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Das KZ Bergen-Belsen

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Hanna Lévy-Hass wurde im Sommer 1944 nach Bergen-Belsen deportiert, zu einem Zeitpunkt, als sich der Charakter dieses Lagers entscheidend verändert hatte: aus dem sogenannten »Vorzugslager«, wie es – so auch das KZ Theresienstadt – in SS-Kreisen bezeichnet wurde, hatte sich ein Konzentrationslager mit ständig steigender Häftlingszahl entwickelt.

Anfang 1943 hatte das Auswärtige Amt der SS vorgeschlagen, Juden mit Pässen oder Konsulatsbescheinigungen der »Feindstaaten« zum Austausch mit internierten Deutschen zur Verfügung zu stellen und sie vorläufig nicht in die Vernichtungslager im Osten zu deportieren. Die SS ordnete im April an, in Bergen-Belsen ein Sammellager für 10000 »Austauschjuden« zu schaffen und erließ Richtlinien für die »Bestimmung des jüdischen Per­sonenkreises«, der dort festgesetzt werden sollte: »Juden mit verwandtschaftlichen oder sonstigen Beziehungen zu einflußreichen Personen im feindlichen Ausland... Juden, die als Geiseln und als politische oder wirtschaftliche Druckmittel brauchbar sein könnten; jüdische Spitzenfunktionäre«. Für das »Aufenthaltslager« übernahm die SS einen Teil eines bereits bestehenden Kriegsgefangenenlagers, wo 1941/42 Tausende von russischen Soldaten durch Hunger, Erschöpfung, Ruhr und Fleckfieber umgekommen waren. Aus durchsichtigen Gründen erhielt Bergen-Belsen nicht den Status eines Zivilinternierungslagers.

In einem Rundschreiben des SS-Wirtschafts-Verwal­tungs­hauptamts vom Juni 1943 heißt es: »Wie der Chef der Sicherheitspolizei und des SD mitteilt, muß aus taktischen Gründen an Stelle der Bezeichnung ›Zivilinterniertenlager Bergen-Belsen‹ die Bezeichnung ›Aufenthaltslager Bergen-Belsen‹ treten. Diese Änderung ist er­forderlich, da Zivilinterniertenlager gemäß der Genfer Kon­vention internationalen Kommissionen zur Besichtigung zugänglich sein müssen.« So wurde das »Aufenthaltslager« von Anfang an in die Konzentrationslagerver­waltung der SS eingegliedert.

Zwischen Mitte 1943 und Herbst 1944 wurden ungefähr 5000, vornehmlich holländische Juden nach Bergen-Belsen gebracht. Sie waren im »Sternlager«, so genannt, weil die Häftlinge den »Judenstern« auf ihrer Kleidung tragen mußten, die stärkste Gruppe neben Juden aus Saloniki, jugoslawischen, albanischen, nordafrikanischen und französischen Juden. Sowohl an der ursprünglich geplanten Anzahl von 10000 wie an den zum vorgeblichen Austausch nach Bergen-Belsen geschafften und an den nur 357 tatsächlich ausgetauschten Juden mag man ersehen, wie bedeutungslos das »Austauschprogramm« gewesen ist. Es beeinträchtigte die zur selben Zeit fahrplanmäßig abgehenden Vernichtungstransporte ebenso wenig, wie das ökonomische Interessen oder die Erfordernisse der Kriegslage taten.

Der auf einer »Fahrplankonferenz« im Mai 1944 in Wien aufgestellte Zeitplan, der den täglichen Umfang der Mordtransporte von ungarischen Juden auf 12000 festlegte (über 300000 ungarische Juden wurden nach Auschwitz verschleppt), wurde minutiös eingehalten, obwohl zu diesem Zeitpunkt jeder Eisenbahnzug gebraucht worden wäre, um die Front mit Nachschub zu versorgen. Jüdische KZ-Häftlinge wurden von der SS nur nach Maß­gabe des Programms der »Endlösung« an industrielle Unternehmen »ausgeliehen«. Dazu heißt es in einem Rund­schreiben Himmlers vom 9.10.1942: »Gegen alle diejenigen jedoch, die glauben, hier mit angeblichen Rüstungsinteressen entgegentreten zu müssen, die in Wirklichkeit lediglich die Juden und ihre Geschäfte unterstützen wollen, habe ich Anweisung gegeben, unnachsichtlich vorzugehen.« Für die unter dem Vorwand eines even­tuellen Austauschs verschleppten Juden, die sich das »Privileg«, nicht sofort zum »Arbeitseinsatz nach Osten«, das hieß zur Vernichtung deportiert zu werden, mitunter teuer erkauft hatten, war die Vorspiegelung der möglichen Befreiung bloß eine besonders infame und immer wieder ergiebige Quelle für Illusionen.

