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Über den Bergen-Belsen-Prozeß

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Kommentierte Auszüge aus der Berichterstattung der Lüne­burger Post (Nachrichtenblatt der Alliierten Militärregierung) über den Bergen-Belsen-Prozeß (Mitte September bis Mitte November 1945)

»Alle sechsundvierzig Angeklagten werden zusammen vor Gericht erscheinen, eine Anklagebank wird für die männlichen Angeklagten bereitgestellt, eine zweite für die neunzehn Frauen. (Nr. 11, 11.9.45) … Die Beweisaufnahme ergab, dass Zoddel das Durcheinander bei der Befreiung des Lagers dazu benutzte, um eine Gefangene, ein junges polnisches Mädchen, um den Haufen (sic!) zu schießen. (ibidem) Am ersten Tage der Verhandlung gegen Kramer und Genossen erklären sich alle Angeklagten nicht schuldig.«

Die Prinzipien angelsächsischer Strafjustiz, auf denen auch das Procedere der Militärgerichtsbarkeit fußt, dokumentieren die Unangemessenheit klassischer Rechtsbegriffe angesichts der Massenvernichtung. Umso entschiedener insistiert die Anklage auf der genauen Einhaltung bürgerlicher Rechtsbegriffe, wie zum Beispiel der individuellen Verantwortlichkeit, der Schuldzumessung. So zeigt sich auch in der Justiz, dass die Theorie ihren Gegenstand nicht mehr unter angenommenen Bestimmungen der Vernunft fassen kann – als einigermaßen hilfloser Ausweg aus diesem Dilemma blieb, nicht nur im Belsen-Prozeß, die bescheidene Hartnäckigkeit, mit der Sieger und Überlebende an den vom Faschismus vernichteten Grundsätzen festhielten. Daher oft auch die in gewisser Weise »altertümelnde« Sprechweise, das feierliche Pathos:

»Die Angeklagten werden beschuldigt, zwischen 1. Oktober 1942 und 30. April 1945 im KZ Bergen-Belsen als Mitglieder seiner Verwaltung und verantwortlich für das Wohl der dort Untergebrachten, die Gesetze des Rechts wie des Krieges verletzt zu haben, sich zusammengetan zu haben, alle Insassen übel zu behandeln. Dadurch haben sie den Tod eines britischen Staatsbürgers, zweier Ungarn, eines Franzosen, eines Holländers, eines Belgiers, eines Italieners, eines Staats­angehörigen von Honduras, die alle namentlich genannt wurden, darüber hinaus den weiteren Staatsangehörigen Alliierter Länder unbekannten Namens verursacht. Ferner werden die Angeklagten der Misshand­lung namentlich genannter und namenloser Angehöriger alliierter Länder beschuldigt. (Nr. 13, 18.9.45)«

Bis zur Befreiung durch die Engländer kamen im KZ Bergen-Belsen ungefähr 13.000 Menschen um, an den Folgen starben in den ersten Monaten nach der Befreiung ungefähr noch einmal so viele.

»UNBESCHREIBLICHE REVUE DES ABGRUN­DES (Titel Nr. 14, 21.9. 45) … Die Totengruben von Belsen im Film … Man sah den SS-Wachen, von denen eine ganze Reihe auf der Anklagebank den Film zusahen, an, daß sie diesen Dienst nicht gerne verrichteten. [D.h. unter der Aufsicht der Engländer die zahllosen Leichen in einem Massengrab zu transportieren.] Sie schienen sich ein wenig entwürdigt zu fühlen, die namenlosen Leichen in die Grube tragen zu müssen, sie schleppten sie wie lästige Säcke, warfen sie achtlos zu den Haufen der anderen.«

Der Titel, nicht nur an dieser Stelle, und weitere Passagen – vgl. erstes und unten folgende Zitate – der Berichterstattung illustrieren trefflich Blochs Überlegungen im Essay »Der Nazi und das Unsägliche«: wie jeder Vergleich zur Geschmacklosigkeit gerät. Unbeholfen rettet sich die beschädigte Sprache in vermeintlich nicht kompromittierte literarische Analogien, und so liest man oft den Vergleich mit Dantes Hölle. Dieses gebildete quid pro quo, erstens das den Begriff suchende Stammeln nach dem bloß äußerlichen Abklingen des Schocks, verkennt den Charakter des Nationalsozialismus völlig.

Das geschichtliche Denken, gewohnt, auch noch in den größten Verbrechen der Vorgeschichte einen zumindest unvermeidlichen Tribut an den weltgeschichtlichen Auftrag einer zu vernünftigen Verhältnissen emporstrebenden Menschheit zu sehen, oder – wie die abendländische Literatur in ihren klassischen Tragödien von Sophokles bis Goethe es an herausragenden Einzelschicksalen dargestellt hat – als Tribut des Lasters an die Tugend. Noch in seiner grausamsten Gestalt erschien das Verbrechen verständlich, und auf der Folie großer Gedanken gewann selbst der gräßlichste Übeltäter eine eigentümliche moralische Größe.

