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DIE FRÜHEREN ZEITEN

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Jetzt muss ich Ihnen was erzählen, und zwar über die früheren Zeiten.

Die früheren Zeiten, die sind ein Lieblingsthema von den Wienern. Sie hängen gern diesen früheren Zeiten nach. Nur variieren die früheren Zeiten ganz individuell. Der eine meint die Zeiten unter dem Kaiser Franz Joseph, der andere die unter dem Bundeskanzler Bruno Kreisky, der für die Wiener gewissermaßen ein Ersatzkaiser gewesen ist. Davon erzähle ich Ihnen ein bisserl später. Der Wiener beäugt alles Neue misstrauisch, und auch, wenn er es nicht offen sagt, denkt er meistens: „Za wos brauch ma des?9“ Ich glaube, dass wegen der Einstellung sogar die Revolution im Jahr 1848 weitgehend erfolglos war. Die Revolutionäre mochten schon berechtigte Anliegen gehabt haben, und der Nandl, also der Kaiser Ferdinand, hat nicht so recht gewusst, wie er damit umgehen soll. Das erzähl ich Ihnen auch ein bisserl später, das würde jetzt zu weit führen.

Jedenfalls: Da wird eine Revolution gemacht, aber die Einstellung der Wiener dazu ist wohl gewesen: „Revoetian dan’s? Za wos brauch ma des?“10 Und schon war es vorbei mit der Revolution. Kein Herrscher konnte sich eines treueren Volkes erfreuen. Nur wie der Kaiser einen Unfried gemacht hat im Ersten Weltkrieg, da war’s halt aus mit der Gutmütigkeit des Volkes. So sind die Österreicher und ganz speziell die Wiener: Die Gemütlichkeit währt lange, das Leben im „Jo, eh“ gar ewig. Aber dann, wenn die Gemütlichkeit endet und mit ihr das „Jo, eh“, dann heißt’s beim Wiener nur noch „drah di ham“11. So haben sie’s mit dem Kaisertum und mit dem Adel gehalten, die Wiener.

Aber was wollte ich Ihnen eigentlich erzählen? – Ach ja, von den früheren Zeiten und den Spinnern und Sonderlingen. Ihnen, den Spinnern und Sonderlingen, ist man damals viel öfter begegnet als heute. Aber nicht weil die Zeiten so gut waren, damit fange ich nicht an, sondern im Gegenteil. Verklären tut man sie heute, die früheren, die alten Zeiten. So gut sind sie gar nicht gewesen.

Natürlich mag der Stadt ein wenig Farbe verloren gegangen sein. Aber viel von dem, was aus den Menschen Sonderlinge gemacht hat, haben die sozialen Zustände verschuldet, und zwar, weil sie damals viel schlechter waren als heute. Wenn Sie mich fragen, ich find’s gut, dass es zum Beispiel die Strottern12 heute nur noch als eine großartige Wienerlied-Gruppe gibt.

Schauen Sie nicht so ungläubig. Wien ist eine großartige Stadt. Allerdings ist nicht alles an Wien immer Sachertorte mit Schlag13 gewesen. Wien hat immer seine salzigen Seiten gehabt – und hat sie bis heute. Die ehemalige Kaiserresidenz ist das Bild, das Wien bis heute von sich bewahren will. Das ist ein bisserl wie bei einer Frau, die nicht mehr ganz jung ist, aber auf Facebook die Fotos von sich als Dreißigjährige hineinstellt, obwohl sie jetzt mit fünfundvierzig oder auch fünfzig noch schöner aussieht, weil jedes Fältchen in ihrem Gesicht eine Kostbarkeit ist. Genau so ist es mit Wien.

Das Wien der Kaiserzeit, das ist die junge Frau, die schön ist, aber auch oberflächlich: Sie sieht nicht das Elend der Zugereisten. Wissen Sie, wieso so viele Wiener tschechische Nachnamen haben? Viele sind Nachfahren der Ziegelbem14. So hat man die Arbeiter in den Ziegeleien genannt. Diesen Sklavendienst haben zumeist tschechische Einwanderer geleistet. Die sind mit viel Hoffnung gekommen, weil das Leben in den Kronländern für sie noch schlechter gewesen ist. Ein Sprichwort aus dieser Zeit geht so:

Es gibt nua a Kaiserstadt.

