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Kapitel 1 Geld stinkt doch - Die Stadt Kopoks

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Die Einwohnerschaft der schönen Stadt Kopoks befand sich mittlerweile in hellem Aufruhr. Manch ein braver Handwerker oder Händler war des Morgens mit einem schrecklichen Gestank in der Nase aufgewacht. Hatte man etwa vergessen, die Türen zu schließen, so dass die Schweine, die sich normalerweise im Hinterhof in den Pfützen suhlten, ins Haus eingedrungen waren? Nun, das konnte wohl hier kaum der Fall sein, dachten die Bankiers von Kopoks, als sie um neun Uhr ihre Geschäftsräume betraten. Irgendwie müffelte es hier drin auf geradezu verbotene Weise. Waren etwa die Müllbehälter übergelaufen? Hatte irgendeiner der Kassierer wieder einmal seinen Mittagsimbiss, der allerdings aus recht würzigem Käse bestehen würde müssen, in einer Schublade vergessen? Nein, nicht einmal der Kopokser Roller, ein Weichkäse, dessen Ingredienzien aus guten Gründen besser geheim bleiben sollten, konnte für diese Art Gestank verantwortlich sein. Es war einfach skandalös. So durfte es in einer seriösen Einrichtung wie einem Bankinstitut auf gar keinen Fall riechen!

Direktor Ludwig Hurmel glaubte, seiner Nase nicht mehr vertrauen zu können, solch ein Schwall wie Tod und Pestilenz drang an das enorme Riechorgan des alten Bankiers. Er hatte kurzzeitig den Eindruck, als ob der Geruch in die hintersten Regionen seines Kopfes eindrang und dort alles durcheinanderwarf, was er in all den Jahren seines Lebens so gründlich geordnet hatte. Sogar eine Frage, die er sich niemals hatte stellen müssen in der ganzen Zeit seiner geschäftigen Existenz, tauchte plötzlich wie von unsichtbarer Hand geschrieben vor seinem geistigen Auge auf; die Frage nach dem Warum. Warum dies alles? Warum Geldwirtschaft? Warum Aktienpapiere, Pfandanleihen, Versicherungsverträge, Risikoimmobilien, Kreditzuwächse, Quittungen, Schuldbriefe, Zwangsräumungen? Diese Frage erschien jedoch nur einen sehr kurzen Augenblick lang am geistigen Horizont Hurmels, um dann gleich darauf zur großen Erleichterung des Direktors auf der Stelle für immer und ewig wieder zu verschwinden, ohne auch nur den kleinsten Rest eines Zweifels an der Rechtmäßigkeit der natürlichen Ordnung der Dinge hinterlassen zu haben. Aber mit dem Zweifel verschwand nun keineswegs dieser wahrhaft unerträgliche Gestank.

Hurmel hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, immer als Erster in dem Geldinstitut am Morgen zu erscheinen, er meinte, es sich nicht leisten zu können, nicht Tag für Tag seine enorme Bereitschaft zur Pflichterfüllung unter Beweis zu stellen. Eine ganze Weile hatte es einen fast schon erbitterten Wettkampf gegeben mit dem Prokuristen Immergrün, war dieser doch plötzlich, wie aus heiterem Himmel, fünf Minuten vor der Zeit des Direktors an seinem Arbeitsplatz gewesen. Dies hatte Hurmel freilich nicht auf sich sitzen lassen können, und war am darauffolgenden Tag noch ganze zehn Minuten früher aufgetaucht. Er hatte damals angenommen, dass damit die Angelegenheit erledigt sei, dies war aber keineswegs der Fall gewesen, war doch dieser elendige Immergrün am nächsten Morgen eine geschlagene Dreiviertelstunde vor Schalteröffnung dagewesen. Die beiden Kontrahenten verloren kein Wort über ihr Verhalten, bis schließlich Direktor Hurmel sich gezwungen sah, schon um drei Uhr in der Nacht im Gebäude sein zu müssen. Dann allerdings war es ihm wirklich zu dumm geworden. Immer früher hatte er sich aus dem Bett erheben müssen, schließlich war er wochenlang gar nicht mehr richtig zum Schlafen gekommen, bis ihm endlich an einem schwülen Sommermorgen, wenn man mitten in der Nacht denn schon von Morgen sprechen konnte, endgültig der Geduldsfaden gerissen war. Direktor Hurmel war nie ein besonders umgänglicher Mensch gewesen, doch dass er den Prokuristen Immergrün tatsächlich geohrfeigt hatte, dies hatte er sich selbst nie verzeihen können.

