Читать книгу Die Gleichschaltung der Erinnerung - Eike Geisel - Страница 8

Notizen

Оглавление

Schuld – Es gibt keine Zuschauer mehr. Manche Theater äffen den Ernst dieses Befundes nach und fordern das Publikum – Gottseidank noch meist vergeblich – zum Mitspielen auf. Dann gibt es nur noch Kreative, und die Kritik verstummt.

Reale gesellschaftliche Gestalt gewann die Auslöschung dieser Differenz erstmals im Nationalsozialismus. Die Effizienz totaler Herrschaft bestand darin, tendenziell jeden ins Konzentrationslager zu bringen. Unschuldig war man nur auf Zeit, solange man noch draußen war. (Umgekehrt gingen die Alliierten, wie Hannah Arendt in »Organisierte Schuld« schreibt, zu Recht davon aus, daß jeder, dem die Nazis nichts angetan hatten, schuldig sei). Wußten politische Häftlinge noch, warum man sie eingesperrt hatte, so begriffen doch diejenigen, die sich für im Sinne des Systems unschuldig hielten, ihre Verhaftung und Deportation überhaupt nicht. Aber genau an diesem Punkt begann erst die eigentliche Domäne nationalsozialistischer Herrschaft.

Wie etwa gegenwärtig bei den rechtsstiftenden Versuchen der Polizei, die das Demonstrationsrecht zu novellieren forciert, indem sie durch Massenverhaftungen den Tatbestand der Teilnahme schafft, so galt auch bei den Nazis als tatverdächtig, nicht wer gegen die herrschende Ordnung verstoßen, sondern wer nicht positiv Partei für sie ergriffen hatte.

Die Unbeteiligten versuchten sich herauszureden, es müsse ein Irrtum vorliegen, wenn man sie verhaftet hatte, und sie protestierten – immer ergebnislos – dagegen, wie »gemeine Verbrecher behandelt zu werden«. Doch diese irritierten Klagen verliehen der dezisionistischen Willkür nur das nötige Salz.

Daß die Kategorie des Unbeteiligten liquidiert wurde, war die Rache am Liberalismus und dessen zusammengebrochener Vorstellung von Öffentlichkeit. Keiner sollte allein sein, höchstens der Führer.

Die begründete Differenz von privat und öffentlich wurde vernichtet, in dem die Karikatur der jeweiligen Extreme ritualisiert und zur Institution erhoben wurde: Parteitage und Massenaufmärsche im Hollywood-Format versus Familienidylle mit Hausmusik bei den KZ-Scher­gen.

Endsieg – Grenzübertritte vom europäischen Ausland in die Bundesrepublik führen manchmal auch bei weniger sensiblen Naturen zu einem erstarrenden Entsetzen, für welches sich der Begriff »Kulturschock« eingebürgert hat, jenes lähmende Erschrecken, das einen bei Wiedereintritt in die Barbarei befällt.

Fast ein Jahr nach Mogadishu, als sei die Tendenzwende sich selbst noch nicht ganz gewiss und der Bekräftigung durchs Ritual bedürftig, empfängt Rückkehrenden aus allen Kanälen und Redaktionen die triumphale Vollzugsmeldung: Mit der Erschießung von Willy Peter Stoll sei der Polizei ein entscheidender Schlag gegen den Terrorismus geglückt. In einem China-Restaurant sei er durch vier gezielte Revolverschüsse in den Oberkörper getötet worden. Aus allernächster Nähe.

Das nennt man in Deutschland ein zügiges Verfahren, keine Prozeßverschleppung, kein Personalaufwand, geringe Kosten. Die Kritiker, die an Stammheim weniger den architektonischen Ausdruck einer Gesinnung als den Steueraufwand bemängelten, sie werden zufriedengestellt.

Er soll gerade Hummersuppe gegessen haben, war in Bild zu lesen, und ein Kommentator in Hannover neidete ihm das angeblich teure Restaurant; wer nicht so dürftig an der Imbißstube Nahrung zu sich führt, sondern speist, soll auch nicht selig werden.

Richtig zurückgekehrt sieht man am Abend in einer live-Sendung des Fernsehens, wie die flexibel eingeschobene Hinrichtungsmeldung von zahlreichen Studiogästen beklatscht und vom Moderator bewitzelt wird: er empfinde eine klammheimliche Freude.

Unausweichlich zuhause findet man in den folgenden Tagen in allen Zeitungen das tote Gesicht mit der Brille.

Sie hatten ihn schon oft getötet als er noch lebte, und jetzt war er ihnen noch nicht tot genug.

Einigen wenigen ist es peinlich, sie fürchten um ihre europäische Reputation und meinen, sie könnten als Regisseure dieser Inszenierung, die gar keiner bedarf, im Ausland gelten und wiegeln deshalb vorsichtig ab; man sollte es nicht allzu toll treiben.

Im Konzentrationslager wie in den okkupierten Gebieten ließ man die von der SS und den Einsatzkommandos Erhängten noch tagelang am Baum oder am Galgen baumeln, damit jeder sehen konnte, wie im sicheren Zweifelsfall auch mit ihm verfahren würde. Doch die allgemeine Drohung, wie sie den tagelang gezeigten Bildern in Zeitungen und Magazinen anhaftet, ist bloß sekundär, traditionelle Abschreckung.