Es gibt nua a Wien.

De Wiena san draußn,

de Bem, de san drin.

Wien ist für die Zuwanderer aus allen Teilen der Donaumonarchie die Hoffnung auf ein besseres Leben gewesen. Aber nicht für alle hat sich das Leben verbessert. Nicht nur die Zugereisten, auch gebürtige Wiener haben oft Schiffbruch erlitten. Wer keine Arbeit gefunden hat oder keine mehr leisten hat können, hat als Strotter in den Kanälen der Stadt nach etwas Verwertbarem gefischt.

Auch das ist Wien gewesen – und auch das: Schon die Christlich-Sozialen haben sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg um eine Verbesserung der Zustände bemüht. Der Bürgermeister Karl Lueger15 ist zwar ein Antisemit gewesen, aber er hat ein soziales Gewissen gehabt und, neben der Hochquellwasserleitung, Spitäler und Kinderheime bauen lassen, die Gas- und Elektrizitätsversorgung kommunialisiert, womit sich das jeder leisten hat können. Obendrein hat er die Verkehrsinfrastruktur verbessert. Nach dem Ersten Weltkrieg haben die Sozialisten die Stadtregierung übernommen und halten sie bis heute. Nur die nicht demokratischen Zeiten sind eine Unterbrechung gewesen.

Die Sozialisten haben in den Zwanzigerjahren mit ihren Gemeindebauten die Stadt geprägt. Aus der ganzen Welt sind Politiker nach Wien gereist, um sich Anregungen zu holen, wie man das Leben in einer Stadt für alle Bevölkerungsschichten verbessern kann.

Schauen Sie sich einmal dieses andere Wien an, das neben der Habsburgerherrlichkeit besteht. Die großen Höfe sind ja fast Burgen und Schlösser des Proletariats. Ihre Architektur hat bei den Konservativen für Unruhe gesorgt, weil sie in den Bauwerken etwas Militärisches gewittert haben. Wer solche Wohnfestungen baut, plant eine gewalttätige Auseinandersetzung. Die hat es dann ja auch gegeben, aber das ist eine Geschichte – wenn ich Ihnen die erzähle, sitzen wir in einer Woche noch da. Der Karl-Marx-Hof im 19. Bezirk ist solch eine architektonische Meisterleistung. Es gibt eine noch imponierendere Anlage, nämlich den Sandleitenhof in Ottakring. Das ist genau genommen eine Siedlung, von der jeder Teil seinen eigenen Charakter hat, der sich dennoch in das Gesamtbild einfügt.

Und es gibt ein Wiener Geheimnis, das hat nichts mit Bauwerken zu tun, sondern mit dem Charakter der Wiener. Die sind durch Generationen davon geprägt, dass Wien eine Vielvölkerstadt ist. Wien ist vielleicht die erste, sicher aber eine der ersten richtigen Weltstädte gewesen in dem Sinn, dass nicht die Welt in ihr zu Gast gewesen, sondern heimisch geworden ist. Tschechen, Slowaken, Ungarn, Polen, Italiener, Kroaten, Serben und Rumänen – was weiß ich, wer noch aller gekommen ist aus den Kronländern des Habsburgerreichs und natürlich aus den Bundesländern, in der Hoffnung, in Wien Fuß zu fassen.

Der Wiener hält Wien zwar für den Nabel der Welt, und eigentlich ist für ihn jeder ein Ausländer, der nicht aus Wien kommt. Aber der Wiener hat schon seinerzeit spätestens die Kinder von einem, der als Tscheche zugereist ist, als Wiener betrachtet. Wer ein Wiener sein will, ist für den Wiener ein Wiener. Deshalb hat einer, der in Wien versucht, Menschen ihrer Herkunft wegen gegeneinander auszuspielen, einen schweren Stand. Nicht das moderne Wien hat er gegen sich, im Gegenteil: Er rennt gegen den Wiener Geist an, gegen die Tradition Wiens als Hauptstadt des habsburgischen Vielvölkerstaates. Und nur ein Ang’rennter16 rennt in Wien gegen die Wiener Tradition an.