Doch nichts von alledem im Nationalsozialismus, gegen welchen Dantes Inferno nur das Versagen traditioneller Begriffe und Vorstellungen enthüllt. Denn einem Eisenbahnbeamten, der fahrplanmäßig die Züge in ein Vernichtungslager abfertigt, eignet nichts Diabolisches; die Herstellung von Zyklon B erfordert keinen Schurken, wie man ihn vom Theater kennt, sondern einen Facharbeiter mit Feierabendhobby. Für den Nationalsozialismus ist charakteristisch nicht ein Übermaß von blindem Schicksal, gegen das menschliche Anstrengung sich aufrichtet im Eingedenken an eine vielleicht bessere Welt, wo noch im Scheitern die Wahrheit des davon verschiedenen Besseren auszumachen wäre. Im Nationalsozialismus fallen Quantität und Qualität des Verbrechens unterschiedlos und ohne Begrenzung zusammen, eigentlich gibt es nur noch Henker und Opfer – und auch diese Differenz hat bloß fließende Grenzen, wie eine bezeichnende Bemerkung verrät: »Daß einer Gegner des nationalsozialistischen Regimes gewesen war, hat man meistens erst dann gemerkt, als man ihn hingerichtet hat.« (Zitiert bei Brentano/Furth). So trivial wie diese Bestimmungen sind auch ihre Protagonisten. Jeder Versuch, den deutschen Faschismus mit den erwähnten literarischen Mitteln zu schildern, muss an dieser Trivialität scheitern. So schreibt Hannah Arendt in einer Kritik über den Charlie-Chaplin-Film »Der Diktator«, der ihr als Beispiel für dieses Misslingen gilt, dass der Film nur beweise, wie jeder Schmierenkomödiant, einen solchen mimt Chaplin in der Rolle eines Friseurs, heute Politiker werden könne. Nicht Schillers »Verbrecher aus verlorener Ehre« betritt im Kollektiv die Bühne der Geschichte, noch weniger die barbarischen Horden der Vorzeit, eher das Rohmaterial der modernen Sozialwissenschaften, welche darum deutlicher auch den angemessenen literarischen Ausdruck der Epoche bilden.

Weder Teufel noch Dämon, weder Nero noch Philipp von Spanien, nicht Hades noch Hölle, nicht Athen und nicht Venedig, nicht Hamam und nicht Dschinghis Khan,2 sondern die namenlose, gesichtslose, konturlose und gedächtnislose Monade aus dem zeitgenössischen Ensemble von Bahnbeamten, abgebrochenen Volksschul­lehrern, Tierliebhabern und Feldwebeln, Sekretärinnen und Turnerriegen, Tabellenfachleuten, Wochenendausflüglern, Besserwissern, Familienvätern, Eintopfexperten – solcherart ist die Anthropologie des modernen Durchschnittshelden, der zu Höherem sich berufen fühlt, ein von seiner eigenen Trivialität nicht mehr verschiedenes Wesen und deshalb zuallerletzt ein Gegenstand der Kunst. (»Auch ist ein Mensch, der ganz Bosheit ist« – oder nur noch banal, wie man Schiller heute korrigieren müßte – »schlechterdings kein Gegenstand der Kunst … Man würde umblättern, wenn er redet.«)3*

So beliebig und nichts der Einzelne, der sich folgerichtig auch abgewöhnt hat, Ich zu sagen, so einerlei und banal auch die Schauplätze: jede Familie eine kriminelle Vereinigung, jedes Büro ein geeignetes Schlachthaus, jeder Stempel ein potenzieller Mord, jeder Anruf ein beiläufiges Verbrechen.

»Die Reihe der Angeklagten folgte den Ausführungen der ersten drei Zeugen … zum größten Teil mit verkniffenen Mienen, ohne ein Zeichen besonderer Rührung … das stimmt überein mit dem Bild, das die Zeugen von ihm [gemeint ist Kramer – EG] entworfen haben, als sie ihn in seinem Büro in Belsen vernahmen. Er hatte nicht das mindeste Empfinden von Schuld, eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Häftlinge, die er alle als Berufsverbrecher, Schwerverbrecher und Homosexuelle bezeichnet hatte, zeichnete ihn aus. (Nr. 14, 21.9. 45)«

Genauso unschuldig wie die Opfer fühlen sich die Henker. Hannah Arendt führt in ihrem Essay über Sozialwissenschaften und Konzentrationslager4 die Bedingungen dieser makaberen Assimilation weiter aus: die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der tödlichen Realität auf Seiten der Opfer, und die kalte Indifferenz, welche das Lagerpersonal ausgezeichnet (auch noch vor Gericht, obwohl sie doch mit einer Geste der Selbstanklage besser vor den Tribunalen dran gewesen wären), leitet sie her von der auf verschiedenen Stufen verlaufenden Desintegration der Persönlichkeit im Laboratorium KZ.

