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Jenseits des Vorurteils Rückblick

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»Tout comprendre c’est tout pardonner«

(altes Sprichwort)

»Wenn ein Deutscher nicht versteht,

verzeiht er das einem Ausländer nie.«

(revidierte Fassung)

I.

Der gängige Begriff des Vorurteils ist selbst eines. 1961 schrieb Horkheimer: »Seit dem Ende des Krieges war in Deutschland viel vom Vorurteil die Rede. In anderen Län­dern lange vorher. Wenn die Herabsetzung der Menschen wegen ihrer nationalen Herkunft, der Religion oder Hautfarbe erforscht und angegangen wurde, geschah es unter dem Titel des Vorurteils auch dann, wenn nicht bloß Apathie und soziale Benachteiligung, sondern der auf schwächere Gruppen gerichtete Haß, die organisierte Verfolgung, entfesselte Mordlust das Thema war. Der Euphemismus, der Gebrauch des harmlosen Wortes verdankt sich der Scheu, das Furchtbare zu nennen, ähnlich wie man gewaltsame Tötung durch gesellschaftliche Ordnungskräfte gleichsam beschwichtigend als Hinrichtung bezeichnet. Schließlich meint ein so gebrauchtes Wort nichts anderes mehr als die krasse Wirklichkeit, deren Bild es mildern sollte. Die unheimliche Bedeutung schlägt auf es zurück.«

Horkheimers Bemerkungen »Über das Vorurteil« erschien damals in der FAZ (vom 20. Mai 1961) wenige Tage vor der endgültigen Rehabilitierung des ehemaligen Nazi-Beamten und nachmaligen bundesrepublikanischen Staatssekretärs Globke und wenige Tage bevor der Bundestag mit einer einzigen Gegenstimme ein Gesetz verabschiedete, wonach Richtern und Staatsanwälten der Umstand verziehen wurde, daß sie bis 1945 Mitglieder einer kriminellen Vereinigung gewesen waren, wenn sie sich auf eigenen Wunsch zum Pensionär befördern ließen.

Gut zwei Jahrzehnte später waren sich die Bürger der Bundesrepublik dann untereinander als Deutsche so nahe­gekommen, daß das Projekt der umfassenden Ehrenrettung der eigenen Vergangenheit in Angriff genommen werden konnte, ein Unternehmen, welches schließlich mit der in Bitburg und Belsen offiziell beglaubigten Lüge von der Austauschbarkeit der Opfer mit den Tätern seinen logischen Abschluß fand. Dieser innenpolitische Wandel durch Annäherung, dessen Geburtsstunde mit dem Selbstmord des politischen Protests und einigen wirklichen Toten zusammenfiel, wird gegenwärtig zwar täppisch, aber um nichts weniger erfolgreich fortgesetzt als unter dem früheren Kanzler, dem die Kritiker des jetzigen nachtrauern wie manche Alte dem Führer.

Die Wiederkehr des Kollektivbewußtseins waren jedoch Grenzen gesetzt; nach außen unüberwindbar standen ihm die Resultate seiner früheren Veranstaltungen entgegen, und so mußte es sich ersatzweise mit der Wiedervereinigung mit der deutschen Geschichte begnügen. Im Verlauf dieser wechselseitigen Annäherung fand gewissermaßen eine bundesweite Familienzusammenführung statt, welche wiederum den einzelnen Angehörigen neuen Lebensmut einflößte. Wo vordem die Generationen zutiefst entzweit waren, da verstanden nun die Jungen die Alten; wo sich der Geschlechterkampf unter der Parole »Frau sein, das ist das Grundrisiko« mühsam dahinschleppte, da wurde mit der Entdeckung eines geschlechtsübergreifenden Grundrisikos, nämlich deutsch zu sein, die Frauenbewegung noch einmal gerettet, und vom Tarifpartner zum Gefolgschaftsmitglied war es ohnehin nur ein kleiner Schritt. Selbst die Friedensbewegung drohte wie die Alternativszene an innerer Auszehrung und an zänkischen Querelen einzugehen, als schließlich ein staatliches Sanierungsprogramm in Gestalt von zahlreichen gemeinschaftsstiftenden Gedenktagen dem darniederliegenden Patienten wieder auf die Beine half. Als erfolgreichster Arzt am Krankenbett der Volksgemeinschaft hat sich in jüngster Zeit der Bundespräsident erwiesen, dessen Reden über das neue Nationalgefühl Kinder wie Greise, Männer wie Frauen, Linke wie Rechte in eine gedämpfte Entzückung geraten lassen, wie man sie aus der Gruppentherapie kennt. Nach der Rede Weizsäckers zum 8. Mai gab es in der Bundesrepublik weder die alten Parteien, noch die neuen Betroffenen, sondern nur noch die ganz neuen Ergriffenen. Sogar die DKP war davon hingerissen, daß der Bundespräsident neben den Soldaten der deutschen Armee auch die umgebrachten Kommunisten unter die Opfer rechnete, und schickte Weizsäcker ein Glückwunschtelegramm. Und Habermas, der es einmal besser wußte, bescheinigte der Ansprache des Bundespräsidenten, in der nicht von der Wahrheit, sondern von der Wahrhaftigkeit die Rede war, sie sei eine »der wenigen politischen Äußerungen ..., die der Herausforderung zwölf plus vierzig Jahren« gerecht geworden sei. Weil die Botschaft manches brachte, wurde vielen etwas gebracht: den Mitläufern, daß sie damals in gutem Glauben und mit den besten Absichten auf eine verbrecherische Clique hereingefallen seien, in deren Händen die Ausführung der Verbrechen gelegen habe, daß also der Völkermord nicht auch ein mordendes Volk zur Voraussetzung gehabt habe; den Friedensfreunden und den Heimatbewegten, daß Friedenssehnsucht und Heimatliebe identisch und damit der Pazifismus eine nationale, der Revanchismus andererseits eine philanthropische Sache sei; den Frauen, sie hätten durch »ihr Leiden, ihre Entsagung und ihre stille Kraft in den dunkelsten Jahren das Licht der Humanität vor dem Erlöschen bewahrt«. Diese nachträgliche Verleihung des Mutterkreuzes an alle deutsche Frauen hatte Kohl schon Jahre zuvor besorgt, ohne diese Geste mit verhunztem Rilke zu erläutern: »Meine Hochachtung unseren Müttern, die ein Leben lang ihre Pflicht getan haben, ohne zu protestieren«, sagte er 1982 in einem Interview mit Bild der Frau. Nach Weizsäckers Rede zur 40-jährigen Wiederkehr des Kriegsendes wurden in Anlehnung an Tucholskys Diktum, daß Satire eine Grenze nach oben habe, daß sich ihr beispielsweise Buddha entzöge, die Höhenlinien der politischen Satire neu gezogen. Eine Kabarettistin bekannte im Fernsehen gerührt, in jene Regionen sei der Bundespräsident nun aufgestiegen.