Wien tut alles, um die sozialen Zustände laufend zu verbessern. Sogar meine Generation spürt das deutlich. Zum Beispiel kann ich mich noch gut erinnern: Wie ich ein Kind war, da haben an der Tür oft die Hausierer geklingelt. Das sind alles arme Hunde gewesen. Reich geworden ist keiner von seinem Geschäft. Eine Viechsarbeit ist das obendrein gewesen. Sie müssen bedenken: Die meisten Häuser haben entweder keinen Aufzug gehabt oder einen, den nur die Hausbewohner aufsperren haben können. Die Hausierer haben Stiegen steigen müssen, hinauf und hinunter, samt dem schweren Zeug, das sie mit sich geführt haben, um es an der Tür anzubieten, und meistens hat man sie ihnen vor der Nase zugeschlagen, die Tür.

Meiner Großmutter hat einer ganz besonders leidgetan. Ein zartes Männlein ist das gewesen, klein und mager, mit einem eingefallenen Gesicht, einer spitzen Nase und einem Wust an weißen Haaren, auf denen ein viel zu kleiner Filzhut gesessen ist, eine Filzjacke hat er angehabt, so abgetragen wie der Hut, und noch dazu war ein Bein etwas lahm. Das Zniachtl17 hat Honig verkauft und Spitzwegerichsaft. Der Honig ist in dicke Gläser gefüllt gewesen und der Spitzwegerichsaft in dicke Glasflaschen. Das alles hat er in einem Rucksack transportiert und in zwei großen Taschen aus Leder, das schon ganz zerschlissen war. Sie können sich vorstellen, wie er geschleppt hat. Meine Großmutter hat ihm immer zwei Gläser Honig und zwei Flaschen Spitzwegerichsaft abgekauft. Ich glaube, sie hat das nur gemacht, weil sie ihm seine Last erleichtern hat wollen. Honig hat sie nämlich verabscheut, und auch ich habe nie Honig von ihr bekommen. Wahrscheinlich hat sie den Honig, den sie dem Zniachtl abgekauft hat, an irgendjemanden verschenkt. An den Spitzwegerichsaft kann ich mich aber erinnern, hellgelb und picksüß ist er gewesen. Ich habe ab und zu ein Glas davon bekommen, stark mit Wasser verdünnt. Meine Großmutter hat einmal in der Woche einen Teelöffel unverdünnt eingenommen. Das beuge dem Husten vor, hat sie gesagt.

Kaum hat meine Großmutter dem Hausierer die paar Schilling18 gegeben gehabt, die er für den Saft und den Honig verlangt hat, hat er gesagt: „Deaf i eana jetzt no wos vualesn?19“ Meine Großmutter hat gewusst, was kommt. „Nadüalich20“, hat sie, gutmütig wie sie gewesen ist, geantwortet. Der Hausierer hat eine Bibel aus dem Rucksack hervorgeholt, die ist völlig zerlesen gewesen, hat sie irgendwo aufgeschlagen, kurz nach vor und zurück geblättert, dann hat er gesagt: „Ah ja, da hamma scho was.21“ Dann hat er ihr zwei, drei Verse aus der Bibel vorgelesen, von denen er gemeint hat, dass sie gerade jetzt passen. Meine Großmutter hat an Gott geglaubt, sie ist auch in die Kirche gegangen, aber sie ist nicht so religiös gewesen, dass sie in der Bibel gelesen hätte. Katholiken machen das sowieso nicht so häufig wie Protestanten. Das hängt mit der Tradition ihrer Glaubensrichtungen zusammen. Wenn der Hausierer aus der Bibel vorgelesen hat, hat ihm meine Großmutter ganz ruhig zugehört und am Schluss „vergelt’s Gott“ gesagt. Der Hausierer hat gestrahlt, und ich bin sicher, er hat nicht gestrahlt wegen des kleinen Geschäfts, das er mit meiner Großmutter gemacht hat, sondern weil er ihr aus der Bibel vorlesen hat dürfen.