»›Muselmänner‹ wurden die armen Teufel in der Lagersprache genannt, die sich um den Abfall aus Küchen, auf dem Misthaufen selbst, noch rissen, die mager und abgezehrt zu keiner Arbeit, selbst nicht zum Tragen der Toten mehr fähig waren. Erstaunlich nur, dass jemand diese Tiefen der Entwürdigung und Vertierung überlebt hat. (Nr. 15, 25.9. 45)«

Günter Anders berichtet in seinem Tagebuch »An die Wand geschrieben«, wie, entsprechend dem heimlichen Wunsch, der aus diesen Zeilen spricht, in Polen einige der Überlebenden genau mit dem Vorwurf, daß sie überlebt haben, erschlagen worden seien. Ähnliches erzählt Marian Rogowski in seinem dokumentarischen Roman »Gewonnen gegen Hitler«. Schon die Nazis hatten peinlich genau darauf geachtet, das keiner davonkommen sollte, aber auch, das keine Zeugnisse der Vernichtung und keine Berichte nach draußen dringen sollten. Vergeblich auch die verzweifelte Hoffnung der Lagerinsassen, die Welt möchte zur Besinnung kommen, wenn sie davon erführe. Dass man einige nachträglich noch erschlagen hat, ist nunmehr offen gewalttätiger Ausdruck der Fortsetzung nationalsozialistischer Politik: der Politik der verbrannten Erde folgt die Politik des verbrannten Gedächtnisses. Zur erwähnen wäre, daß sich vice versa die Opfer, die überlebt haben, mit Schuldvorwürfen quälen, weil sie vom Preis des Davongekommenseins bis ins Innerste zernichtet sind.

»Durch die Gaskammern von Auschwitz, eingerichtet wie Baderäume mit Brausen, nur ohne Wasserabfluß am Boden, sind ungefähr 4 Millionen Juden gegangen. Hatte das Gas seine Wirkung getan, so wurden Klappen im Boden geöffnet, die Leichen vielen in Loren und rollten ins Krematorium. (ibidem)«

»Hatte das Gas seine Wirkung getan« – noch in der Berichterstattung über das Morden bedient sich die kapitulierende Sprache der nazistischen Sprachregelung. Aber es handelt sich nicht bloß um eine Verdinglichung, in welcher eine von Menschen begangene Handlung als Tätigkeit eines Dinges erscheint (dies ist nur der extreme Ausdruck dem Faschismus vorausgegangener objektiver Momente, die in der Warenproduktion wurzeln und subjektiver Formen, die sich bis weit zurück in die Anfänge protestantischer Doppelmoral verfolgen lassen, etwa bei Luther – also zur Trennung von Personal und Praxis), sondern man muß auch das Moment von Wahrheit zur Kenntnis nehmen, das in dieser Sprache widergespiegelt wird: Ohne diesen kostspieligen Maschinenpark wäre das alles gar nicht möglich gewesen. Die Gaskammern, einmal etabliert, machten die Zufuhr von menschlichem Rohstoff zur Herstellung von Leichen zu einer absoluten Notwendigkeit. Dieser Logik folgt, wie wir wissen, die gesamte Kriegsindustrie seit dem zweiten Weltkrieg.

Vergleicht man die heutige Lokalzeitung mit den Ausgaben von damals – ein Viertel Jahr nach dem Sieg der Alliierten – so fällt zu allererst ins Auge die erschreckende Ähnlichkeit in Aufmachung und Inhalt. Als wäre die Nummer von vorgestern, lese ich (auf S. 4 von Nr. 15, 25.9.45) folgende Artikelüberschriften: Umgangsverbot aufgehoben / Energieversorgung im Rheinland / Riesen­defi­zit im Berliner Haushaltsplan / Rektor in Marburg er­nannt / Respektloses Verhalten strafbar / Vieh schwarz­ge­schlachtet / Dr. Eckener wird Verleger / Strafen für Ver­kehrssünder / Monotonie des Grauens, Fortsetzung von Seite 1 / Sport vom Sonntag usw. Eine beliebige Seite, mit vielleicht einem kleinen Unterschied: in den Familienanzeigen, welche fast die Hälfte der Seite einnehmen: Geboren / Vermählt / Gestorben / G e f a l l e n. Eine beliebige Anzeige herausgegriffen:

»WILHELM MOHRMANN, Soldat. In den schweren Kämpfen für sein Vaterland starb den Heldentod unser heißgeliebter, guter, hoffnungsvoller ältester Sohn, Bruder, Großsohn, Neffe und Vetter im blühenden Alter von 18 Jahren. In tiefer Trauer etc. pp«

Solche Überschriften und solche Anzeigen noch im September 1945.