Ab März 1944 schickte die SS auch KZ-Häftlinge nach Bergen-Belsen, die durch den Einsatz in Rüstungsbetrieben so geschwächt waren, daß sie durch andere ersetzt werden mußten. Der erste Krankentransport, 1000 meist tuberkulöse Häftlinge, kam aus dem Lager Dora, einem unterirdischen Außenkommando des KZ Buchenwald, wo die Häftlinge unter viehischen Bedingungen bei der Produktion von V-Waffen eingesetzt waren. Die stetig wachsende Gruppe von »nicht mehr Arbeitsfähigen« wurde im äußersten Teil des »Austauschlagers« abgetrennt zusammengepfercht, im sogenannten »Häftlingslager«, das für ein »Baukommando« von 500 aus verschiedenen KZ nach Bergen-Belsen geschafften Häftlingen angelegt worden war. Die von der SS in anderen Konzentrationslagern pedantisch durchgeführte Kategorisierung und Hierarchisierung der Häftlinge wurde in Bergen-Belsen um eine räumliche Dimension erweitert, jede Kategorie wurde im Lager durch hohe Drahtzäune von der anderen getrennt, so daß es mehrere »Binnenlager« im »Aufenthaltslager« gab:

das schon erwähnte Sternlager, in das man die Verfasserin des Tagebuchs [Hanna Lévy-Hass] verschleppt hatte und in dem mörderischer Arbeitszwang bestand. Selbst Greise wurden in die Arbeitskommandos zum »Stubbengraben« (d.h. Ausgraben und Zerkleinern von Baumstümpfen und Wurzeln in den Heidewäldern) gezwungen;

das Häftlingslager, das von Anfang an wie ein »normales« KZ verwaltet wurde: Sträflingskleidung, Sklavenarbeit, Kapo-Regime, Mißhandlungen, mangelnde medizinische Betreuung. Sofort nach dem Eintreffen des oben erwähnten Transports aus Dora stieg die Sterbequote sprunghaft an;

das Neutralenlager, in dem mehrere hundert Juden neu­traler Staaten (Spanien, Portugal, Argentinien, Türkei) ohne Arbeitszwang unter bis März 1945 vergleichbar »erträglichen« Bedingungen inhaftiert waren;

das Zeltlager, ein Komplex hinter dem »Sternlager«, der ab Herbst 1944 mit Tausenden von Frauen aus dem Konzentrationslager Auschwitz belegt wurde;

schließlich das Ungarnlager, errichtet im Juli 1944, wo ähnliche Bedingungen herrschten wie im »Neutralenlager«. Die ungarischen Juden trugen Zivilkleidung mit dem »Judenstern« (über ihren Austausch verhandelte Himmler über Mittelsmänner mit jüdischen Organisationen). 1685 ungarische Juden wurden nach langwierigen Kopfgeldverhandlungen zwischen der SS und jüdischen Hilfsorganisationen im Dezember 1944 mit einem Zug in die Schweiz gebracht. Zu dieser Zeit waren bereits mehrere Hunderttausend ungarische Juden in Auschwitz ermordet worden.

Im »Sternlager« entwickelten sich selbst noch unter den chaotischen Zerfallserscheinungen der totalitären Herrschaft die Formen der »Zwangsgemeinschaft«, die für das Konzentrationslagersystem charakteristisch waren und die H.G. Adler detailliert für das KZ Theresienstadt beschrieben hat und denen in Bergen-Belsen vor allem die Beobachtungen und Reflexionen von Hanna Levy-Hass gelten. Ein ausgefeiltes System der Häftlingshierarchie, vom Lagerältesten bis zum Vorarbeiter, hielt jeden einzelnen Häftling ununterbrochen im Netz des Terrors gefangen, so daß in Bergen-Belsen bei immer steigender Häftlingszahl einige Dutzend SS-Leute, die zudem angesichts der um sich greifenden Epidemien immer weniger in Erscheinung traten, die Massen der Häftlinge dem sicheren Tod durch Hunger, Krankheit und Erschöpfung aussetzen konnten.