Gut, verdient hatte der Kerl diese körperliche Züchtigung auf alle Fälle, doch sollte jemand in Hurmels gehobener Stellung es doch fertigbringen, die Contenance zu wahren. Merkwürdigerweise hatte diese drastische Reaktion jedoch genau die Wirkung, die Hurmel angestrebt hatte. Seit diesem Tag betrat Immergrün jeden Morgen um Punkt fünf Minuten vor Neun erst die Geschäftsräume des Instituts. Weder der Direktor noch der Prokurist hatten irgendetwas über dieses Vorkommnis verlauten lassen, weder erwähnten sie den Vorfall vor den anderen Angestellten, noch sprach einer zum anderen ein einziges Wort über die Sache. Seitdem jedoch spürte Hurmel jedes Mal, wenn er sein Büro verließ, bohrende, mörderische Blicke in seiner Rückenpartie, doch wenn er sich umdrehte, schien kein einziges Augenpaar auf ihn gerichtet zu sein. Dennoch hatte er den Eindruck, dass der Prokurist ihm seitdem nur noch abgrundtiefe Verachtung entgegenbrachte.

Nun betrat auch der soeben Genannte die Räume der Bank, zögerte kurz, bevor er über die Schwelle trat, und blähte die Nüstern wie ein braves Pferd, das gerne gestriegelt werden möchte.

„Riechen sie das auch, Immergrün?“, fragte Hurmel jetzt, und dies war seit Jahren der erste Satz, den er an den Prokuristen richtete, der nicht direkt etwas mit der Arbeit zu tun hatte.

„Ja, hier stinkt's aber mal ganz schön!“, meinte Immergrün, ganz verblüfft von seinem Chef auf diese Weise angesprochen zu werden. „Das kann ja wohl nur dieser Koriandertee vom Dümmig sein.“

Der Kassierer Dümmig war wegen seines Gesundheitsbewusstseins immer wieder zum Spott der gesamten Belegschaft geworden. Jeden Morgen braute er sich ein anderes Heißgetränk auf dem kleinen Gasherd, der neuerdings vor den modernen Wasserklosetts stand. Und jeden Morgen wehte ein anderer, der Leber, der Niere oder der Milz zuträglicher Duft durch die Räumlichkeiten.

„Nun, gesund riecht das allerdings nicht!“, meinte Hurmel. „Mir fallen da höchstens Begriffe wie Tod und Verwesung ein!“

„Na ja, er behauptet immer die Dosis macht das Gift“, wandt Immergrün ein, „vielleicht hat er sich mit besagter Dosis etwas vertan und rottet jetzt hinter seinem Schreibtisch vor sich hin!“ Der Prokurist begab sich tatsächlich an den Tisch, an dem Dümmig den Tag über saß, und blickte dahinter. „Nein, keiner da, weder tot noch lebendig!“, meinte er dann, fast klang es auf seltsame Weise enttäuscht.

„Das wäre ja auch noch schöner!“, sagte der Direktor nur. „Diese windigen Kredite an die Vereinigte Lokomotive AG, muss er auf alle Fälle erst noch einmal durchgehen, bevor er sich einfach so aus dem Staub machen kann!“

„Von hier kommt das aber auch nicht!“, sprach jetzt Immergrün, der sich in keinster Weise über die Reaktion seines Vorgesetzten zu wundern schien. Er hob den Kopf und sog mit verzerrter Miene die Luft durch die Nase.

Durch den dürren Körper des Prokuristen lief ein Schauder des Ekels, als er versuchte den Ursprung des Gestankes zu orten.

„Ich glaube, das kommt aus dem Tresorraum“, meinte er dann, fasste in die Westentasche, holte eine Salmiakpastille hervor, und stopfte sich diese in die Nase. „Ah, das tut gut!“

Direktor Hurmel hatte mit einem Blick voller Neid den Prokuristen beobachtet; sonst hatte er doch immer ein paar Eukalyptusbonbons einstecken, ausgerechnet heute aber nicht.