»Heute vormittag traf Josef Kramer in eigener Sache als Zeuge auf. Er wurde auf die Bibel vereidigt und erklärte, in seinem Gewissen daran gebunden zu sein … ›Wollen sie als Zeugen unter Eid aussagen?‹ fragte der Richter. Alle Angeklagten erklärten: ›Ja!‹. Kramer rief ein lautes ›Jawoll!‹ (Nr. 19, 9.10. 45)«

Jetzt, wo der Führer und Himmler tot sind, braucht der kleine Mann wieder seinen Herrgott, denn »ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und Jedermann untertan« (Luther). Kramer gibt zu Protokoll, daß er deshalb die Vernichtung in den Gaskammern in Auschwitz bestritten habe, weil er »ehrenwörtlich« verpflichtet gewesen sei, darüber zu schweigen. Erst als er im Gefängnis von Celle gehört habe, »Hitler und Himmler seien nicht mehr vorhanden«, fühlte er sich von seiner Schweigepflicht entbunden. »Ob das richtig war und ob derjenige, der ursprünglich alles angeordnet hat, es verantworten kann, weiß ich nicht« (ibidem). Sollten die sich bei Gott verantworten, er hat seiner Christenpflicht genügt. Marx schreibt an irgendeiner Stelle über die moderne Religiosität, daß an die Stelle der Knechtschaft aus Devotion, die Knechtschaft aus Überzeugung getreten sei.

»Auch über das Lager Neuengamme, das in der Luftlinie nur dreißig Kilometer von Lüneburg entfernt liegt, ist uns ein umfassender Bericht zugänglich gemacht worden. Bekanntlich war es dieses Lager, das bisher wenig in der Öffentlichkeit genannt wurde, aus dem die Häftlingstransporte nach Belsen und Sandbostel gingen. Häftlinge aus Neuengamme haben vor anderthalb Jahren Deckungsgräben in Lüneburg ausgehoben. Ihre Zebra-Uniformen wurden damals viel erörtert. (Nr. 19, 9.10.45)

›Muselmänner‹ – Dieser Ausdruck ist in allen deutschen Konzentrationslagern verbreitet gewesen. Er ist entstanden durch einen Zufall. Irgend jemand nannte einen stark abgemagerten Kameraden in Erinnerung an Bilder von Arabern, einen Muselmann. Damit begann dieser Begriff, der sogar in die Amtssprache der Lager überging, seinen Lauf. Er bezeichnete später präzise nicht mehr voll arbeitsfähige, abgezehrte, abgehetzte Menschen. Es gab besondere Arbeitskommandos für Muselmänner. Muselmann konnte auch ein Hohnwort sein. Jedenfalls, war jemand erst einmal zum Muselmann geworden im Lager, so war in den meisten Fällen das Tor zur Freiheit ewig gesperrt. Für den Muselmann gab es nur noch den Ausweg ›durch den Schornstein‹ (ibidem).«

Abgezehrt waren sie, bis auf ganz wenige Ausnahmen, alle, und das Tor, über dem der preußische Wahlspruch stand »Suum cuique«, oder »Arbeit macht frei«, wurde erst durch den Sieg der Alliierten zum Tor einer doch für immer beschädigten Freiheit. Die Beobachtungen Bettelheims im KZ Buchenwald geben genauer Auskunft über den Abrichtungserfolg totalitärer Herrschaft, wobei mit dem der Kolonialromantik entlehnten Begriff »Muselmann« jener psycho-physische Habitus der Häftlinge be­zeichnet wird, der als oberstes Ziel des KZ-Experiments gilt: die wandelnde Leiche oder die allseitig reduzierte Persönlichkeit. Sie sollten nur noch existieren, ehe man ihnen die Existenz nahm. So waren sich die Nazis sicher, keine Menschen mehr umzubringen. In vielen Fällen vollendete sich dieser aufgezwungene Verfall ganz automatisch, mechanisch – außerhalb jedes Zusammenhanges verloschen sie einfach, ihr Tod nur Verenden.

Bettelheims präzise Beobachtung dieses Zerfallsprozesses unter Bedingungen des Lagerterrors gewinnt eine erschreckende Aktualität, wenn man die reale Kontinuität seiner habituellen Typologien fortwährend im Alltag erfährt. Von der Ausnahmesituation ist der Muselmann aufgestiegen zum Durchschnittsexemplar. Gerade der Wegfall der grausamen Bedingungen, z.B. Hunger, beweist (obwohl u.a. durch ihn diese Zerstörung bewirkt wurde), daß es den Nazis auf mehr ankam, als die Menschen leiden zu lassen unter kreatürlichen Bedürfnissen, nämlich auf die Verwandlung von Individuen in willenlose Objekte anonymer Herrschaft. Das terroristisch erzwungene Einverständnis mit der Ohnmacht wie mit der Macht findet in der universellen Kälte einer Welt, die das in Kauf genommen hat und weiter nimmt, ihre zeitgemäße und wohlgenährte Entsprechung. Ihr Ideal: der schein­tote Überlebensexperte, der sich »durch nichts aus der Ruhe bringen läßt«, die Fliege im »Netz der sozialen Sicherung« (Helmut Schmidt). Aber nicht, daß damit bloß abstrakt die Fortexistenz »muselmannischen« Verhaltens behauptet wäre. Der moderne Autismus liefert dafür eine ganze Reihe von konkreten Beispielen – am deutlichsten an den Habitus des Muselmann gemahnen die Verhaltensweisen von drop-outs, den wie die Häftlinge in zweifachen Sinn Aufgegebenen; oder die Protagonisten lebensreformerischer Varianten der »Verweigerung«, Freaks, Flippis usw., die nahezu alle Symptome, vom apathischen Gang bis zum blinden Gesicht, aufweisen, die auch Bettelheim beschreibt. Aber wichtiger ist der Beitrag des KZ-Experiments zu einer allgemeineren anthropologischen Bestimmung der nachfaschistischen Gesellschaft, die in der oben bezeichneten smarten scheintoten Mittelstandsmonade Gestalt angenommen hat: war das unter menschlichen Bestimmungen gefaßte Dasein immer ein Protest gegen seine bloß natürlichen Bestimmungen, mithin (und vor allem!) gegen den Tod gewesen, so macht die Nachkriegsgeschichte aus dem ersten Entsetzen des Denkens in der Geschichte eine letzte triviale Wahrheit: Leben heißt stückweise sterben.