Ähnlich wie im KZ Theresienstadt waren im »Stern­lager« Männer und Frauen, ganze Familien inhaftiert, und die Illusion einer bevorzugten Behandlung trug wesentlich zur Zerrüttung der psychischen Verfassung der Insassen bei. Denn Gerüchte über einen angeblich bevorstehenden Austausch, über mögliche Maßnahmen der SS- Lagerverwaltung oder über die Frontlage spielten im »Sternlager« eine eminente Rolle. Sie zirkulierten als Meldungen einer fiktiven Agentur, der »JPA«, was Jüdische Presseagentur bedeutete und als Kürzel synonym für Gerücht galt.

Als im Winter 1944 die alliierten Armeen immer weiter vordrangen, verschleppte die SS die noch überlebenden Häftlinge frontnaher KZ ins Innere Deutschlands. Oft wochenlang waren diese Transporte unterwegs, auf »Todesmärschen« oder in offenen Güterwaggons bei eisiger Kälte und ohne Verpflegung. Durch die Massentransporte von entkräfteten Zwangsarbeitern, die zur »Erholung« nach Bergen-Belsen gebracht wurden, und infolge der Evakuierungstransporte aus Auschwitz und seinen Nebenlagern, aus den KZ Ravensbrück, Groß-Rosen, Mauthausen u.a. (vor allem Frauen) stieg die Häftlingszahl in Bergen-Belsen rapide an: Ende November 1944 etwa 15000 Häftlinge, Ende Januar 1945 ungefähr 22000, Ende Februar 41000 und zur Zeit der Befreiung des Lagers Mitte April etwa 60000.

Mit dem neuen Lagerkommandanten Josef Kramer, einem erfahrenen KZ-Fachmann, der es vorher bis zum Adjutanten des Auschwitz-Kommandanten Höß und zum Kommandanten des Lagers Auschwitz II (Birkenau) gebracht hatte, mit der systematischen Überfüllung, dem organisierten Hunger, den umfassenden Epidemien und Krankheiten, schließlich mit den ununterbrochenen Mißhandlungen war die Umwandlung von Bergen-Belsen in ein »regelrechtes« KZ und Vernichtungslager abgeschlossen. Wenige Tage vor der Übergabe des Lagers an die Engländer wurden die »Austauschjuden« in drei Zügen abtransportiert, und so wurde auch formal dokumentiert, daß das »Aufenthaltslager Bergen-Belsen« seit einigen Monaten – ohne daß die »Austauschjuden« eine bessere Behandlung als die anderen Insassen erfahren hätten – als Sammelstelle für die Evakuierungstransporte diente: als gigantischer Ablagerungsplatz für menschliches Roh­material, das nach dem Ausfall der Verwertungsanlagen nurmehr als Abfall betrachtet und behandelt wurde. Und wie eine Müllkippe fanden die Engländer das Lager vor: Tausende zu Leichenbergen aufgeschichtete tote Körper, Fäulnis, Verwesung, Gestank.

Bergen-Belsen zeigt im Unterschied etwa zu Auschwitz und dem bürokratisch kalkulierten Mord der Gaskammern, wie wenig dem vorherrschenden Perfektionismus der industriellen Massenvernichtung die historischen Mittel der Massenverbrechen fremd sind. Denn planmäßiger Hunger und gewollte Seuchen waren die Hauptursachen des Massensterbens im KZ Bergen-Belsen. Verglichen damit wurde kaum eine große Zahl von Häftlingen Opfer unmittelbarer persönlicher Gewaltanwendung von seiten des SS-Wachpersonals, durch Erschießungen oder Mißhandlungen.