„Dann sehen wir eben einmal nach!“, meinte Hurmel dann, und man konnte seiner Stimme die Tapferkeit anhören, die ihm sein Pflichtbewusstsein mit aller Gewalt aufzwang. Der Direktor fasste in die Tasche seines leichten Herbstmantels und holte einen silberfarbenen Schlüssel mit eigenwillig geschnittenem Bart heraus. „Den Schlüssel, Immergrün!“

Der Prokurist kramte aus seiner, mit grünlichen Nadelstreifen versehenen, Weste, das Gegenstück zum Schlüssel des Bankdirektors hervor und hielt ihn gegen das Licht. Dann steckten die beiden Männer zur gleichen Zeit die Schlüssel in die dafür vorgesehenen Schlösser, die an einer stählern glänzenden Wand angebracht waren. Ein metallisches Klacken kündete vom Erfolg ihres Unternehmens und Hurmel drückte die schwere Eisentüre nach innen auf. Jetzt wurde der Gestank wirklich unerträglich.

Immergrün fasste aufs neue in die Westentasche, zog ein Schnupftuch heraus und drückte sich den rotkarierten Stofffetzen auf die lange Nase. Durch das Eisengitter, das als nochmalige Absicherung vor ihren Augen bis zur Decke hinauf sich streckte, wurden die beiden nun der Ursache der entsetzlichen Geruchsbelästigung gewahr. Der kleine Haufen Goldbarren, den der Direktor Hurmel erst vor wenigen Tagen vom Kämmerer des Hauses Quarlo entgegengenommen hatte, war als solcher nicht mehr zu erkennen. Nur eine zähflüssige, grüngelblich schimmernde, gallertartige Masse war von dem kleinen Vermögen übriggeblieben, mit welchem das Fürstenhaus die ausstehenden Schulden des enormen Kredits bei der Bank ausgeglichen hatte.

Herzog Gosbert erreichte die Nachricht von der Auflösung der Goldbarren in der Badewanne. Wie jeden Nachmittag hatte er sich ein Bad eingelassen, denn er war der Ansicht, dass man als Herrscher eines alten ehrwürdigen Hauses wie dem der Quarlodinger, auch in Zeiten, in denen es dem Fürstenturm wirtschaftlich nicht sonderlich gut ging, doch zumindest einen sauberen Eindruck machen sollte. Gerade hatte Herzog Gosbert die, aus leichtem Lindenholz gefertigte, Galeone zu Wasser gelassen. Es handelte sich bei dem Schiff um den Nachbau der Elsa-Marie, mit dem der Entdeckungsreisende Chrispian Columbinus sich einst auf den Weg gemacht hatte, einen neuen Kontinent zu finden. Leider war diese Suche, wie bekannt sein dürfte, erfolglos geblieben, und der Kontinent war bis heute die einzige größere Landmasse geblieben, die auf dem großen Pfannkuchen vorzufinden war. Obwohl Columbinus bis zum Ende seiner Tage, die er in Kerkerhaft zubringen musste, steif und fest behauptet hatte, dass, wäre er in der Lage gewesen, auch nur zwei, drei Meilen weiter nach Westen zu segeln, er einen weitaus größeren Kontinent vorgefunden hätte als den Ihrigen, oder aber er wäre genau auf derselben Landmasse wieder angelangt, von der aus er aufgebrochen war. Diese letztere ungeheuerliche Behauptung hatte den Ketzer schließlich auch hinter Gitter gebracht. Die Heilige Kirche ließ sich nur sehr ungern von sogenannten Forschern in ihre althergebrachte Auffassung der Wirklichkeit hineinreden.

Gerade also als Gosbert die Segel der Elsa-Marie setzen wollte, hierzu war es nur nötig an einer dünnen Schnur zu ziehen und das Tuch an allen drei Masten blähte sich wie durch Zauberhand, da klopfte es laut an der Tür zum fürstlichen Badezimmer.

