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No Business like Shoahbusiness
ОглавлениеHätten sie damals zu ihren Eltern gehalten, dann wären sie vielleicht heute auch irgendwo oben und nicht nur dazwischen. Mit großer Verspätung haben die Linken begriffen, dass die einzig erfolgreiche kriminelle Organisation die Familienbande ist. Die erfolgreiche Mutation der revolutionären Zellen zu Keimzellen des Staates fasste der SPD-Funktionär Glotz einmal in einem vernichtenden Lob zusammen, er sprach von der »zur Standhaftigkeit geläuterten Protestgeneration von 1968«. Trotz dieses Persilscheins benötigte der sozialdemokratische Parteivorstand noch fast zwei Jahre, um die selbst verschuldete Harmlosigkeit der ehemaligen Aufrührer zu honorieren.
Im Frühjahr 1988 traf die SPD mit der Aufhebung des »Unvereinbarkeitsbeschlusses« eine jener richtungsweisenden Entscheidungen, welche die Behauptung unterstreichen, die hundertjährige Geschichte der Sozialdemokratie sei die Geschichte des Aufstiegs von Karl Marx zu Hans-Jochen Vogel. Die Mitglieder des SDS, eines linksradikalen Vereins, den es schon seit 1970 nicht mehr gibt, dürfen diesem Beschluss zufolge also wieder der SPD beitreten. Genau so relevant wäre etwa eine Ankündigung des Finanzministeriums, die Krawattensteuer sei abgeschafft oder die Frustrationsabgabe für Verheiratete werde aufgehoben. Nicht einmal im Traum würde einer der geläuterten Revolutionäre auf den Gedanken kommen, den ehemaligen Verein wiederzubeleben, aber nach diesem Beschluss können sie doch besser schlafen. Denn wie der gläubige Katholik erst die Absolution braucht, um ohne Gewissensbisse zum Abendmahl zu treten, so wünschen die Genossen von einst, makellos dazustehen, wenn sie das Sakrament einer Planstelle empfangen.
Jahrzehnte, ehe sich so viele wieder familiär zusammenrotteten, legte der spätere Bundespräsident bereits jenen herzlichen Familiensinn an den Tag, den heute alle uneingeschränkt an ihm bewundern. Mit seiner Wahl hatte auch die deutsche Nachkriegsliteratur ihren ersten und einzigen politischen Erfolg vorzuweisen: Weizsäcker war die Antwort auf die Spätheimkehrerprosa Ende der siebziger Jahre, die Antwort auf ein von der sogenannten Väterliteratur formuliertes kollektives Bedürfnis. Deshalb kann man heute kaum mehr unterscheiden, ob der neueste Artikel Hochhuths vom Kanzler diktiert oder die letzte Kirchentagsrede des Bundespräsidenten von Walser verfasst wurde; deshalb gibt es heute keine Klassen mehr, sondern nur noch Väter, Söhne und Enkel.
Seinen Vater, bei dessen Verteidigung er im Nürnberger Prozess »aus tiefer Überzeugung« mithalf, würde Richard von Weizsäcker, wie er israelischen Journalisten erklärte, heute genauso unterstützen wie damals. Die vornehme Zurückhaltung des Bundespräsidenten, nicht die unmanierliche Wut, mit welcher der Stern-Redakteur Niklas Frank sich seines von den Alliierten gehängten Vaters annahm, wirkte stilbildend auf zahlreiche Bekenntnisse, die unter Titeln wie »Zweite Generation« oder »Kinder der Täter« zur neuen Betroffenheitsbelletristik zählen.
Alle diese Berichte illustrieren vornehmlich die Binsenweisheit, dass einer keine Nazieltern haben musste, um unter ihnen zu leiden – wie umgekehrt gilt, dass ein lieber fürsorglicher Familienvater die allerbesten Voraussetzungen mitbringt, auch ein guter Nazi zu werden. Die gestandenen und geständigen Mittvierziger, denen die eigenen Bälger mit unangenehmen Fragen nach dem gegenwärtigen Mitläufertum auf der Nase herumtanzen, entdecken nun, dass sie vor allen Dingen die lebenslänglichen Kinder ihrer Eltern sind. Nicht von ungefähr forderte deshalb eine Psychoanalytikerin, welche die Selbstdiagnose dieses Personenkreises als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ansah, die sofortige Umwandlung der Bundesrepublik in eine geschlossene Anstalt. Ihren Kollegen, so war im Spiegel zu lesen, warf sie vor, es versäumt zu haben, der »massenhaften Traumatisierung der Deutschen ins Auge zu sehen«.