Die moderne Sozialwissenschaft hat diesem Sachverhalt durch die Eliminierung der Begriffe Kindheit, Jugend etc. Rechnung getragen und sie durch biologisierende, subjektive Bezeichnungen wie Säugling, Kleinkind, Schulreife, Geschlechtsreife, Teenager, Twen, etc. ersetzt oder die Gesellschaft mit Begriffen aus dem Handelsregister in zwei Teile geschieden, Junioren und Senioren; Reduktion des Lebens auf’s bloße Älterwerden. Er lebt so vor sich hin – er stirbt so vor sich hin, der zeitgenössische Muselmann.

»Der überwiegende Eindruck ist der, daß es mit dem Recht außerordentlich ernst und genau genommen wird … Wahrscheinlich ist dies auch einer der Gründe, weshalb die Angeklagten in den ersten Wochen gar nicht recht zu begreifen schienen, daß es in diesem Verfahren um ihren Hals ging. (Nr. 19, 9.10.45)«

Hannah Arendt berichtet vom Eichmann-Prozeß Ähnliches. Der Beobachtung, daß Kommunisten und Kriminelle, oder Katholiken und Zeugen Jehovas der Identitätsstörung im KZ noch am ehesten und längsten widerstehen konnten, weil sie wegen Taten und Meinungen im Lager saßen, also von Nazis als für bestimmte Vergehen verantwortliche Personen betrachtet wurden, korrespondiert, daß sich die Täter (eher wie die unschuldigen und völlig harmlosen Opfer) als für nichts verantwortlich fühlen und die Bedrohung mit dem Tode (durch den Richterspruch) eher gelassen oder gar nicht zur Kenntnis nehmen, als für die begangenen Verbrechen einzustehen. Von Eichmann wird berichtet, daß er dem Vernehmungspersonal übereifrig geholfen habe, sich selber die Wahr­heit über seine verbrecherische Tätigkeit zu erzählen.

»Als Ärztin kam die Zeugin auch nach Belsen. [Gemeint ist Dr. Ada Bimko, die von Auschwitz nach Bergen-Belsen kam. – EG] Als Kramer im Januar 1945 nach Belsen kam, so erklärte die Zeugin weiter, hatten sich die Verhältnisse in Belsen so verschlimmert, daß unter den Insassen gesagt wurde: ›Jetzt wird Belsen ein neues Auschwitz.‹ (Nr. 19, 9.10.45)

Wegen geringfügiger Gesetzesübertretungen (!!) wurden auf dem Hof des gleichen Blockes täglich viele Menschen erhängt … Beim Ein- und Ausmarsch spielte jedesmal die Häftlingskapelle. Es kam vor, daß man auf die Melodie ›So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage‹ die armen Toten ins Lager zurücktrug. (ibidem) (Zeugenbericht über Auschwitz)

… sie haben geschlagen und sind, wie Kramer, heute noch entrüstet, daß die armen Teufel, die krumm vor Schmerzen, Schwäche und Hoffnungslosigkeit waren, sich nicht ordnungsgemäß in Fünferreiehen aufstellen konnten. (23.10.45)

Die Leutchen, die vor einigen Tagen den Angeklagten auf den Wagen Grüße zuwinkten, scheinen den tödlichen Ernst dieser Dinge für die Deutschen noch nicht begriffen zu haben. (ibidem)«

Als wären diese justizpädagogischen Drohungen ein Mittel, das eine Mentalität zur Besinnung zwingen könnte, die noch kurz zuvor mit der jauchzenden Untergangsphilosophie »… und wenn alles in Scherben fällt« mit der Vernichtung anderer den eigenen Untergang diskontiert hatte.