Was die Zurschaustellung der Opfer der Nazis mit der mediengerechten Aufbereitung der getöteten RAF-Mit­glie­dern verbindet ist der grenzenlose Zynismus. Die Toten müssen ein Stück Dreck sein, ehe sie zu Erde werden dürfen.

Hitler hat, entgegen anderslautenden Behauptungen, den Krieg doch gewonnen.

Apokalypse Now – »Abschied für immer von einer Stätte des Grauens« lautete die Überschrift in der als linksliberal eingestuften Tageszeitung. Was wurde angezeigt? Eine Rezension über die Befreiung von Buchenwald? Ein Bericht über kambodschanisches Flüchtlingselend? Ein Report über die Rückkehr der wenigen Überlebenden der Kommune von Jonestown? Knapp gefehlt: Unter diesem Titel berichtete der Sportinforma­tionsdienst über ein Fußballspiel zwischen der Bundesrepublik und Malta im maltekischen Stadion von La Valetta. »Die deutschen Fußballer«, heißt es dort, »verließen das Gzira-Stadion von La Valetta auf Malta mit dem Gesichtsausdruck von Männern, die soeben einem Verhängnis entronnen sind.« Der Boden sei holprig dort gewesen, habe ein flüssiges Spiel der deutschen Mannschaft verhindert.

Die apokalyptischen Wendungen des Reporters, welche ein Stadionrund in den Neunten Kreis der Hölle verwandeln, kommen nicht von ungefähr. In ihnen teilt sich die Ahnung mit, dass nicht nur der Rasen wunschgemäß gestutzt werden muss, damit es zur Katastrophe kommt. Eine schlecht gespülte Tasse oder ein ungebügeltes Hemd haben heute alle Eigenschaften, die früher den Göttern zukamen: sie werden zum Auslöser einer Tragödie. Wenn man daran denkt, dass ein paranoider Präsident Nixon nur schlecht geschlafen haben musste, um anderntags Wahnsinnsbefehle an seine – Gottseidank bloß von instrumenteller Vernunft besessenen – Generäle durchzugeben, so ist man wiederum froh, dass die Deutschen durch alliierte Vorbehalte nicht schon wieder in der Lage sind, bloß weil sie ein Fußballfeld, das ein Fußball­feld ist, juckt, deshalb gleich die halbe Welt in die Luft zu jagen. Denn damit würde wirklich jeder löchrige Boden von La Valetta zu einer Stätte des Grauens, von der ein Abschied für immer ausginge.

Seelenwanderung – In Goethes »Belagerung von Mainz« ist in der Eintragung vom 25. Juli 1793 nachzulesen, wie er einen verkleideten, aber trotzdem entdeckten Jakobiner der Wut der Volksmassen entriss, weil er »lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen« wollte.

Fast 180 Jahre später liefert ein gewerkschaftlich organisierter Goethekenner, also ein Deutschlehrer, eine verkleidete, aber trotzdem als Ulrike Meinhof erkannte Frau der Polizei aus, weil die Ordnung nicht zu ertragen eine Gerechtigkeit begehen hieße.

Verlustanzeige – Nach einigen Tagen ging er zum zuständigen Polizeirevier und meldete sich als vermisst. Dem Beamten, der die Anzeige aufnahm, gab er eine genau Beschreibung seiner Person, Alter, Größe, Gewicht, Haar- und Augenfarbe und auch der Kleider, die er am Leibe trug.

Der Polizeibeamte notierte alles sorgfältig und versprach, ihn zu benachrichtigen, sobald man eine Spur gefunden habe. Wenig später erhielt er die telefonische Mitteilung, der Vermißte sei hilflos aufgefunden und unverzüglich ins nahegelegene Spital gebracht worden, wo er ihn, nach Rücksprache mit dem verantwortlichen Stationsarzt jederzeit besuchen könne. Im Geschwindschritt machte er sich auf den Weg zum Krankenhaus, erklärte dem Pförtner sein Begehren und wurde ohne Umschweife zu dem Patienten vorgelassen. Als er sich im Bett da vor sich liegen sah, schüttelte er den Kopf, dankte der Schwester und wandte sich zum Gehen. Es ist ein Irrtum, dachte er, es ist der Falsche.

Traumjob – Herr K. traf unterwegs einen alten Bekannten. »Wie geht es Ihnen denn?«, erkundigte sich Herr K. »Wunderbar«, entgegnete der Bekannte, »ich habe endlich den Beruf meines Lebens gefunden.«

»Sie Unglücklicher«, sagte Herr K. erbleichend und ging eilends weiter.

Arbeit macht frei – Das Foto zeigt eine Gruppe demonstrierender Arbeiter, die ein Plakat vor sich hertragen mit der Aufschrift: Wer aussperrt, soll eingesperrt werden.

