlzeiten immer am Tisch der Sommers, es sei denn, er war allein mit den Pferden und dem Pflug auf den Feldern unterwegs. Dann packte ihm Juliana ein Stück Brot und einen Apfel in den Korb.

Karl hielt sich auch nicht an vorgeschriebene Rationen und gab Antoine vom Fleisch, das es ohnehin selten gab. Er pflegte mehr als den von den Nazis vorgeschriebenen minimalen Umgang mit dem Kriegsgefangenen, indem er nicht nur mit Antoine gemeinsam arbeitete, sondern ihn auch zur Jagd mitnahm. So verkörperte Karl Sommer einen „Verräter an der Volksgemeinschaft“, weil er Antoine gleichwertig, wie ein Mitglied seiner Familie, behandelte. Er fügte sich nur insofern, als Antoine zum Schlafen abends in den Gasthof zurückkehren musste, weil es ihm dort mit seinen Kameraden gut ging.

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