Doch wie unheilbar gesund und in Sehnsucht nach Wiedervereinigung von Urahne, Großmutter, Mutter und Kind sich verzehrend die angeblich traumatisierten erwachsenen Kleinen sind, geht aus den Aufzeichnungen einer Autorin über sich und andere »Kinder der Täter« hervor. Dörte von Westerhagen, die ihr Hobby, Familienarchäologie, in Therapiezirkeln und Interaktionsseminaren professionalisiert hat, schreibt: »In dem verzweifelten Bemühen, sich von negativen Elternbildern zu befreien und gleichzeitig doch noch zu bekommen, wonach man sich sehnte, Verständnis, Zugang zu guten Eltern, machten wir später den Eltern den Prozess, klagten sie in Wut und Hass an und wurden unsererseits zum Verfolger.« Weder sie selbst, noch eine der Personen, von denen sie berichtet, hat sich je an den Eltern vergriffen wegen deren Nazivergangenheit; es hat sich alles, abgesehen vom Vaterschänder Frank, zum Guten gewendet. Nur gelegentlich werden durchschnittliche Kinder von Rachegelüsten gepackt und begehen dort einen Mord, wo die meisten Kapitalverbrechen geschehen: zu Hause. Das gehört zu den Betriebskosten der familiären Sicherungsverwahrung. Zu diesen Kosten rechnet die Autorin auch die für den deutschen Hausgebrauch verschärfte Anwendung des fünften Gebots: »Es geht außerdem darum, die Liebe zu den Eltern, wie belastet sie immer waren, möglich zu machen (es) entsteht ansatzweise auch Dankbarkeit...«
Mittlerweile handelt es sich zumeist um posthume Familienfürsorge. Auch der Vater des Bundespräsidenten, der ehemalige Staatssekretär mit hohem SS-Rang, kommt nicht in die Lage, das vom Sohn erneuerte juristische Beistandsangebot anzunehmen. Erstens ist er tot, und zweitens interessieren sich, so wie die Dinge liegen, die deutschen Gerichte bestimmt nicht für ihn. Wahrscheinlich würde er als Widerstandskämpfer anerkannt und trotzdem eine Pension beziehen. Denn nach eigener Aussage war seine Mitgliedschaft in NSDAP und SS ein persönliches Opfer, um das Schlimmste zu verhindern, das er gerade durch seine Tätigkeit im Auswärtigen Amt damals anrichtete.
Auch der Bundespräsident will immer das Schlimmste verhindern. Er ist die personifizierte Begrenzung des Schadens, den alle um die Familienehre, will heißen um die Reputation der Bundesrepublik Besorgten, abwenden wollen und doch so zielsicher herbeiführen. Und am Ende kommt immer heraus, was angeblich keiner gewollt hat: zum Beispiel die neue Lust am historischen Schuldbekenntnis der Deutschen.
Horkheimer diagnostizierte 1960 das »kleinlaut und formell gewordene Schuldgetue«, welches nur die Funktion habe, sich »zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen«. Nach den tapsigen Auftritten des Kanzlers in Israel, in Bitburg und Bergen-Belsen hat sich kleinlaute Verdrücktheit in die stolze und vollmundig selbst von Helmut Kohl verkündete Einmaligkeit der deutschen Verbrechen verwandelt. Vor der als Historikerstreit bekannt gewordenen Ausrede, der Massenmord sei eine Doublette gewesen, rangiert nun die Verteidigung des Urheberrechts, der Anspruch auf Originalität: Auschwitz bleibt deutsch. Als Verbrechen zwar, aber doch auch als unvergleichliche Spitzenleistung.
Mit dieser Erklärung hat sich der Kanzler die offizielle Eintrittskarte zur »Zentralen Gedenkveranstaltung« am 9. November 1988 in der Frankfurter Synagoge erworben. Nachdem er sich bislang nur blamiert und immer bloß der Bundespräsident gute Zensuren ausgestellt bekommen hat, möchte er sich nun öffentlich bestätigen lassen, dass einige seiner besten Juden die Freunde der Deutschen seien.