Dass die Aussperrung der Arbeiter untersagt werden soll, wie durch einen Artikel der hessischen Landesverfassung etwa, das fordern die Gewerkschaften. Sie halten dieses Mittel in den Händen der Unternehmer für eine einseitige und unzulässige Verschiebung eines Zustandes, den sie als Tarif- oder Sozialpartnerschaft bezeichnen.

Sie haben vollkommen recht. In der Regel wird eine Aussperrung dadurch beendet, dass die Arbeiter wieder eingesperrt werden. Das Verbot der Aussperrung und das Recht auf Arbeit als Verfassungsartikel würde endlich beide, Unternehmer und Gewerkschaften, zu gleichberechtigten Aufsehern von Häftlingen machen, die längst ihre eigenen Wärter geworden sind.

Paradise lost – Offensichtlich war, dass es Oben nichts zu holen gab. Die Geschichte des deutschen Bürgertums: eine lückenlose Chronik der Selbstentmündigung.

In der Mitte schon immer potentielle Nazis.

Also machte man sich an Unten zu schaffen und entdeckte die Arbeiterbewegung. Deren Repräsentanten stimmten gerade mit 35jähriger Verspätung einem Ermächtigungsgesetz zu. »Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten!«, war eine der populären Empörungen. Sie wurden auf der Straße skandiert von jenen, die nicht wahrhaben wollten, dass die deutsche Arbeiterbewegung nicht mehr war, was sie nie gewesen war. Lange bevor es Volkswagen und Neckermann-Reisen gab, hatten die deutschen Arbeiter ihr Erstgeburtsrecht wirklich für einen Eintopf verkauft.

Wer hat recht? – Der liebe Knecht!

Ein Landaufenthalt – Wie einer, am Ende seiner Kräfte und mit dem letzten, verzweifelten Versuch, endlich – so oder so – eine Entscheidung herbeizuführen, das Angebot eines alten Freundes, sich für gewisse Zeit in dessen Haus auf dem Lande, von welchem er gar nicht gewußt, zurückzuziehen, nach einigem Bedenken, fast schon erleichtert, annimmt; wie er, wirklich auf dem Lande angelangt, das abgeschieden in einem Wäldchen stehende Gebäude mit wachsender Ruhe in Augenschein nimmt; wie er für die künftigen Tage, fast schon befreit, in den fremden Räumen den wenigen mitgebrachten Dingen einen zweckmäßigen Platz zuweist; wie er in der Nacht, kaum, daß er eingeschlafen ist, von Schritten geweckt wird, die er ums Haus schleichen hört, sich vorsichtig erhebt, sich zur Tür tatstet und, das Ohr an sie pressend, draußen, in unmittelbarer Nähe, deutlich Atemzüge vernimmt, nicht weiß, wie lange er so verharrt, und in der Frühe, sobald das Morgengrauen durch die Bäume dringt, fluchtartig abreist, ohne zu wissen, wohin.

Höhenluft – Daß man den Dingen nicht mehr auf den Grund kommen soll hat selbst einen, nämlich keinen. Realitätssüchtig ist, wer am Rande des Abgrunds auf dem Teppich bleibt, wer mit beiden Beinen auf des Messers Schneide steht und mit geschlossenen Augen die Gratwanderung entlang der Bodenlosigkeit absolviert. Die Blinden sind die Hellseher von heute, wer also nichts wissen will, weiß alles.

Wenn man darüber leicht den Verstand verlieren kann, so setzt das voraus, dass man ihn zuvor besessen hat. Wer heute Vernunft oder Wahrheit oder irgendwas ernst nimmt, kommt unversehens und sei es nur dadurch, dass er vor der höchsten Gefahr erbleicht, in der Rolle des Spinners, des Sektierers, des Querulanten. Nicht weil der anstößige Gedanke schon immer diskriminiert war, sondern weil er überhaupt liquidiert ist. Nicht das Denken ist in Gefahr, es ist selbst zu einer geworden. Weil vernünftige Bestimmungen sich nicht mehr vernünftig aus dem Bestehenden herleiten lassen, ist der Schritt von der Reflexion zum Wahn sehr klein.

Adorno hat über das Scheitern der Theorie vor dem Nationalsozialismus gesagt, dass, wer nicht subjektiv dem Wahnsinn verfallen wolle, der objektiv herrscht, sich immer wieder aufs Begreifen des nicht zu Begreifenden zurückgeworfen sehe. Dieser fast tröstlichen Formulierung hat er vergessen hinzuzufügen, dass man dabei noch immer auf der Schwelle zum Wahn sich befindet, den man bekämpft. Das ist die objektive Situation einer Welt, in welcher noch die prospektiven Opfer, aus Angst vor der angemessenen Angst, mutig aufs Denken verzichten, anstatt aus dem Rahmen zu fallen.

Die Unversöhnlichkeit dieses Zustandes versetzt das Individuum schon längst nicht mehr in den Zustand der Unversöhnlichkeit. Unpässlichkeit ist die Grenze des Er­laubten und macht schon Literatur. Gefragt sind Artisten, die es sich auf dem Hochseil gemütlich machen. Gedanken sind krumm. Die Abweichung kommt vor dem Fall.

Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Und freischwebend sind bloß die Engel.

Die Gleichschaltung der Erinnerung

Подняться наверх