„Euer Durchlaucht“, die Stimme von Grützling, seinem Leibdiener, Sekretär und Berater in allen Dingen, das Haus Quarlo war es seit langem gewohnt mit einer zahlenmäßig eingeschränkten Dienerschaft auszukommen, drang an das feuchte Ohr Gosberts.

„Was ist denn, was ist denn“, wenn Gosbert eines hasste, dann war es bei seinem täglichen Bad gestört zu werden, „du weißt doch, was mit denjenigen geschieht, die mich um diese Zeit mit Belanglosigkeiten belästigen,“ meinte er dann, eine Drohung, der, wie der Herzog sehr wohl wusste, die Leere schon anzuhören war.

„Ich weiß, Euer Durchlaucht, aber“, Grützling klang jetzt noch etwas kleinlauter.

„Ja dann, hebe dich hinfort, Lakai“, wenn Gosbert schon einmal komisch werden wollte, so ging das meist irgendwie unter. So auch jetzt, denn sein Berater fing schon wieder an, diesmal klang er ganz und gar zerknirscht.

„Entschuldigt meine Impertinenz, Euer Gnadenreichhaltigkeit, aber unten steht der Bankdirektor Hurmel, sein Schädel ist auf ungefähr die doppelte Größe angeschwollen und er scharrt irgendwie beinahe mit den Hufen!“ Grützling liebte es, sich besonders plastisch auszudrücken, wie Gosbert wusste, aber das klang nun wirklich nicht gerade beruhigend. Hatte er nicht die Schulden, die der Staat bei der Kontinentalbank hatte, erst vor wenigen Tagen nahezu ausgeglichen. Gut, die Zinsen vom vorigen Jahr standen noch aus, aber hatte man sich nicht darauf verständigt eine weitere Zahlung fürs Erste hinauszuschieben?

„Ich komme hinunter, in etwa zehn Minuten“, meinte der Herzog und Sorgenfalten machten sich auf seiner vom Bade feuchten Stirne breit. „Biete ihm zur Beruhigung etwas von dem alten Madeira an, Grützling!“ Er hörte die Schritte seines Ratgebers sich klappernd entfernen.

Was war das denn nun schon wieder? Jetzt hatte endlich sein Schwiegersohn wieder damit begonnen, ihm die finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen, die sie vereinbart hatten, als der Herzog in die Eheschließung Baron Bodos mit seiner herzallerliebsten und einzigen Tochter eingewilligt hatte. Und nun? Kaum war der Haushalt halbwegs ausgeglichen, rückt mir doch schon wieder dieser Hurmel auf die Pelle. Das war ja nicht zum Aushalten!

Herzog Gosbert von Kopoks begann sich eilig anzukleiden, besann sich aber dann darauf, dass sich allzu große Eilfertigkeit zu seinen Ungunsten würde auswirken können, so etwas passte schließlich nicht zu einem altehrwürdigen Geschlecht wie dem seinen, und ließ sich daraufhin etwas mehr Zeit. Sollte der fette Bankier doch eine Weile warten, dachte Gosbert zornig. Auch sollte er diesem Pfennigfuchser in gebührender Erscheinung entgegentreten.

Der Herzog hüllte sich also in den wurmstichigen königlichen Badepurpur, lief gemessenen Schrittes die große Haupttreppe hinunter und betrat schließlich den Empfangsraum.

Was Gosbert von Direktor Hurmel über den Zustand der Goldbarren berichtet bekam, mit dem die Schulden des Fürstentums ausgeglichen hätten werden sollen, erschütterte den Herzog in seinen Grundfesten. Was für eine Teufelei mochte hier dahinterstecken?

Hätte er doch nie auf seine Gattin gehört. Er war immer davon überzeugt gewesen, dass dieser Bodo ein missratenes Früchtchen war. Die Berichte von dessen Vater waren nie dazu angetan gewesen, sich ein gutes Bild vom männlichen Nachwuchs der Etzelberts am Hof Hallgards zu machen. Auch die Umstände des Todes seines alten Freundes Hjalmar hätten Gosbert schließlich stutzig machen müssen, doch da waren die beiden jungen Leute ja längst miteinander verheiratet gewesen. Hätte er sich doch nur getraut, Elspeth zu widersprechen. ‚Die Hallgardenser sind reich‘, hatte sie gemeint. ‚Verkommen aber reich!‘ Doch gerne würde sie ihr geliebtes Kind zum Opfer bringen, wenn es nur der wiederbelebten lammelianischen Reformation nützen würde.