Nicht als Buddha, sondern als eine Art Baghwan wurde Wochen später der Bundespräsident von den Teilnehmern des evangelischen Kirchentags umjubelt, nachdem er erklärt hatte, als Bürger dieses Landes sei man zuerst Deutscher und dann ein Mensch. Bei dieser Eucharistiefeier des neuen Nationalismus fanden die politischen Bewegungsformen der letzten Jahre ihren vollendeten Ausdruck: die dort ihr neues Idol feierten waren nicht die fanatisierten Anhänger irgendeiner Bewegung oder himmelten einen grimassierenden Führer an, sondern sie bildeten eine gedopte Gemeinschaft; sie bedurften keines Agitators, sondern eines hypnotischen Weichmachers. Als Evangelist des Nationalgefühls fügte Weizsäcker den Zehn Geboten noch ein deutsches hinzu: »Mein Deutschsein ist also kein unentrinnbares Schicksal, sondern eine Aufgabe«.

Worin diese Aufgabe besteht, das machte der Hinweis des Bundespräsidenten auf den »naturgegebenen Sachverhalt, deutsch zu sein«, deutlich: wie zu jeder historischen Einigungsbewegung in Deutschland gehört auch zur neuen deutschen Identitätsfindung die Abgrenzung, die Einheit aufgrund des bestimmten Unterschieds, der ein naturgegebener sein soll. Folgt man dieser Logik, dann unterschieden sich beispielsweise Deutsche und Franzosen wie Affen und Känguruhs. Da aber jeder weiß, daß die Franzosen keine Känguruhs, sondern Menschen sind, ist offenbar der einzige naturgegebene Unterschied der zwischen einem Deutschen und einem Menschen. Jeder Patriotismus in Deutschland wäre ohne diese Unterscheidung vollkommen bedeutungslos geblieben, doch genau aus ihr bezog er seine barbarischen Qualitäten. Und deshalb hatten die Deutschen, die sich als solche fühlten, auch nie etwas davon, sondern die anderen hatten nur immer darunter zu leiden.

Vom Resultat her betrachtet hatte die große Sehnsucht nach Frieden, sauberer Luft und einem gesunden Körper nur den einen Zweck, sich zum neuen Nationalismus das rechte Gewissen zu machen. Die Bombe ist nicht weg, aber dafür ist die Einheit da; die Bevölkerung nimmt ab, aber dafür wird das Volk wiedergeboren; die Abgase fressen weiter am Wald, doch der Bürger wittert Morgenluft. Im Arsenal des diffusen Schreckens hat er neben der Bombe, der Vergiftung und der Verseuchung eine höchst konkrete Bedrohung ausgemacht: die Ausländer. In keiner Frage sind sich daher auch die Deutschen so einig wie in der Frage: »Zu viele Türken?«

Bereits vor fünf Jahren war offenkundig, daß diese Frage, mit welcher ein Leitartikel der FAZ überschrieben war, keinen Zweifel, sondern eine Feststellung ausdrückte, in der die Aufforderung »Türken raus« schon mitklang. Jener Leitartikel brachte stellvertretend einige Argumente des wiederkehrenden Fremdenhasses vor und las sich wie ins Deutsch eines Regierungssprechers übersetzte rechtsradikale Propaganda: »Auch eine noch so dynamisch eingestellte Gesellschaft erreicht eines Tages die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit. In Deutschland sind in den letzten Jahren Inseln fremder Lebensart, fremder Kulturen entstanden. Keiner weiß, was sie (die Türken) wirklich denken, fühlen und wollen. Für ein Land gibt es nicht nur Grenzen der Integrationsfähigkeit, es gibt auch Grenzen der Toleranz. Liberalität muß da ihre Grenzen haben, wo das Zusammenleben der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Der Bogen wird überspannt, wenn in unserer Mitte immer mehr Menschen leben, die wir nicht verstehen, die uns nicht verstehen und die mit uns nicht wirklich zusammenleben wollen – oder können.«

So sähe, wenn es derartiges gäbe, das knapp skizzierte Selbstportrait des deutschen Volkscharakters aus. Man braucht keine Türken zum Beweis heranzuziehen für den Umstand beispielsweise, daß man in Deutschland noch immer besser monatelang tot in seiner Wohnung verschimmelt, als lebendig begraben zu sein inmitten einer Nachbarschaft von potentiellen Blockwarten. Genausowenig bedarf es in Deutschland der Türken, um sich die Grenzen des Verstehens, will heißen die eigene Borniertheit, vor Augen zu führen. Dem Hohn über das gebrochene Deutsch der Ausländer, dem sich die Einheimischen so unschwer assimilieren, korrespondiert die Wut über die eigene Artikulationsunfähigkeit, die in der neuen Vorliebe für die Mundart und im antiintellektuellen Ressentiment sogar als Verdienst erscheint.

Als Kohl vor Jahren seinen mentalen Offenbarungseid ablegte mit der Erfolgsmeldung: »Ich war schon immer gut in Hölderlin«, da wurde er zu Recht Gegenstand der Verachtung, doch mit dem falschen Unterton, als käme es auf Kultur an, nicht nur um Kanzler zu werden, sondern überhaupt; als käme es auf Bildung an und nicht auf Versiertheit, auf Reflexion und nicht auf Bescheidwissen. Kohls sprachliche Visitenkarte ist jedoch nur ein repräsentatives Beispiel für die gesellschaftlich produzierte durchschnittliche Beschränktheit. Diese wiederum kennt keine Schranke außer der, welche sie zwischen sich und den Ausländern errichtet: zu sagen hat niemand etwas, aber alle reden. Je weniger man begreift, desto mehr kommuniziert man. Und wenn keiner etwas versteht, dann versteht man sich untereinander, dann gibt es den Dialog zwischen den Generationen: vom Verstand über die Verständigung zum Verständnis. Beginn und Verlauf dieser Entwicklung in der Bundesrepublik decken sich mit der Zunahme der fremdenfeindlichen Propaganda.