Auch eine alte Frau ist öfter gekommen. Klein ist sie gewesen und gebeugt. Meine Großmutter hat im fünften Stock gewohnt. Wenn sie bei ihr geläutet hat, ist sie außer Atem gewesen, hat gehustet und gekeucht. Meine Großmutter hat sie immer hereingebeten und sie in der Küche ausruhen lassen. Sie hat ihr ein Glas Wasser gegeben und ein Stück Gugelhupf, wenn vom Sonntag noch einer dagewesen ist. Die Frau hat Büschel von getrocknetem Lavendel verkauft. Sie hat sich in Positur geworfen als hätte sie einen Auftritt in der Wiener Staatsoper. Dann hat sie, mit zittriger Stimme und kurzatmig vom Stiegensteigen, das alte Lied der Lavendelweiber gesungen: „Lavendel kaft’s, fümf Schülling zwaa Boschn Lavendel. Lavendel kaft’s!22“ Das Lied hat sie sich nie nehmen lassen. Es ist für sie so eine Art Vorbedingung gewesen, um überhaupt ein Geschäft anbahnen zu dürfen, denn erst, nachdem sie das Lied gesungen hat, hat sie ihre Ware angeboten. Meine Großmutter hat ihr immer ein paar Büschel Lavendel abgekauft. Sie hat sie in die Wäschekästen gelegt. Alle Wäsche hat bei meiner Großmutter nach Lavendel gerochen. Heute noch glaube ich, denke ich an meine Großmutter, den Geruch von Lavendel in der Nase zu haben – oder den von Kölnischwasser, das ist meiner Großmutter das liebste Parfum gewesen.

Wenn wir uns so darüber unterhalten, merke ich, dass auf gewisse Weise auch meine Großmutter ein Original gewesen ist. Wir werden ihr sowieso noch einmal begegnen in Zusammenhang mit einem anderen Original, nämlich mit dem Bruno Kreisky.

Ja, schauen Sie, Original ist man oder ist man nicht. Es kommt nicht darauf an, ob einer berühmt ist, ob einer ganz hoch oben steht oder ganz tief unten. Abgesehen davon, wer sagt schon, was hoch oben und was tief unten ist? Ich kenne welche, die ganz hoch oben sind, aber für mich sind sie ganz tief unten, und ich kenne welche, die sind ganz tief unten, aber für mich sind sie ganz hoch oben. Es kommt nur darauf an, wie man es nimmt.

Jedenfalls sucht sich keiner aus, ein Original zu sein, nicht einmal in Wien. Man sagt nicht einfach: Ich werde ein Original, oder gar: Wenn ich schon sonst nichts erreicht habe, dann will ich wenigstens ein Original sein. Ich meine, es gibt schon Leute, die genau so handeln, nur sind die dann am Ende gar nichts, weder sind sie ein Original, noch sind sie sie selbst. Ein Original ist man, oder man entwickelt sich zu einem, ganz ohne eigenes Zutun. So ist das. Bei manch einem Original kennt man nicht einmal den Namen. Viele Marktfrauen waren Originale, zum Beispiel die Helga Barischitz. Die ist im Grund gar nichts Besonderes gewesen, und doch ist sie tief in meinem Gedächtnis mit ihrem rosigen Gesicht, der Haube und der Brille mit den runden Gläsern. Einen Fleisch- und Wurststand hat sie gehabt auf dem Brigittamarkt. Meine Großmutter und sie haben immer schmähgeführt. Einmal hat die Frau Barischitz gesagt, es sei vor einigen Jahren im Winter so kalt gewesen, dass ihr das Feuer im Kamin eingefroren ist. Hab’ ich Ihnen das schon einmal erzählt? Das ist der erste richtige Schmäh gewesen, den ich gehört habe. Die ist ein richtiges Original gewesen, die Frau Barischitz. Im ganzen Grätzel hat man sie gekannt und gemocht, weil sie es verstanden hat, jedem Menschen den Tag ein bisschen aufzuhellen, selbst wenn es schon ein wolkenloser Sommertag gewesen ist.

Apropos Original: Also die G’schicht’ mit der Tante Friedl und dem Oskar Piwonka – ich sage Ihnen …

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