»›Sie wußten ganz genau, daß es ein Verbrechen war, was sie begingen.‹ – ›Nein.‹ – ›Haben Sie überhaupt jemals nachgedacht?‹ – ›Ich weiß es nicht, ich mußte den Befehl ausführen.‹ – ›Haben Sie selbst diese Leute in die Gaskammern hineingezwungen?‹ – ›Ja.‹ – ›Haben Sie selbst das Gas einströmen lassen?‹ – ›Ja.‹ … ›All dies ist geschehen, während Sie der Kommandant des Lagers Birkenau waren. Haben Sie niemals dagegen protestiert, dass Ihr Lager für diese Dinge benutzt wurde?‹ Kramer antwortete, er hätte sich einmal beim Obersturmbannführer Höß darüber beschwert, daß er nach Auschwitz geholt worden sei, er sei hier nichts weiter als ein Lagerführer für das Männer- und Frauenlager, und dazu hätte man ihn nicht nach Auschwitz holen brauchen. ›Ich habe Sie nicht gefragt‹, fiel Colonel Backhouse [Vertreter der Anklage. – EG] ein, ›ob Sie dagegen protestiert haben, daß man Sie in Ihrer Würde als Lagerkommandant beeinträchtigt hat, indem man Sie zum Lagerführer machte, sondern ob Sie dagegen protestiert haben, daß in Ihrem Lager Tausende von Menschen umgebracht wurden.‹ – ›Wenn ich das getan hätte‹, antwortete Kramer, ›so wäre ich verhaftet und selbst hinter Draht gesetzt worden.‹ (23.10.45)«

Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Auch wenn der KZ-Kommandant im Unterschied zu Filbinger nicht nachgedacht hat, worauf der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg immer wieder hinweist und jeden Schritt als wohltaktierte Widerstandshandlung ausgeben möchte, so kommen doch beide zu denselben Äußerungen: konfrontiert mit ihren Verbrechen fällt ihnen immer gleich ihre Karriere ein. Filbinger klagt, daß er durch die Nazis »erhebliche Nachteile in meinem eigenen Fortkommen seit der Studienzeit erfahren« habe (Spiegel, 29.5.78) (und wie ich das eben schreibe, vernehme ich aus den Nachrichten, daß Filbinger auch nach dem Bekanntwerden weiterer Todesurteile, an denen er als Marinestabsrichter beteiligt gewesen war, keinen Grund sehe, von seinem Amt zurückzutreten. Dabei hätten alle, denen die so offen zutage getretenen Kontinuität deutscher Geschichte peinlich gewesen war, nun einen guten Anlaß gehabt, Filbinger wegen einer bloßen Lüge abzuhalftern und alles andere unter den Tisch zu wischen, aber sie erneuern, wie es aus dem Radio tönt, ihre Ehrenerklärungen für ihn. Fast hat es den Anschein, daß sie ihn eben deshalb für einen Ehrenmann halten), und Kramer denkt bei der Ermordung von Hunderttausenden an seine persönliche Not, die darin besteht, daß sein sog. laufbahnmäßiger Besitzstand angetastet und er zum Lagerführer rückgestuft wird.

»Habt ihr das gewußt?

›Das hat der Führer nicht gewollt!‹ Natürlich sind es die ›kleinen Hitler‹ gewesen, die sich Übergriffe er­laubten in den KZ-Lagern, denn Hitler war selbst viel zu ›gut‹, viel zu ›edel‹ dazu!

Wir stellen fest: Der deutsche General Dittmar, Pressechef des Oberkommandos der Wehrmacht, der Ende April 1945 in einem Ruderboot mit seinem Sohn die Elbe überquerte, um sich den Alliierten zu ergeben, hat in einer Radio-Ansprache erklärt: Heinrich Himmler habe 1944 im Frühjahr vor einer Generalstabsversammlung in einer Rede ausgeführt, der Befehl zur Erschießung der Juden sei der härteste Befehl gewesen, den er je auszuführen gehabt habe.

Himmler aber hatte nur einen einzigen Vorgesetzten. Daher muß dieser ›härteste Befehl‹ ihm von Hitler selbst erteilt worden sein.

Laßt euch nichts von alten Tanten und Naziagenten erzählen: Der größte Schurke war Hitler selbst. Er war der kaltblütige Mörder von Millionen von Menschen. So schlecht die ›kleinen Hitlers‹ auch gewesen sind – hundertmal schlimmer war der ›große‹ Hitler, groß im Verbrechen. (23.10.45)«

Nach diesem frühen Schema sind die gängigen Erklärungsmuster und Rechtfertigungen der Nachkriegszeit hergestellt: Hitler als Oberschurke, verantwortlich für »Übergriffe« (wobei übrigens die Formulierung »sich Übergriffe erlauben in den KZ-Lagern« deutlich nationalsozialistischer Provenienz ist. Die SS hat die Lager nicht als Auswuchs betrachtet, sondern als feste Institutionen des Systems. Sie waren die extreme Normalität totalitärer Herrschaft. Mit betriebswirtschaftlichem Denken wurde die Herstellung von Leichnamen betrieben, bürokratisch, organisiert, etc. Was vom gemeinen Verstand als sadistische Verhaltensweise angesehen wird, war in der Regel von der SS nicht geduldet. Deshalb argumentieren viele BRD-Gerichte in NS-Prozessen, wie das RSHA: für sie ist das KZ der Normalzustand.