In Berlin beispielsweise muß man nicht Türke sein, um die Kehrseite jenes von Ausländern faszinierten Hochgefühls der Szene kennenzulernen. Bei einer Diskussionsveranstaltung mit Hausbesetzern wurde der eingeladene Referent, der die Hausbesetzerbewegung als eine Mischung aus Rebellion und Heimwerkelei beschrieb,1 mit dem in Deutschland schon immer beliebten Vorwurf be­dacht, er sei ein Intellektueller. Wie um diesen Schimpf noch zu steigern fügte jemand hinzu, er solle doch besser wieder nach Westdeutschland an seinen Schreibtisch zurückkehren, hier habe er nichts zu suchen. In André Hellers »heimlicher Hauptstadt der Phantasie« hat nun offenbar auch die Subkultur jenen wachen Instinkt entwickelt, den der Mob dort schon immer besessen hatte: nämlich Kritiker als intellektuelle Ausländer zu identifizieren. Irgendwo hat Adorno einmal geschrieben, daß sich die sture Begeisterung für Neger ohne weiteres mit der Entrüstung über die Unangepaßten vertrage.

Von heute her gesehen war die Verwandlung des Internationalismus der Protestbewegung in den Exotismus der Alternativbewegung, in die Vorliebe für Hopi und Hokuspokus, nur die auswendige Vorbereitung der inwendigen Rückkehr zur Heimat. Dem Rückzug in die Gruppe mit den notwendigerweise kümmerlichen Beutestücken des Imperialismus, wie Drogen, Mythen oder Musik, entsprach der Aufbruch zur Gemeinschaft, aus der kleinen Sekte entsprang die große Gefolgschaft.

Am fernen angeblich ursprünglichen Gemeinwesen soll­te das deutsche genesen, und dementsprechend ist auch die neue nationale Identität beschaffen. Mit der Rückverwandlung der deutschen Bevölkerung ins deutsche Volk war der Umweg über die exotischen Regionen der Welt überflüssig geworden und die Angehörigen des neu formierten Kollektivs konnten auf hausgemachte Stammesrituale wie Fackelzüge und Mahnwachen, Thingversammlung und Feldgottesdienst zurückgreifen. Mit anderen Worten: die Begeisterung für ferne Länder und Folklore ging einher mit der Wiedergeburt der Volksgemeinschaft; in der Idolatrie war das künftige Feindbild schon vorweggenommen. In diesem Prozeß wurden die verschiedenen Gruppen dem Bild, das sie von den ganz Anderen hatten, immer ähnlicher, und die regressive Entdifferenzierung der Welt endete mit der Wiederbelebung rassistischer und chauvinistischer Ideolo­gien.

Daß Fremdenhaß und Antisemitismus keine kontingenten Erscheinungen, sondern konstitutiv für die Wiederkehr des nationalen Kollektivbewußtseins in Deutsch­land sind, schrieb Adorno 1962 in einer Passage, die wie auf die achtziger Jahre gemünzt klingt: »Im Augenblick nährt noch eine besondere Situation antisemitische Regungen. Ich meine den antiamerikanischen Affekt (...) Wirksame Abwehr des Antisemitismus ist von einer Abwehr des Nationalismus in jeglicher Gestalt unabtrennbar.« Damals gab es noch keine Friedensbewegung, kaum ausländische Arbeiter in der Bundesrepublik, und Israel war zwar für das internationale Ansehen der BRD interessant, aber noch nicht für die Rehabilitierung der eigenen Vergangenheit.

Wie der Antisemitismus der realen Erfahrung mit Juden entraten kann, so ist auch die neue Xenophobie nicht abhängig von der Anwesenheit der Ausländer. Deshalb waren Feststellungen wie etwa die Bemerkung Margarete Mitscherlichs, der Antisemitismus sei in Deutschland nicht ausgestorben, obwohl es kaum noch Juden hier gebe, eine implizite Konzession ans antisemitische Ressentiment, wie andererseits die Bestimmung der »Toleranzgrenze« durch den ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen dem Ausländerhaß eine sogar quantitativ bestimmbare Berechtigung zusprach.

Der Sozialdemokrat Kühn erklärte: »Übersteigt der Aus­länderanteil die Zehnprozentgrenze, wird jedes Volk rebellisch.« Es bedarf nicht erst der Friedhofsschändungen oder der Brandstiftung in Ausländerunterkünften, also der manifesten Äußerungen von Antisemitismus und Fremdenhaß, sondern es liegt in der Logik des Kollektivbewußtseins beschlossen, daß die gleichgeschaltete Gemeinschaft andere nur als ihr eigenes verzerrtes Spiegelbild wahrnehmen kann. Wenn heute ein Deutscher als Deutscher auftritt, dann wartet er auf eine Gelegenheit.

Die Begeisterung für die Ausländer und deren Lebensgewohnheiten reflektiert bloß die tribalistische Regres­sion der Begeisterten. Daß die Türken dabei, wie es ein Sponti mal salopp formulierte, »rausfallen«, folgert notwendig aus dieser Vergötzung, die umgekehrt die Entwicklung zum neuen Stammesverband bekräftigt. Wenn der Bundestagspräsident erklärte, »daß der Verfassungsbegriff ›deutsches Volk‹ letztlich ethnisch bezogen ist«, dann resümierte er damit zwar die Verwandlung der Bürger in Hammel, aber diese Auskunft hat immerhin den Vorzug, daß sie offen eingesteht, was sich hinter dem propagandistischen Urschrei – hinter Kulturnation und kultureller Identität – verbirgt, wenn es um die Türken geht: Rassismus.

An den Türken wird die Betonung der Differenz, von welcher die kollektive Identitätsfindung zehrt, zum absoluten Unterschied gemacht, der in der Praxis schließlich abgeschafft werden soll: die Türken müssen raus, weil sie draußen sind. Darauf verweisen die im Schwange befindlichen Witzeleien über Türken, denen etwa soviel Esprit innewohnt wie einem Schlagstock. Als dumpfe umgangssprachliche Aufforderung zur Vernichtung stellen sie gewissermaßen einen Ersatz dar für die heute fehlende behördliche Anordnung. Sie strotzen vor hygienischen Metaphern, in ihrer koprophilen Ausdrucksweise lebt der verpönte Trieb fort, der, auf die Türken projiziert, Lustgewinn und Feineinstellung besorgt. Darin drückt sich kein irrationales Festhalten an alten Vorurteilen aus, sondern es sucht sich die abstrakte Wut der Massen über die Erkenntnis, daß es auf keinen von ihnen ankommt, ein konkretes Objekt. In einer sprachlichen Sonderbehandlung sollen diesem die letzten menschlichen Bestimmungen ausgetrieben werden. Zum Ding, zum Tier, zu Dreck und Gestank gemacht, wovon nicht allein die grassierenden Witzeleien Zeugnis ablegen, erscheinen die Türken als Objekt einer notwendigen und legitimen Säuberung der Gesellschaft. Dem antitürkischen Witz kommt dabei die Funktion zu, den angeblich gefährlichen Feind in schwache, verfolgte Opfer zu verwandeln. Die Nichtswürdigkeit der Opfer steht symbolisch für den jämmerlichen Protest, den die Witzbolde gegen ihre eigene Nichtigkeit erheben. Im antitürkischen Vernichtungshumor, der auf augenfällige Weise die Antiquiertheit des Begriffs vom Vorurteil demonstriert, ist deshalb Auschwitz immer präsent. Er ist durchweg nach dem Muster des Graffiti gewirkt, das die wachsende Bedeutung der öffentlichen Toiletten als seelische Bedürfnisanstalten dokumentiert: »Was die Juden hinter sich haben, das haben die Türken vor sich.« Die Witzbolde wollen schnell zur Sache kommen, doch der blutige Ernst, den die vernichtungsbereiten Paranoiker mit standardisiertem Haß beschwören, läßt auf sich warten. Und darum lebt das angedrehte Gelächter der versagenden Gegenwart auch von der Erinnerung an eine erfüllte Vergangenheit.