Eine Zeitlang war das ja auch gutgegangen. Die mangelnden Steuereinnahmen des Herzogtums durch die strikten neuen Gesetze konnten mit Hilfe von Seiten Bodos halbwegs ausgeglichen werden. Das Alkoholverbot alleine schon hatte ein tiefes Loch in die Staatskasse gerissen, das Rauchen jeglicher Substanzen war auf dem Staatsgebiet von Kopoks schon seit längerem untersagt. Die einstmals reichen Klöster waren durch Bettelorden ersetzt worden und bestanden nur noch aus heruntergekommenen, schimmeligen Bauten, in welchen ständig magenübersäuerte Pastoren nichts anderes als Armut, Verzicht und Selbstkasteiung predigten. Auch von dieser Seite aus waren keinerlei Einnahmen mehr zu erwarten gewesen. Wurde ja schließlich an diesen ehemals fröhlichen Stätten auch kein Bier mehr gebraut und kein Wein mehr angebaut. Die Rebstöcke waren längst verdorrt oder verwildert. Durch die Gebote der lammelianischen Konfession, die so großen Einfluss auf die Ernährungsweise ihrer Anhänger nahm, war das Züchten von Schweinen, Rindern und Schafen zum Verzehr ungeheuer schwierig geworden. Man wusste nie ganz genau, welches Tier, zu welcher Jahreszeit einmal nicht als unrein angesehen wurde. Das Regelwerk war äußerst kompliziert und niemand hatte den vollständigen Überblick darüber; höchstens noch Nepomuk Lammel selbst, doch der war schon vor etwa sechzig Jahren von dieser Welt gegangen, und gönnte sich höchstwahrscheinlich jetzt in seinem himmlischen Dasein eine Schweinshaxe nach der anderen, wann immer er nur wollte. Nun, eine einzige Person im Fürstentum von Kopoks mochte noch den Durchblick behalten haben, über all die Regeln, Gebote und Verbote, die den größten Teil dieses seltsamen Glaubensbekenntnisses ausmachten. Und hier handelte es sich um die Gemahlin des Herzogs selbst.

Ohne diese Elspeth van Vilnius wären wohl die reformatorischen Ideen von Lammel überall auf dem Kontinent längst in Vergessenheit geraten. Nur hier in Kopoks fand sich noch die letzte Enklave dieser prohibitionistischen Art der Glaubensausübung.

Im Übrigen sagte man dem Reformator nach, er habe zeit seines Lebens an einer ungeheuerlich schlechten Verdauung gelitten, und hätte kaum irgendein Nahrungsmittel einigermaßen gut vertragen. Diesen ständig schmerzenden Magen also machten manche Historiker verantwortlich für den Glaubenskrieg, der immerhin etliche Jahre angedauert, und der tiefe seelische Narben in den Menschen des Kontinents hinterlassen hatte. Vielleicht war auch dies einer der Gründe, warum nun Kopoks seit der Regentschaft von Herzog Gosbert ein solch schlechtes Ansehen genoss, obwohl doch schließlich gerade in diesem Landstrich alles seine feste Ordnung hatte. Die Kriminalität beschränkte sich auf das Allernotwendigste, Hurenhäuser und Spielsalons waren aus dem Fürstentum verbannt worden. (Die Grenzen von Kopoks allerdings waren gesäumt von derlei Etablissements, und so mancher adlige Herr, der sich den Unmut seiner Landesherrin zugezogen hatte, war an den Rand des Fürstentums gezogen und verdiente sich nun als Gewerbetreibender in einem etwas anrüchigen Milieu eine goldene Nase, was wiederum dem Steuersäckel des Landes nicht mehr zu Gute kam) Man hätte im Grunde behaupten können, hier in diesem Fürstentum sei der Himmel auf Erden schon angebrochen, allerdings würden die meisten Menschen einem solchen Paradies die Hölle höchstwahrscheinlich vorgezogen haben. Herzogin Elspeth jedenfalls beharrte auf strengste Einhaltung von Sitte und Anstand, auch wenn sie selbst in härenen Gewändern gehen musste, wie sie sich auszudrücken pflegte.