Der inoffizielle Passierschein, mit dem der Kanzler zur Feierveranstaltung der neuen deutsch-jüdischen Symbiose durchgelassen wird, sieht hingegen anders aus – nämlich wie ein Bankauszug des verstorbenen Zentralratsvorsitzenden der Juden. Im Feudalismus wurden die Hofjuden physisch bedroht, damit sie den Finanzhaushalt des bankrotten Fürsten in Ordnung brächten; die Hofjuden, die sich die Bundesrepublik hält, werden finanziell unter Druck gesetzt, damit sie den angegriffenen Seelenhaushalt der Gesellschaft ausgleichen. Ihr oberster Funktionär hatte nämlich etwas getan, wovon abgestuft die ganze Bevölkerung seit der Nazizeit profitiert, und war in die Rolle des Vernichtungsgewinnlers geschlüpft, was deshalb als besonders skandalös galt, weil es ihn, wenn die Deutschen noch genügend Zeit gehabt hätten, eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen. Als Werner Nachmanns1 Unterschleif bekannt wurde, meldeten sich sofort besorgte Politiker und warnten davor, das Vergehen dieses Nachahmungstäters antisemitisch auszuschlachten. Damit waren sie bereits zum Symptom der Krankheit geworden, die sie verhindern wollten.
Und so kommt Kohl nach Frankfurt. Weil er will, was alle wollen, nämlich die ganze deutsche Geschichte, ist die Kritik verstummt. Die Kritiker haben sich in bekennende Historiker verwandelt. Mit der Konkursmasse aus einer neuerlichen Pleite, nämlich mit den Trümmerstücken des friedensbewegten Patriotismus, beteiligen sie sich fleißig am Wiederaufbau der Nationalgeschichte. Sie wollen auch nichts anderes als Deutschland, nur Deutschland anders. »Die deutsche Geschichte – dreigeteilt niemals!« ruft es aus dem Kanzleramt, und aus dem Westberliner Arbeitszimmer Peter Schneiders schallt es zurück: »Es muss endlich ein Ende haben mit dem gekrümmten Gang. Die deutsche Geschichte ist länger als zwölf Jahre ...«
Einige Jahrzehnte vor Auschwitz hatte sein Dichterkollege Börries Freiherr von Münchhausen, der in keinem Schullesebuch fehlt, eine stimmige poetische Metapher für die deutsche Traditionsbildung gefunden – die Lederhose: »Ja – Geschlechter kommen, Geschlechter gehen, / hirschlederne Reithosen bleiben bestehen.«
Mit der nationalen Wiedergutwerdung der Deutschen, die am 9. November 1988 in der Frankfurter Synagoge jüdisch abgesegnet wurde und die Verwandlung der Bundesrepublik in Deutschland abschließen soll, werden andererseits die Juden aus dem runderneuerten Kollektiv, vor dem sie schon heute mit bewaffneter Polizei geschützt werden müssen, ausgeschlossen. Manchmal explodiert schon heute ein Sprengsatz in einem Gemeindezentrum; aber abgesehen davon ist, wie Politiker immer wieder versichern, das Verhältnis von Deutschen und Juden ganz normal.
Als Antwort auf die Mutation von deutschen Linken in linke Deutsche haben sich jüdische Linke in linke Juden verwandelt. Zu welch vergleichbar komischen Resultaten diese Veränderung geführt hat, liest man gelegentlich in der taz, wenn ohne Arg über jüdisch-christliche Andachtsrituale von Linken berichtet wird, die sich vorzugsweise in evangelischen Akademien treffen, um sich nach dem gemeinsamen Kiddusch ans heitere Beruferaten »Was bin ich?« zu machen.
Diese Frage beantwortet in einer eigens zu diesem Zwecke gegründeten Zeitschrift namens Babylon Dan Diner mit einer Variation auf das seit der Friedensbewegung in Deutschland beliebte Rollenspiel, sich für das Opfer zu halten, indem er sich als Max Horkheimer verkleidet und darauf hofft, man werde ihn verwechseln: »Wir jüdischen Intellektuellen, die dem Märtyrertod unter Hitler entronnen sind, haben nur eine einzige Aufgabe«, zitiert er aus den »Notizen« als blicke er in einen Spiegel. Herausschaut aber das austauschbare Gesicht der A13-Kultur. Nicht dem Märtyrertod ist er entronnen, entkommen ist er der Frankfurter Szene, was ja auch eine glückliche Schicksalsfügung sein kann. Vor Jahren schrieb er im Westend über den Nahen Osten ein Buch mit dem Titel: »Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser«, was nicht persönlich gemeint war: heute ist er Professor in Tel Aviv.