II.

Marx bemerkt in seiner Einleitung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, die Deutschen hätten in ihrer Geschichte immer nur die Restauration der anderen Völker geteilt, nie aber deren Revolutionen. Dieses Resümee war, wie man heute sieht, leider auch eine futurologische Prognose. Das Neue war das Immergleiche, es gab keine Revolutionen, stattdessen Reprisen. Bei diesem immerwährenden Dakapo erwiesen sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit als monotone und besonders zählebige Grundströmung: sie sind das Ostinato der neueren deutschen Geschichte.

Staatliche Gratifikationen für die Massen, wie etwa die Sozialreformen Ende des letzten Jahrhunderts, oder schließlich die Integration der organisierten Arbeiterbewegung in das Regelsystem der Macht, waren ein allzu dürftiger Ersatz für das versprochene Paradies auf Erden. Deshalb sollte es im Diesseits wenigstens eine richtige Hölle geben – für die Juden, die Fremden, die Ausländer, an denen sich die Abgerichteten wieder aufrichten konnten. Nur endete dieser Vertrag der sozialen Wut mit der Macht regelmäßig in einem Fiasko: die Opfer, an denen man sich schadlos halten wollte, wuchsen zu Leichenbergen an, doch die Massen hatten nichts davon. Weil sie wußten, daß ihre eigene Niederlage schon im voraus beschlossen war, sollte es vor ihnen noch die anderen erwischen. Die Volksgemeinschaft brüllte diese Erkenntnis schließlich in die ganze Welt hinaus: »Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt...«

Heute müssen sich die Deutschen mit einer Notlösung begnügen: der Haß auf die Ermordeten hat diese überlebt, je nach Konjunkturlage geht er gegen die Toten, gegen Amerika, gegen Israel; und weil die Siegermächte einen dritten deutschen Weltkrieg für immer vereitelt haben, muß sich der fortdauernde Groll gegen das Ausland mit den Ausländern behelfen.

Unter diesem Blickwinkel betrachtet eignet der jüngeren deutschen Geschichte eine eigentümliche Resistenz gegen jede Niederlage. Die Folgen rehabilitierten jeweils die Voraussetzungen, niemals gab es einen Neuanfang, sondern immer nur den Wiederaufbau. Dieser bezog seine Dynamik nicht aus dem radikalen Bruch mit dem Alten, sondern aus der Nähe zu ihm: seit es kein Propagandaministerium gibt, wetteifern die Massenmedien mit den Regierungssprechern; nach der Abschaffung einer alles durchdringenden Geheimpolizei ist nach dem Muster der beliebten TV-Sendung »Aktenzeichen XY ungelöst« all­mählich ein freiwilliger kollektiver Spitzel entstanden; an der Nahtstelle von Masse und Macht befindet sich heute kein Blockwart, sondern der als Kontaktbereichsbeamte sehr viel präziser bezeichnete Funktionsträger bürgernaher Herrschaft.

Mit den Ideologien verhält es sich nicht anders. Die Deutschen sind heute nicht etwa trotz, sondern wegen Auschwitz Antisemiten. Wegen Auschwitz halten sie sich für das neue auserwählte Volk, für die Juden unter den Nationen der Welt, denen als Volk der atomare Holocaust drohe. Nicht zufällig kehren die paranoiden Verschwörungsprojektionen wieder bei den Versuchen, die deutsche Geschichte wiedergutzumachen, einem Unternehmen, bei dem sich die literarischen Konkursverwalter der Protestbewegung besonders hervorgetan haben.

Ein Beispiel von vielen ist der unter dem Namen Gerd Bergfleth wiederauferstandene Eugen Dühring, der bereits vor Jahren eine feuilletonistische Umwälzung der Wissenschaft vorlegte, die zu einer Neufassung des – schon immer falschen – Diktums von Bebel zwingt, der Antisemitismus sei der »Sozialismus des dummen Kerls«. Bergfleth schreibt: »Den entscheidenden Faktor der Linkswende (in der neuen Aufklärung nach dem Kriege) aber bildete die zurückgekehrte deutsch-jüdische Intelligenz, die eine letzte Chance erhielt, Deutschland nach ihren weltbürgerlichen Maßstäben umzumodeln – ein Prozeß, der so vollständig gelang, daß für zwei Jahrzehnte von einem eigenständigen deutschen Geist nicht mehr die Rede war.« Der eigenständige deutsche Geist hat, wie Bergfleths »Kritik der palavernden Aufklärung« demonstriert, nicht nur Kriegsniederlage und Reeduca­tion überlebt, sondern genau daraus seine ihm eigenen Qualitäten bezogen: »Es ist auffällig, daß das aufklärerische Judentum in der Regel keinen besonderen Sinn für das besitzt, was deutsche Eigenart ist, etwa die romantische Sehnsucht, die Verbundenheit mit der Natur oder die nicht auszurottende Erinnerung an eine heidnisch-ger­ma­nische Vergangenheit.«

Das ist der alte Frontbericht vom Kampf der deutschen Eigenart gegen die palavernde, das heißt mauschelnde Aufklärung, die pikanterweise als – vergebliche – Bemühung bezeichnet wird, das germanisch Unbewußte auszurotten – ein Gedanke, der im neo-patriotischen Kulturkampf gegen die »Kolonialisierung der Köpfe« seinen Platz hat. Insofern muß Bebels Definition revidiert werden: der Antisemitismus heute ist der Antiimperialismus des Paranoikers.