Gosbert hatte seine Gattin als fröhliches junges Mädchen von zarten siebzehn Jahren dereinst auf einem Debütantinnenball in der Hauptstadt kennengelernt, wo die jungen Fräulein das erste Mal in die Gesellschaft eingeführt wurden. Er hatte das zarte Mädchen erblickt, und war auf der Stelle über beide Ohren in sie verliebt gewesen. Es hatte einen Stich in seinem Herzen gegeben, und es war um ihn geschehen. (So werden derlei Angelegenheiten ja immer wieder von Literaten geschildert, auch wenn es sich bei besagtem Stechen möglicherweise nur um ein leichtes Sodbrennen gehandelt haben mochte) Wenn der Herzog heute an diesen schicksalhaften Abend zurückdachte, wurde ihm immer noch warm ums Herz, niemals hätte er sich vorstellen können, was später aus dem jungen Ding werden würde, das damals so lebensfroh über das Tanzparkett gehopst war, ohne sich einen Deut drum zu scheren, was die Leute wohl von ihr denken mochten.

Immer war ihm diese spätere Veränderung im Wesen seiner Frau ein Rätsel geblieben. Wie konnte jemand, der einstmals so voller Lebensmut und Fröhlichkeit bis zum Rand angefüllt gewesen war, binnen einer kurzen Zeit sich in ein ältliches, missmutiges und bigottes Weib verwandeln. Dies war einfach nicht fassbar. Er hatte in der ersten Zeit ihrer Ehe nichts von einer Veranlagung zur Frömmlerei feststellen können, ganz im Gegenteil war der Herzog oft beinahe überfordert gewesen von der Sinnenfreude, die seine Gattin ausgestrahlt hatte. Irgendwann war Gosbert erwacht, so kam es dem armen Mann zumindest vor, und hatte sein ganzes Leben, von einem Tag auf den anderen, vollkommen verändert vorgefunden.

Natürlich kam dies dem Herzog Gosbert wirklich nur so vor, der Prozess war eher ein schleichender gewesen, wie er zugeben würde müssen, wenn er sich einmal selbst ernsthaft befragt hätte. Wäre er wirklich einmal in sich gegangen, und hätte sich Gedanken darüber gemacht, was da in seiner Gemahlin für ein Abgrund geschlummert hatte, wäre er vielleicht fündig geworden. Kaum hatte ihm Elspeth den Erben geschenkt, den ein Regent, mochte sein Reich auch noch so klein sein, unbedingt zum Fortbestand seines Geschlechtes brauchte, schien sie sich innerlich von ihrem Gemahl auch schon verabschiedet zu haben.

Zugegeben, es war eine wirklich schwere Geburt gewesen. Die fürstliche Hebamme hatte schon Monate zuvor die Vermutung geäußert, möglicherweise würden dem Paar Zwillinge geboren werden, und tatsächlich erschien, kurz nachdem die Herzogin von einem prachtvollen Mädchen entbunden worden war, ein weiterer Kopf im Geburtsausgang, doch dauerte es noch einige Stunden bis man dann auch noch einen Jungen hier auf unserem Pfannkuchen der Mühsal und des Leides begrüßen konnte, um es einmal poetisch auszudrücken. Nachdem auch dieses kleine Geschöpf nun also das nächtliche Gaslicht dieser Welt erblickt hatte, war die Herzogin auf ihrem Lager zurückgefallen und hatte von da an kein Wort mehr gesprochen. Die weise Hebamme hatte so etwas öfter schon beobachten können und sprach Gosbert Mut zu. Die Fürstin würde sich schon wieder fangen, hatte sie gemeint, wenn erst einmal ein paar Tage vergangen wären.

Doch hatte Elspeth zu ihren Kindern keinerlei Gefühle entwickeln können. Nachdem sie entbunden hatte, wurden die winzigen Wesen ihrer Amme übergeben und Elspeth schien sich keinen Deut mehr um die Kleinen zu scheren. Tagelang lag sie in ihrem abgedunkelten Schlafgemach auf dem Bett und starrte, dem Anschein nach, die ganze Zeit über an die Decke. Was in ihrem Kopf vorging, war nicht zu erahnen. Gosbert, der solch ein Verhalten in keiner Weise nachvollziehen konnte, hatte begonnen sich große Sorgen um seine Angetraute zu machen und ließ daraufhin die gesamte Ärzteschaft von Kopoks im Schloss antreten.