Allein im März 1945 starben in Bergen-Belsen über 18000 Menschen oder kamen bereits tot mit den eintreffenden Transporten an; bis zur Befreiung des Lagers erhöhte sich die Zahl der durch Hunger und Fieberepidemien vernichteten Menschen auf 35000. Und nach der Befreiung starben weitere 13000 an den Folgen der Erkrankungen und Entbehrungen, trotz der medizinischen Hilfe der Engländer, die in den Arsenalen der Lagerverwaltung riesige Mengen zurückgehaltener Lebensmittel und Medikamente entdeckten.

Vom 17. September bis zum 16. November 1945 fand in Lüneburg vor einem britischen Militärgericht der Bergen-Belsen-Prozeß statt. Angeklagt waren 33 SS-Leute und 11 Häftlinge mit Aufsichtsbefugnissen, sogenannte Kapos. Ein großer Teil des SS-Wachpersonals blieb vollkommen unbehelligt, da die Engländer nur jene anklagten, die sie bei der Übernahme des Lagers vorgefunden hatten. Der Prozeß wurde auf der Grundlage der britischen Militärgerichtsbarkeit geführt, was heißt, daß die deutschen Angeklagten prozessual wie englische Soldaten behandelt wurden und ihnen individuelles Verschulden nachgewiesen werden mußte. 11 SS-Angehörige wur­den zum Tod verurteilt, 11 weitere Angehörige des SS-Wachpersonals und 8 Kapos zu Freiheitsstrafen, 14 Angeklagte wurden freigesprochen.

Über den Bergen-Belsen-Prozeß findet man in den Lüneburger Bibliotheken kein einziges Buch. Eine Anfrage im Stadtarchiv nach Unterlagen über den Prozeß oder anderem zeitgeschichtlichen Material wurde knapp beantwortet: nach den Archivierungsvorschriften fallen das Konzentrationslager Bergen-Belsen und der Prozeß nicht unter Angelegenheiten, welche die Stadt Lüneburg betreffen.

In Bremke, einem kleinen Dorf in Südniedersachsen, in der Nähe von Göttingen, findet man an der Stelle der niedergebrannten Synagoge heute einen deutschen Vorgarten: Immergrün und Gartenzwerge. Mit liebevoller Gründlichkeit ist hier die Vergangenheit »aufgearbeitet« worden. In Lüneburg die kleinstädtische Variante der Politik des verbauten Gedächtnisses, die auf die Politik der verbrannten Erde folgt: noch die Erinnerung an die Erinnerung wurde getilgt. An der Stelle des 1976 abgerissenen Prozeßgebäudes, der alten Städtischen Turnhalle, befindet sich heute ein Parkplatz.

Nachtrag: Die einzige detaillierte Studie über das KZ Bergen-Belsen, das 1962 in Hannover erschienene Buch von Eberhard Kolb (»Bergen-Belsen«), ist längst vergriffen und wird – nach Auskunft des Verlags – in absehbarer Zeit nicht wieder aufgelegt. Eine gedrängte Zusammenfassung der Monographie von Kolb findet man in den »Studien zur Geschichte der Konzentrationslager«, Stuttgart 1970 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Nummer 21, S. 130-153).

Einige wichtige Publikationen über den Nationalsozialismus waren ebenfalls über viele Jahre hinweg nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Zu einer Zeit, in der den Deutschen die von ihnen begangenen Verbrechen unter dem Markenzeichen HOLOCAUST so griffig und geläufig werden wie NIVEA und nach dem Muster eines beliebten TV-Spiels jedermann zur Mitwirkung an einer inszenierten Betroffenheit aufgefordert ist, zu einer Zeit, in der ein Hitler-Fest-Film und ein Hitler-Fest-Buch bestimmt nicht das Andenken eines Verstorbenen verunglimpfen, von dem Adorno gesagt hat, man wisse nicht genau, ob er tot oder entkommen sei, ist es angebracht, auf einige Wiederauflagen längst vergriffener Titel hinzuweisen:

Hannah Arendt, »Eichmann in Jerusalem«, Rowohlt-Taschenbuch 1978.

Eugen Kogon, »Der SS-Staat«, Heyne-Taschenbuch 1977.

Jean Améry, »Jenseits von Schuld und Sühne«, Klett 1977.

Rudolf Höss, »Kommandant in Auschwitz«, dtv 1978.

Gerhard Schönberner, »Der gelbe Stern«, Bertelsmann 1978.

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