Der deutsche Beitrag zur Emanzipation der Frau:

»Sie stemmte die Arme in die Hüften und rief Colonel Backhouse, der ihr hartnäckiges Leugnen vorwarf, zu: ›Sie können sich denken was Sie wollen.‹ … ›Was für eine Frisur trugen Sie früher?‹, fragte er die Greese. ›Einen deutschen Knoten‹, sagte sie. … Verteidiger Cranfield: ›War die Peitsche leicht?‹ – ›Ganz leicht.‹ – ›Tat es weh, wenn sie zuschlugen?‹ – ›Oh ja.‹ – ›Sonst hätte es ja wohl auch keinen Zweck gehabt?‹ – ›Na eben.‹ … ›Ich habe dann Befehl gegeben, ihnen auf frischer Tat [z.B. Essensdiebstahl – EG] gleich den Hintern zu versohlen … Ich habe nie jemanden blutig oder bewußtlos geschlagen. Ich habe nie einen am Boden Liegenden getreten. In Belsen habe ich nur mit der Hand geschlagen. Die Leute waren dort so schmutzig und krank, daß ich mich vor ihnen ekelte.‹ [Zuvor hatte sie schon gesagt – EG]: ›Zuerst benahmen sie sich ganz anständig, aber als es immer mehr wurden, konnte ich ihrer nicht Herr werden. Sie waren wie Tiere.‹ (Okt. 45 – 23.10.)«

In »Trial of Josef Kramer and forty-four others – The Belsen Trial«, S. 250 ist aus dem Kreuzverhör von Irma Greese noch folgender Satz wiedergegeben: »Der Zustand der Häftlinge war so schlecht, daß sie einem fast Angst und Schrecken einflößten (That one had almost a horror of them).« Nachdem die Nazis die Häftlinge schließlich nach ihrer Vorstellung von ihnen zu Untermenschen und Tieren gemacht hatten – und ein Großteil der Häftlinge erinnerte durch nichts mehr an menschliche Wesen –, konnten auf Seiten der Nazis wiederum ganz animalische Ängste aktiviert werden. Eingekleidet in hygienische Programme und mit den technischen Mitteln einer hochentwickelten Industrie wurden die »Säuberungsaktionen« exekutiert. In der Regel haben aus eben dieser Angst (Ansteckungsgefahr, Insektenfurcht usw.) die Aufseher der Herrenrasse es strikt vermieden, sich unter den Häftlingen zu bewegen; dafür hatten sie die Häftlingskapos. Das Medium der Beziehung zum Häftling war, wenn – wie die moderne Psychologie sagen würde – eine Kontaktaufnahme stattfand, immer ein Gegenstand: Peitsche, Gürtel, Stock, Pistole, Spritze. Von diesem aseptischen Wahn, einen zu Ungeziefer entmenschten Feind säuberlich aus der Distanz auszurotten, haben wir Nachgeborenen während des US-Krieges in Vietnam einen umfassenden Eindruck erhalten.

»In Belsen hätte sie einmal ein von der Arbeit zurückkommendes Küchenkommando eine halbe Stunde lang zur Strafe Sport machen lassen, weil zwei Pfund Fleisch gestohlen worden worden waren und sich der Täter nicht gleich meldete… (Okt. 45)

Im Prozeßbericht S. 252 erläutert sie die Bestrafung der Häftlinge in jenem naßforschen Kasinoton, der bis heute Polizisten, Krankenschwestern, Pädagogen, Familienvätern usw. eigen ist, wenn sie jemanden quälen wollen; sie reden ihre Opfer immer im pluralis collectivae an, etwa derart: Was machen wir denn nun? So die SS-Aufseherin Geese: ›Sie schwiegen alle, und da habe ich gesagt: Nun gut, dann müssen wir eben Sport machen, bis sich die Person bei uns meldet, welche die Pakete weggeworfen hat.‹ Und weiter nach Lüneburger Post: ›Erstens‹, erklärte sie, ›haben die Häftlinge den Sport sehr gut gemacht …‹ (ibidem)«

Vor den vorrückenden Truppen der Roten Armee im Osten versuchten die Nazis, nach Möglichkeit die KZ zu evakuieren und die Vernichtungsstätten dem Erdboden gleichzumachen. Viele dieser Evakuierungstransporte gingen nach Bergen-Belsen. Einer dieser Transporte, vom Buchenwald-Außenlager Dora, einem KZ bei Nordhausen, nach Bergen-Belsen war Gegenstand des Lüneburger Prozesses.

»›Ist es wahr, daß bei dem sechstägigen Bahntransport der 5039 fast verdursteten Häftlingen in der ersten Aprilwoche 1945 von Nordhausen nach Belsen zweiundvierzig Menschen tatsächlich am Durst gestorben sind?‹ Auf diese Frage der Anklagevertretung hatte … der ehemalige SS-Obersturmbannführer Kulessa zu antworten, weil er diesen Transport als Zweithöchster im Dienstrang mitgemacht hatte. ›Wir hatten eine Por­tion Tote‹, antwortete er, ›aber mich ging es nichts an. Ich war nicht der Dienstälteste. Das war der SS-Ober­scharführer Hartwig. Der war Transportführer, und der ist aus Belsen getürmt, als die Engländer kamen.‹ – ›Es ist überhaupt nicht zu verstehen, daß Sie die Gefangenen verdursten ließen! Zwischen Nordhausen und Belsen gibt es viele Bäche und Flüsse. Sie konnten doch den Zug halten und Wasser holen lassen.‹ – ›Ich meine, das geht ja nicht, daß jeder über einen Zug bestimmen kann, wie er will. Es ist doch so, daß der Zugführer seinen bestimmten Plan hatte, nach dem er fahren musste.‹ Aufgefordert, mehr über den Transport zu sagen, erklärte Kulessa: ›Die Gefangenen hatten es auf dem Transport ganz gemütlich. Je hundert Stück Häftlinge saßen auf einem Waggon.‹«

Ähnliches ist dem ehemaligen CDU-Familien­mini­ster Heck nach einem Besuch des zum KZ umfunktionierten Nationalstadions von Santiago de Chile eingefallen: die Häftlinge hätten es in der warmen Sonne ganz gut gehabt.