Die antijüdischen Begleiterscheinungen bei der Rehabilitierung der deutschen Wehrmacht in Bitburg waren nur das vorerst letzte Beispiel für die Fortzeugung dieser Haltung, die ein israelischer Publizist auf die folgende Formel gebracht hat: »Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen.«

Den von Grillparzer formulierten Dreischritt: »Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität« haben die Deutschen längst hinter sich, die Alternative »Sozialismus oder Barbarei« ist entschieden. Seither gibt es nur noch Remakes, die den Strophen im Endloslied vom Mops, der in die Küche schleicht, gleichen. Dies macht auch die zeitliche Fixierung und die soziale Lokalisierung von rassistischen Äußerungen so schwierig für den Fall, daß man einmal vergißt, deren Quelle exakt zu notieren. Sie sind meist so austauschbar, daß für einen völlig Außenstehenden der erste literarische Kontakt mit der neueren deutschen Geschichte verwirrend sein muß: warnte Wilhelm II. vor der Islamisierung Deutschlands und der CDU-Fraktionsvorsitzender Dregger vor der »gelben Ge­fahr«?

Alle Grenzen verwischen sich angesichts der Ausländer, und man begreift allenfalls, daß die Geschichte der Humanität in Deutschland die Geschichte des Aufstiegs von Gustav Noske zu Heinrich Lummer ist. Vom Sozialdemokraten Noske ist der geflügelte Ausspruch der Konterrevolution: »Einer muß der Bluthund sein« überliefert, mit dem er 1919 den Auftrag gab, die Revolutionäre niederzukartätschen. Vom Christdemokraten Lummer wurde eine analoge Sentenz nicht berichtet, als in der Silvesternacht 1983 sechs Ausländer unter der Aufsicht des Wachpersonals in einem Abschiebegefängnis verbrannten. Lummer war weniger lakonisch: »Da es leider keine Möglichkeit gibt, mit drastischen rechtlichen Mitteln vorzugehen, müssen wir eine Reihe von anderen Maßnahmen überlegen.« Mangels revolutionärer Umtriebe muß sich der ehemalige Westberliner Innensenator damit zufrieden geben, in einem anderen Fach den Noske zu geben: in der Fremdenfeindlichkeit.

Noske war auf diesem Gebiet schon vor dem ersten Weltkrieg zu einem Experten herangereift. In einer Reichstagsdebatte 1909 wandte er sich als Sozialdemokrat gegen die Beschäftigung von Schwarzen und Chinesen auf Schiffen des Norddeutschen Lloyd: »So weit geht unsere Solidarität nicht, daß wir den Chinesen alles Gute wünschen, während unsere eigenen Arbeiter auf der Straße liegen bleiben; wir erklären, daß uns natürlich das Hemd näher ist als der Rock, daß in erster Linie dafür zu sorgen ist, daß der deutsche Arbeiter unter annehmbaren Existenzbedingungen zu leben hat, und wenn das erreicht ist, wollen wir allerdings den Chinesen gern dazu helfen, zu einer höheren Kulturstufe zu gelangen.« Das ist der zeitlose Brustton des deutschen Gewerkschaftsfunktionärs, in welchem der Gedanke des Sozialismus die Massen erreicht, damals aus dem Reichstag, heute vom Bildschirm. Solidarität ist ihm zufolge Kumpanei auf »einer höheren Kulturstufe«. Damit ist auch das Zauberwort gefallen, mit welchem seit jenen Tagen jede Schandtat in eine Wohltat verwandelt wurde: Kultur. »Kolonialpolitik zu treiben, kann unter Umständen eine Kulturtat sein«, verkündete 1907 ein prominenter Sozialdemokrat auf dem Sozialistenkongreß in Stuttgart. Sieben Jahre später stimmten alle »die Bebels, die borniertesten Verteidiger der repressiven Kultur« (Adorno) den Kriegskrediten zu, um eine Kulturmission zu erfüllen.

Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs eröffnete sich für die Deutschen nicht nur ein weites Feld solchermaßen verstandener Kulturpolitik, sondern es ergaben sich auch exzellente Bedingungen, die sukzessive erworbenen Aus­drucksformen von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit gewissermaßen unter Laborbedingungen anzuwenden. Als Testperson griff man sich die Juden in den von der Armee okkupierten Gebieten Osteuropas, und nach dem Rotationsprinzip durfte in der Folgezeit jeder am Experiment teilnehmen: Radau-Antisemiten und akademische Judenhasser, Lebensreformer und Naturschützer, völkische und christliche Antisemiten, Deutschnationale und gelegentlich auch Kommunisten.

Unter Berufung auf einen überstaatlichen Kulturbegriff, der heute wieder im Schwange ist, empfahlen damals jüdische Vereinigungen im Deutschen Reich den Politikern eine Art Wiedervereinigung mit den osteuropäischen Juden, den »Pionieren des Deutschtums im Osten«, die dort angeblich »einen festen Damm gegen das Vorrücken östlicher Unkultur und Barbarei bildeten, doch der völkische Unvereinbarkeitsbeschluß der Behörden und Militärs konnte durch diese Offerte nicht erschüttert werden: wenig später ließ man die jüdischen Kriegsteilnehmer auszählen, um schon vor Kriegsende den Schuldigen an der Niederlage zu ermitteln. Zwar erklärte der deutsche Generalstab in einer Proklamation »An die Juden in Polen«, die deutsche Armee sei eigentlich keine, sondern ein revolutionäres Kommando, das der Freiheit und Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfe, doch dieses einzigartige Dokument deutscher Freiheitsliebe und Revolu­tionsbereitschaft, das in über hunderttausend Exemplaren verteilt wurde, war nur ein taktisch geplantes und mit Erfolg produziertes Mißverständnis: Tausende von polnischen Juden nahmen es für bare Münze – schließlich kam Ludendorff aus dem Land Heines und Goethes – und wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland befreit oder von der gegnerischen Seite als Kollaborateure massakriert. Zehntausende flohen gegen Kriegsende vor den in Osteuropa beginnenden Pogromen über die deutsche Grenze, ein Flüchtlingsstrom, der nach 1918 noch anschwellen sollte, und bildeten – vor allem in Berlin – nun die leicht identifizierbare Inkarnation einer völkischen Wunschvorstellung: die leibhaftige Einheit von Jude und fremdem, schwarz gekleidetem Ausländer – sozusagen jüdische Neger.