In der Bundesrepublik sind zum Jubiläumsjahr der »Kristallnacht« alle fleißig am Graben, Recherchieren, Renovieren und Publizieren, um sich mit der wiedergefundenen Einzigartigkeit der deutschen Geschichte über die eigene Mittelmäßigkeit hinwegzutrösten. Ein halbes Jahrhundert nach der wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden, die 1938 einen Höhepunkt erreicht hatte, sind die Vertriebenen und Ermordeten zum Material einer gemeinnützigen Wachstumsindustrie geworden: There is no business like Shoahbusiness.
Die »Wiederjudmachung Deutschlands«, wie die Allgegenwart jüdischer Themen in den Medien von jenen bezeichnet wird, die in regelmäßigen Abständen den Deutschen erklären, dass Auschwitz kein Sanatoriumsaufenthalt für sie war, ist inzwischen zu einem flächendeckenden Arbeitsbeschaffungsprogramm geworden. Keine Gemeinde ist mehr ohne Judenreferent, jeder Sender hat seinen Vernichtungsexperten – die Nazis hätten sich die Finger nach so viel Fachleuten geleckt. Durch deren vereinigte Anstrengung gibt es zwar in der Bundesrepublik nicht weniger Antisemiten, nur weniger Arbeitslose, aber es wird durch sie noch einmal bestätigt, was zur Erfahrung der letzten Jahrzehnte gehörte: dass Erinnerung in Deutschland die höchste Form des Vergessens darstellt. Ihr Modell ist, vom Ende des Hauptbeteiligten abgesehen, der Eichmann-Prozess.
Nach seiner Festnahme in Argentinien wurde Eichmann aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, er sei einverstanden, vor ein israelisches Gericht gestellt zu werden. Diese Erklärung unterzeichnete er erst, nachdem er deren Sprache seinem grammatikalisch verkorksten Amtsdeutsch anverwandelt und ihr eine kuriose Bitte hinzugefügt hatte: »Nachdem ich mich nicht an alle Einzelheiten mehr erinnere und auch manches verwechsle und durcheinanderbringe, bitte ich, mir dabei behilflich zu sein, durch Zurverfügungstellung, durch Unterlagen und Aussagen, die meinen Bemühungen, die Wahrheit zu suchen, behilflich zu sein.«
Monatelang, Tag für Tag, erst im Gefängnis, dann im Gericht, bemühten sich die Prozessbeteiligten um den Angeklagten wie Pädagogen, die einem begriffsstutzigen Kind eine Vorstellung von dem zu geben suchen, was es angestellt hat. Doch die Mühe war vergeblich, Eichmann las die von ihm unterzeichneten Anordnungen, die ihm vorgehalten wurden, mit derselben Beflissenheit durch, mit der er sie einst ausgefertigt hatte. Er hatte gewissermaßen seinen Arbeitsplatz aus der Berliner Kurfürstenstraße in den Glaskasten im Jerusalemer Landgericht verlegt.