»›Warum haben Sie auf den Bahnhöfen kein Wasser für die Gefangenen geholt?‹ – ›Diese Bahnhöfe, dieses Wasser …‹, stammelte der Angeklagte, ›es gibt Bestimmungen, das ist nur für die Lokomotive da. Auch hatte ich ja gar nicht das Kommando.‹ (Okt. 45)«

Aus der Vernehmung des gleichfalls des Mordes beschuldigten Elektrikers des Lagers Bergen-Belsen, Otto Walter:

»›Das Lager war zuletzt doch in einem Zustand, nicht wahr?‹ – ›Zu dieser Zeit hatte ich auf der Hauptstraße des Lagers mit elektrischen Arbeiten zu tun, und die Hauptstraße war in Ordnung.‹ – ›Aber Sie mußten doch durch den Drahtverhau rechts und links von der Straße die dreizehntausend Leichen sehen.‹ – ›Der Drahtzaun war nicht elektrisch geladen und ging mich ja nichts an.‹ – ›Was muß das dann für Sie eine Überraschung gewesen sein, als die britischen Truppen Ihnen das Lager zeigten!‹ (ibidem)«

Überschrift zu drei Fotos über eine Gedenkfeier:

»EHRE DEM UNBEKANNTEN KONZENTRATIONÄR (9.11.45)«

Respekt vor den Toten setzte immer voraus, daß Sterben einen Sinn hatte, sei es die Beschwörung des unbegriffenen Schicksals, die dem Tod einen Ort im Mythos zuweist, sei es die christliche Verneinung vor dem Willen Gottes, welche die Toten seiner Gnade empfiehlt. Nicht Preis des Fortschritts, vor dem die beschämten Zeitgenossen die Augen senkten, nicht unvermeidbare Opfer eines notwendigen Kampfes.

Schon gar nicht das sogenannte Feld der Ehre die Schädelstätte derer, die mit dem obszönen Neologismus »Konzentrationäre« eher als Aktienbesitzer jenes Unternehmens gelten könnten, für das sie doch bloß den Rohstoff gestellt haben. Insofern als die Opfer die faux frais objektiver Unvernunft verkörperten oder auf das Konto wie auch immer gearteter menschlicher Leidenschaften verbucht werden konnten, wohnte dem Tod immer noch ein spekulatives oder – für letzteres – äußerst irdisches Moment von Versöhnung bei. Diese Versöhnung mit dem Opfer, nicht mit dem Tod überhaupt, wurde gestiftet im allgemeinsten Sinn von der Religion und der Philosophie, in der Regelung des gesellschaftlichen Verkehrs von Recht und Gesetz und für das Individuum nicht zuletzt im Verlangen nach Rache.

An ihnen gab es nichts mehr zu ehren, gestorben umsonst, für niemand und nichts. Und nicht sinnloser Trauer, sondern des rächenden Hasses als des durch die instrumentelle Vernunft am wenigsten in zivilisatorische Schranken gezwängten Triebes hätte die sogenannte Befreiung bedurft, die doch bloß eine halbe war ohne ihn. Gerade der Aufstieg vom verheizten sogenannten »unbekannten Soldaten« (der doch immerhin sein Gewehr noch nach hinten richten konnte) zum vergasten unbekannten Häftling zeugt von der fortschreitenden Barbarei in der Zivilisation, die mit der Reduktion der lebendigen Voraussetzungen von Geschichte auf tote Dinge das Ende jeglicher Geschichte markiert.

Leben wird nurmehr zur besonderen Daseinsform des Sterbens.

Den legendären unbekannten Soldaten, dem in jeder größeren Hauptstadt der Welt steinerne Ehre zuteil wird, ereilte der gewaltsame Tod zwar schon in Gestalt der modernen Massenvernichtungsmittel, aber doch auch noch mit einem gewissen Rest von Zufälligkeit. So man davongekommen war, dankte man Gott.

Im unbekannten Häftling findet sich keiner wieder, weil keiner davonkommen sollte, und Deutschland ist immer noch das Land der Krieger- und Heldendenkmäler. Im unbekannten Häftling erkennt man die logische Fortsetzung jenes unbekannten Opfers des Schlachtfeldes in der entscheidenden Differenz: Jeder ein Unbekannter5, für den Zufall kein Raum.

Einige Wenige haben es überstanden, aber überlebt hat keiner.

Juni 1978

Die Gleichschaltung der Erinnerung

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