Wer als Flüchtling kam, mußte anrüchig sein, denn er hatte in den Augen der Eingesessenen die Loyalität zu seinem Heimatland aufgekündigt, er war ein Landesverräter. Deshalb sollte er auch keine Heimstatt finden und, weil er hilflos war, keine Hilfe. Schon damals wurden die Neuankömmlinge nach einer letztlich unerheblichen Unterscheidung in politische und Wirtschaftsflüchtlinge ein­geteilt. In den Augen aller waren sie zuerst einmal Störenfriede, unfähig zur Gefolgschaft und – wie es heute heißt – nicht integrierbar. Die allgemeine Angst vor dem Chaos hatte selbst diejenigen erfaßt, die um das Wohl der Flüchtlinge besorgt waren: »Der eigentliche Feind des polnischen Juden ist nämlich die übertrieben individualistische Einstellung seines Innern«, hieß es in einem Bericht der Sozialistischen Monatshefte über »Ostjüdische Arbeiter in Deutschland«. Dieses implizite Lob für die Deutschen hat sich bis in die neuesten Charakterisierungen von Fremden erhalten und taucht beispielsweise 1980 in einer Passage des Verfassungsschutzberichtes auf, in welcher den Türken ein »heftiger, schwer disziplinierbarer Volkscharakter« attestiert wird.

Die Ostjuden kämen der liberalen Wirtschaftsordnung wegen in Scharen nach Deutschland und schleppten die Symptome der Krise und der Asozialität ein, übertönten die Antisemiten die den Massen dämmernde Erkenntnis, daß diese Ordnung sie selbst tendenziell zu überflüssigen Menschen machte. Die Ostjuden ihrerseits mußten bald nach der Ankunft in Deutschland die Illusion begraben, es gäbe noch andere als ökonomische Gründe für die Wahl des Zufluchtsorts. ln der ersten seiner gedruckt vorliegenden Reden beschrieb Hitler stilbildend für den gegenwärtigen veröffentlichten Fremdenhaß nicht nur, mit welchem Erfolg die Ausländer den Deutschen die Arbeitsplätze wegnähmen, sondern auch, daß im Begriff des Wirtschaftsflüchtlings die Rechtlosigkeit der Person oder, antisemitisch ausgedrückt, deren Ausgrenzung als Fremdkörper vorausgesetzt ist: »Vergleichen Sie die l Million Arbeiter in Berlin vom Jahre 1914 mit dem, was sie heute sind: Arbeiter wie damals. Was hat sich an ihnen geändert? Sie sind arm geworden. Und nun suchen Sie nach jenen 100.000 Ostjuden, die in den ersten Kriegsjahren einwanderten. Sie finden sie heute überhaupt nicht mehr. Der größte Teil von ihnen hat sich ›gemacht‹ und sitzt bereits im Auto. Nicht weil sie gescheiter sind (...), sondern aus dem einfachen Grunde, weil diese 100.000 von vornherein niemals bereit waren, redlich mitzuarbeiten in einem gesunden Volkskörper zu gemeinsamem Gedeihen, sondern im vornherein den gesamten Volkskörper als nichts weiter ansehen denn als Mistbeet für sich selber.«

Einen ersten Erfolg konnte die kollektive Überfremdungsangst 1918 mit dem vorübergehenden Grenzschluß verbuchen, der für die östlichen Grenzen des Deutschen Reichs mit dem ausdrücklichen Hinweis auf eine von den Flüchtlingen drohende Verseuchungsgefahr angeordnet wurde. 1920 machte sich der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, Ernst, genau die Sorgen, von denen seine Nachfolger heute wieder gequält werden: »Die Ostjudenplage wird, da es sich hier nicht nur um lästige, sondern höchst gefährliche Ausländer handelt, in ihrer jetzigen Duldung und wohlwollenden Behandlung künftighin politisch, wirtschaftlich und gesundheitlich die furchtbarsten Gefahren zeitigen.« Deshalb legte er als Behördenchef nicht nur eine besondere Einsatzfreude bei den legalen Pogromen, den Razzien, an den Tag, sondern empfahl auch, was rund sechzig Jahre später unter die »Reihe von anderen Maßnahmen« fiel: das Sammellager, die Abschiebehaft. Beide sind Einrichtungen einer modernen Entdeckung: der Heimat. Wem nicht zwangsweise wieder zu einer solchen verholfen werden konnte, indem man ihn meist in den sicheren Tod repatriierte, dem blieb als einzige Heimat das Lager.

Unter welchem bis ins Detail reichenden Wiederholungszwang die Gegenwart steht, beleuchtet der folgende Zeitungsbericht über eines der 1921 außerhalb Berlins errichteten Internierungslager: »Vor einigen Tagen ist im Lager Stargard eine mit 80 Mann belegte Baracke abgebrannt. Da absolut keine Löschmittel zur Verfügung standen, die Wachmannschaften offenbar, entgegen ihrer Pflicht, nicht rechtzeitig einsprangen, brannte die ganze Baracke nieder. Da die Baracke verschlossen war, sprangen die Internierten zum Fenster heraus. Sie wurden daraufhin von den Wachmannschaften beschimpft und zum Teil mit Kolbenschlägen mißhandelt. Am folgenden Tage beim Appell wurde den Internierten angedroht, daß sie, falls nochmals eine Baracke in Brand geraten würde, nicht mehr herausspringen dürften, sie sollten ruhig verbrennen.«

Im November 1923 wurde die Frage des sozialdemokratischen Abgeordneten Davidsohn »Wann findet – wenn das so weiter geht – zu Berlin oder sonstwo in Deutschland der erste fidele Judenpogrom statt?« beantwortet: der Mob zog prügelnd und plündernd durch das Berliner Scheunenviertel. »Der Nazismus stieß seinen ersten Schrei aus«, schrieb Döblin. Hier wurde geprobt, was später, als alle mitmachen durften, Programm wurde. Die Sozialdemokraten taten nichts, was den Ehrentitel »Judenschutztruppe«, den ihr die Nazis verliehen, hätte rechtfertigen können, und die Kommunisten waren gerade dabei, die Faschisten als Hilfstruppen der Revolution zu gewinnen. Nie war der Antisemitismus und der Ausländerhaß später wütender als in den Jahren zwischen 1919 und 1923, in denen die Ostjuden als Objekt der Einübung auf Kommendes dienten. Die Rücksichten, die noch deutschen Juden galten, fielen weg. Nach 1933 wurde der Mob an die Kandare genommen und der Antisemitismus in staatliche Regie. Die wilden Pogrome von 1923 waren also das Vorspiel zu dem ein Jahrzehnt später bürokratisch exekutierten »Antisemitismus der Vernunft« (Hitler), der schließlich die industrielle Massenvernichtung vorbereitete.