Die Verlaufsform der deutschen Vergangenheitsbewältigung ähnelt auf frappante Weise jenem juristischen Schauspiel in Jerusalem. Wie der ewige Student saßen die Deutschen in einer Art Dauerrepetitorium und zeigten sich resistent gegen jede Aufklärung über die eigene Vergangenheit. Weil der Student nun im annähernd neunzigsten Semester sich befindet und immer noch bei jeder Prüfung durchfällt, werden anlässlich des Pogrom-Jubiläums wieder zahllose Sendungen, Veranstaltungen und Ausstellungen als Nachhilfeunterricht angeboten. Damit nun der Kandidat nicht sofort wieder alles vergißt und zwischenzeitlich – wie bei der Bundeswehr geschehen – nicht symbolisch ein paar Juden verbrennt, bietet das erste Fernsehprogramm im Anschluss daran einen Intensivkurs über die Endlösung an: einen Mehrteiler über die Massenvernichtung vom Nordkap bis zur Ägäis. Um die Lernmotivation des Studenten kümmert sich ein ganzes Rudel von bislang arbeitslosen Lehrern, die nun den neugeschaffenen Beruf des Betroffensheitsarbeiters ausüben nach der Devise: »Wenn Sie bisher Juden ausrotteten, dann müssen Sie jetzt Judenpfleger sein.«
Diese Neufassung der Sonderbehandlung war einer der letzten Befehle, den Eichmann von Himmler erhalten hatte und nur mangels Gelegenheit nicht ausführen konnte. Der Umschwung wäre dem erklärten Hobbyjudaisten nicht schwergefallen. Statt seiner bemühen sich nun andere darum, diese Direktive zu befolgen. Mit pädagogischem Eifer sind sie darum bemüht, den Glaskasten in ein historisches Terrarium, in einen Erlebnisraum umzugestalten. Wenn einer schon nichts begreift, dann soll er wenigstens was zum Anfassen haben. »Ihre Neugier auf sinnliche Erlebnisse ist offensichtlich; die Phantasie möchte sich an der Retrospektive beteiligen«, schrieb W.F. Schoeller in der Süddeutschen Zeitung voller Sympathie für die Restverwerter, die angesichts der freigelegten Fundamente des jüdischen Gettos in Frankfurt ins Schwärmen gerieten. Weil es dort aber nur viel Steine und wenig Tod gibt, ist die Ausbeute an sinnlichen Erlebnissen mager. Von Arnulf Baring, dem Peter Alexander der deutschen Historiker, kam ein ganzes Bündel von Vorschlägen, diesen Erlebnishunger zu stillen, darunter die Anregung, in die sinnliche Wahrnehmung der Vergangenheit auch ein Schnupperstudium mit »Zyklon B« einzubeziehen. Das neueste Stimulanz zur Beflügelung des Lerneifers ist jedoch, nachdem die »Geschichte von unten« an ihre natürlichen Grenzen, ans Grundwasser, gestoßen ist, die »Geschichte von innen«. So bezeichnen Menschen, die die Geschichte lieben, aber ihresgleichen offenkundig nicht respektieren, ein Projekt, in welchem sie Überlebende in ihre »Geschichtswerkstatt« locken, um Hand an sie zu legen. Die einst Verfolgten und Gequälten sollen dort, möglichst naturgetreu, ihr Opferschicksal rekonstruieren. In einem Versuchsprotokoll heißt es: »Der Zeitzeuge berichtet nicht nur mündlich, sondern er durchlebt gemeinsam mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern noch einmal den geschichtlichen Vorfall. Bei allen Beteiligten, nicht nur bei S. selbst, führte dies zu tiefen und eindringlichen emotionalen Reaktionen. ›Betroffenheit‹ wurde vom Schlagwort zur Realität.«
Zwei prominente Beutestücke, die den Jägern der verlorenen Einmaligkeit wieder in die Hände gefallen sind, liegen in Berlin: die ausgebuddelten Gestapo-Keller und die Wannsee-Villa, wo 1941 bei einem Arbeitsfrühstück die Richtlinien der Massenvernichtung beschlossen wurden.
Diese Villa soll, wie das Gruseltroja an der Mauer, als eine Art Spukschloss am Wannsee künftig das Pflichtprogramm von Klassenfahrten nach Berlin ergänzen. Und die Historiker, die die deutsche Selbstfindung in der Professoralform und im Feuilleton versanden ließen, sollen hier wieder zur aktuellen Eingreiftruppe werden. In einer Art Neuauflage der Wannseekonferenz, die den Neid alternativer Freilandhistoriker auf sich zöge, könnten dann jene seit der TV-Sendung »Holocaust« unvermeidlichen Expertenrunden stattfinden. In der Atmosphäre des neuen Bekenntnisses zur Einzigartigkeit würde dann gewiß die immer noch brennende Streitfrage nach der maximalen Kapazität der Verbrennungsöfen zufriedenstellend geklärt.
Damit ein solcher Ort jedoch richtig zum Übungsgelände für Identität und Nationalbewusstsein wird, dafür müssen dann die Kleinkünstler der Selbstwiedergutmachung sorgen – die Schriftsteller. Denn wo die Begriffe fehlen, da stellt sich eine Lesung ein. Und dafür, dass ihn vom Kanzler bis zum Regierenden Bürgermeister alle plagiieren, könnte sich Peter Schneider dann mit einer Lesung aus »Vati«2 revanchieren.
1988