Die ostjüdischen Flüchtlinge nach 1918 waren die Verkörperung einer unerlaubten Schande: sie hatten nicht einmal den Krieg verloren. Sie waren einfach da. Sie waren zwischen den Fronten gewesen, das beleidigte die Soldaten; sie kamen aus den Zwischenräumen der Gesellschaft, das provozierte die Deklassierten, und sie waren die Parias der Geschichte, das verziehen ihnen die besiegten Deutschen, die sich als Proletarier unter den Völkern fühlten, nicht. Von der Propaganda des nationalen Befreiungskampfes gegen die Siegermächte, dessen Parolen oft bis aufs Wort identisch sind mit den patriotischen Bekenntnissen der Friedensbewegung, führte ein direkter Weg zum Pogrom: weil die »auswärtigen Fronvögte« – wie es damals hieß – nicht greifbar waren, hielten sich die »Unterlinge« – wie es heute (bei Hochhut) heißt – an die Ostjuden, von denen das »besetzte Land« ersatzweise befreit werden sollte; und 1938 konnte man über das Berliner Scheunenviertel, das mittlerweile »befreites Gebiet« war, in der bebilderten Rückschau einer Nazibroschüre lesen: »In dem von Ostjuden besetzten Gebiet Berlins mußte sich der Deutsche wie im Feindesland fühlen. Er wurde beobachtet, umlungert, verfolgt.«

Dem Haß auf die Ostjuden korrespondierte aber auch ein bis zur Hochstimmung gesteigertes Interesse an ostjüdischer Kultur. Von der Euphorie, mit welcher ostjüdische Tradition von einem – sehr kleinen und meist aus Intellektuellen bestehenden – Teil der deutschen Juden rezipiert und spöttisch nach einem ihrer Hauptergriffenen Bubertät genannt wurde, soll hier nicht die Rede sein, sondern von der Faszination, die sie auf die nichtjüdischen Deutschen ausübte. Auf die Ostjuden wurde dabei projiziert, was die Deutschen sich anschickten herzustellen: die Volksgemeinschaft. Aus der Vorstellung des wan­dernden Juden wurden die Veranstaltungen des marschierenden Deutschen, aus dem Bild der völkischen Reinheit und der Vermehrungsfreudigkeit, an dem beispielsweise auch Bebel Gefallen gefunden hatte, wurden die Nürnberger Gesetze und die Nazistiftung für Mutter und Kind, der Lebensborn.

In einer Eloge auf den Maler Hermann Struck, den er während des Ersten Weltkriegs in Wilna kennengelernt hatte, schrieb ein begeisterter Deutscher: »Ich erlebte an ihm und an der Umwelt die Kraftquelle des Judentums, die es über die Diaspora der Jahrtausende erhalten hat: die Einheit von Volkstum und Religion, Nationalität und Glauben und erlebte zugleich die dichte, völlig unzersetzte Atmosphäre, die hier noch um Gottesdienst und religiöses Handeln, um Kult und liturgische Bräuche waren. Die Stärke des Ostens gegenüber dem vielfach zerfallenen Westen wurde hier im jüdischen Bereich fühlbar.«

Ganz ähnliche Motive liegen der modischen nostalgischen Beschäftigung mit der Geschichte der Ostjuden heute zugrunde. Dieses Interesse ergänzt das jahrelang offiziell gehegte Stereotyp von den deutschen Juden als allesamt nobelpreisverdächtig durch ein analoges Klischee: aus Einstein wird Tewje, der Milchmann. Man trifft in jeder nächstbesten Wohngemeinschaft auf die verklärenden melancholischen Photographien von Vish­niac als Poster und muß sich die neueste Platte mit jiddischen Liedern anhören mit dem Hinweis, sie sei von einer deutschen Gruppe, die aus der »Liedermacherbewegung« komme, produziert. Dieser Zusammenhang ist nicht zufällig: die mörderische Vergangenheit wird als Kulturgeschichte begriffen. Daß Menschen dabei umgebracht worden sind, spielt allenfalls am Rande eine Rolle, wie das Wort vom »Ethnozid« oder vom »kulturellen Holocaust« verrät. Da die ostjüdische Kultur hierdurch außerdem grenzüberschreitend mit der deutschen wiedervereinigt und regermanisiert wird als Teil einer untergegangenen Kulturvielfalt – im Unterschied zur beklagten Kolonialisierung durch die Coca-Cola-Kultur –, sind die Opfer eigentlich die Deutschen, denen man etwas getan hat, als die Juden umgebracht wurden. So werden aus sinnlos Ermordeten sinnstiftende Tote, die das Lebens­ge­fühl der deutschen Selbstfindung stärken.

III.

Vierzig Jahre nach Kriegsende befinden sich die Deutschen nach den Worten ihres Bundespräsidenten an der Schwelle zum gelobten Land: »Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt mit dem Einzug ins verheißene Land begann. Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration.« Diese ausgeborgte Ver­heißung hatten die Deutschen nach der internationalen Blamage ihrer Versöhnungsfeiern 1985 bitter nötig, denn Bitburg und Belsen stehen nicht für ein vierzigjähriges Pariadasein der Bundesrepublik, das nun zu Ende ging, sondern dort wurde der Bankrott der deutschen Nach­kriegspolitik offenkundig. Vierzig Jahre nach der militärischen Kapitulation des deutschen Reichs legte die Republik ihren moralischen Offenbarungseid ab; wozu es damals der alliierten Armeen und besserer Waffen bedurft hatte, das wurde 1985 von einer der gleichgeschalteten Meinung in der Bundesrepublik unbekannten Wunderwaffe erzwungen: der Waffe der Kritik und einer funktionierenden Öffentlichkeit im demokratischen Ausland, welche die Selbstdarstellung des »neuen Deutschland« als Propagandalüge entlarvten.

Dem religiös verbrämten optimistischen Schwindel, die deutsche Nachkriegsgeschichte sei eine zweite jüdische Heilsgeschichte, korrespondiert die antiimperialistische Paranoia, die Deutschen seien das auserwählte Volk einer Verschwörung der Supermächte. Wie um Hitler ein zweites Mal recht zu geben, daß sich das Schicksal Deutschlands an der Judenfrage entscheide, kaprizierten sich die Deutschen in einer absurden Verwechslungskomödie auf die Rolle des eingebildeten Juden.

Die neuerdings auf Traditionen, Mythen und Symbole versessene Gesellschaft braucht derlei Mutationen, um dem trivialen Geheimnis ihrer Herkunft nicht auf die Spur zu kommen. Die Deutschen hätten den Brand in der Westberliner Abschiebehaftanstalt nicht nur als pädagogische Maßnahme präsentieren dürfen, um potentielle Asylsuchende in aller Welt abzuschrecken, sondern auch als Jubiläumsveranstaltung für die hundertjährige Geschichte des Rassismus in Deutschland. Über eine andere Berliner Silvesternacht ungefähr 100 Jahre zuvor, berichtete Eduard Bernstein in seiner »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung«: »Organisierte Banden zogen in der Friedrichsstadt vor die besuchteren Cafés, brüllten, nachdem allerhand Schimpfreden gehalten worden waren, tatkräftig immer wieder ›Juden raus‹, verwehrten Juden oder jüdisch aussehenden Leuten den Zutritt und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüsteneien mehr.«

Immerhin gab es damals noch eine spontane Protestversammlung der Berliner Arbeiterklasse, welcher der Gedanke des »Kommunistischen Manifests«, die Arbeiter hätten kein Vaterland, noch nicht ausgetrieben oder in sein Gegenteil, die Aufforderung zum glühenden Patriotismus, verkehrt worden war.

Der historische Pogrom und der aktuelle Brand, die damalige handgreifliche Bürgerinitiative und der tödliche Verwaltungsvollzug von heute, markieren nicht nur die Entwicklung der Instrumente, die zum Arsenal des völkischen Ressentiments gehören, sondern sie reflektieren auch die zwei Seiten eines gesellschaftlichen Bündnisses, das ungebrochen fortbesteht: das Bündnis von Mob und Elite, der Vertrag zwischen Antisemitismus, Fremdenhaß und Macht. Diese Übereinkunft schließt eine Arbeitsteilung ein, die sich auch nach der Demokratisierung von Mob und Elite erhalten hat. Während die Rollkommandos gewissermaßen empirische Sozialforschung treiben, um durch teilnehmende Beobachtung herauszufinden, ob sich etwa einer rührt, ist man in den Büros mit der Auswertung beschäftigt; dort formalisieren und normieren Wissenschaftler, Verwaltungsexperten und Politiker die rechtsetzende Praxis jener gewalttätigen Demoskopie. Über die Bedeutung des Unterschieds zwischen unkontrollierten Ausbrüchen des Hasses und behördlich kalkulierter Diskriminierung sind sich die modernen Machthaber einig. Hitler empfahl schon in seinen ersten politischen Erklärungen, den Antisemitismus aus »rein gefühlsmäßigen Gründen« durch einen »Antisemitismus der Vernunft«, d.h. durch systematisch entrechtende Verwaltungsakte zu ersetzen, und wie man weiß, waren blutrünstige Sadisten bei der industriellen Massenvernichtung nicht erwünscht, sondern korrekte Beamte.

Wenn heute Politiker in der Bundesrepublik vor Ausländerfeindlichkeit warnen, dann ist diese Warnung in der Regel ein Symptom der Krankheit, die sie diagnostizieren. Wenn ein Kommentator der liberalen Frankfurter Rundschau das rassistische Manifest einiger Treitschkes von heute, die öffentlich die Ausweisung der Ausländer fordern, für eine »überwiegend vernünftig formulierte Diskussionsgrundlage« hält und meint, »daß das Ausländerproblem in der Bundesrepublik öffentlich mit kühler und humaner Vernunft angepackt werden kann«, dann hört sich das wie eine Drohung an. Sie kommt der Vorstellung vom Krieg ohne Haß ganz nahe, deren Verwirklichung Adorno als vollendete Inhumanität bezeichnet hat und stellt eine Neuauflage des Traums dar vom noblen Antisemitismus, den Hans Blüher, einer der Wortführer der deutschen Jugendbewegung nach dem ersten Weltkrieg, träumte: »Darum ist reiner Antisemit nur der, der ohne Haß gegen die Juden ist.«

Kein Träumer hingegen ist der gegenwärtige Bundeskanzler. Es mag noch so tollpatschig aussehen, wenn er sich auf der politischen Bühne bewegt und noch so debil klingen, wenn er den Mund aufmacht – er verkörpert die ungebrochene Fortdauer politischer Herrschaft, die im Deutschland des 20. Jahrhunderts schon ganz andere Gestalten sich ausgesucht hat. Als nach der Demokratisierung der Elite austauschbarer Repräsentant aller Unmündigen kann er nur nach einer Devise verfahren, die schon Bismarck als Geheimnis moderner Herrschaft ausgeplaudert hat: »Ich bin ihr Führer«, sagte er, »also muß ich ihnen folgen.«

Wenige Tage nach seinem Amtsantritt kündigte Kohl im Fernsehen an, seine Regierung werde sich mit der »Ausländerfrage« beschäftigen, denn er gäbe eine »zu große Zahl türkischer Mitbürger«. Für deren Rückführung wolle er sich einsetzen, doch solle dies »menschlich anständig« geschehen. Mit diesem aktuellen Ausdruck des Bündnisses zwischen Volksempfinden und Verwaltung gelang dem Kanzler auch eine unvermeidliche Reprise: in einer Rede vor SS-Führern in Posen hatte Himm­ler 1943 den gestreßten Gehilfen des Massenmords bescheinigt, daß sie »abgesehen von Ausnahmen mensch­licher Schwächen, anständig geblieben« seien. Abgesehen von einem kleinen Silvesterumtrunk waren auch die Wachleute des Berliner Abschiebegefängnisses anständig geblieben. 1984 wurde das Ermittlungsverfahren gegen sie mit der Begründung eingestellt, es habe sich »kein pflichtwidriges Verhalten der vier Beamten erkennen lassen.«

Die allgemeine Enttäuschung darüber, daß man die Ausländer nicht so einfach anzünden kann wie vordem die Juden, weil es sich zumeist um Bürger mit dem Paß eines Nato-Mitgliedstaats handelt, entlädt sich periodisch in Brandstiftungen an Ausländerunterkünften und treibt die bürokratische Phantasie der Behörden an. Diese überbieten sich wechselseitig bei ihrem Bemühen, den Asylsuchenden wieder abschiebefähig zu machen, und in der Praxis ist das Recht auf Asyl nur noch eine von der Willkür gewährte Gnade geworden. Wem sie als Ausländer nicht zuteil wird, der darf sich damit trösten, nicht nur psychologisch, sondern realpolitisch zur deutschen Wiedervereinigung sein Scherflein beigetragen zu haben, denn die für Flüchtlinge aus Südostasien durch eine Vereinbarung der beiden deutschen Regierungen gesperrte Grenze zwischen den zwei Staaten hat sich darüber in ein einigendes Band verwandelt.

Die beabsichtigte verfassungsmäßige Annullierung des Asylrechts wäre identisch mit der formellen Proklama­tion der Volksgemeinschaft. Dann bliebe nur noch, auf die friedliche Lösung zu hoffen, die alle befürchten: daß die Deutschen wirklich aussterben.

1985

Die Gleichschaltung der Erinnerung

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