Elspeth ließ mit finsterer Miene alle Untersuchungen über sich ergehen, die die Doktoren dann an ihr vollzogen, obwohl sie die Herren mit ihren kalten Instrumenten eigentlich allesamt für Quacksalber hielt. Unzufrieden mit den Künsten der hiesigen Ärzteschaft ließ Gosbert sogar noch einige medizinische Koryphäen aus der Hauptstadt kommen, doch widersprachen sich die Diagnosen dieser Heilkundigen noch mehr, als die der ansässigen Doktoren. Eine Widersprüchlichkeit, die sich auch in den Behandlungsmethoden spiegelte. Drängte der eine auf die Anwendung von Einläufen, die alle zwei Stunden durchzuführen waren, war wiederum ein anderer der Ansicht, dass hier nur eine dreiwöchige Kur mit Brechmitteln zu einem Erfolg führen würde. Gosbert konnte nicht mehr zählen, wie viele Male seine Gemahlin in der Zwischenzeit zur Ader gelassen worden war, die einzige Methode, von deren unbedingter Wirksamkeit sämtliche Ärzte überzeugt waren. Nur der ehemalige Leibarzt des ehemaligen Kaisers, sogar diesen hatte Gosbert herbeischaffen lassen, obwohl der alte Mann längst mit seinen 98 Jahren sich im Ruhestand befand, wagte Sinn und Zweck einer solchen Behandlung anzuzweifeln. Er schwor auf gewisse alchymisch erzeugte Substanzen, die die Herzogin auch brav Tag für Tag einnehmen musste, jedoch konnte Gosbert außer kreisrundem Haarausfall und einem schlimmen Hautausschlag keinerlei Wirkung feststellen. So hatte der Herzog eher den Eindruck, dass seine einst wunderschöne junge Frau von Tag zu Tag elender aussah. Ja, an manchen Tagen dachte Gosbert, wenn er Elspeth anblickte, dies könne unmöglich die Frau sein, die er geehelicht hatte, so absurd erschien ihm die Veränderung, die nicht nur in ihrem Inneren vor sich gegangen war, sondern nun auch ihre ganze Erscheinung in Mitleidenschaft zu ziehen begann.

Über Monate hinweg wechselten sich Untersuchungen ab, mit immer neuen Behandlungsmethoden, ob man nun am ganzen Körper der adligen Dame Blutegel ansetzte, sie durch Wechselbäder und Wasserkuren wieder auf die Beine zu bringen versuchte, oder sie mit Pillen geradezu vollstopfte, all dies hatte entweder keinerlei Wirkung, oder gar eine gegenteilige. An manchen Tagen jedoch schien die Herzogin zumindest etwas aufzutauen, sogar einige, wenige Worte entschlüpften ihren Lippen, dann wieder verfiel sie in den alten beinahe katatonischen Zustand zurück.

Irgendwann war der Herzog mit seiner Geduld am Ende und er ließ die gesamte Ärzteschaft aus dem Schloss werfen. Zwei der Gesellen, die seiner geliebten Gattin allzu sehr zugesetzt hatten, in dem sie die Herzogin fast mit heißen Ölen verbrühten, ließ Gosbert, bevor er sie ziehen ließ, noch auspeitschen und für ein paar Tage in den Kerker werfen. Solche Scharlatane hatten nun wirklich nichts Besseres verdient, meinte er.

Der gute Grützling Senior, der seinem Herrn die ganze Zeit über beigestanden, und ihm immer wieder Mut zugesprochen hatte, war schließlich auf die Idee verfallen, es doch einmal mit einer alternativen Methode zu versuchen. Der Kammerdiener und Vertraute Gosberts hatte nämlich von einem Einsiedler gehört, der sich tief in den, an das Fürstentum Kopoks angrenzenden, Ausläufer des Schimmerwaldes zurückgezogen hatte. Das gemeine Volk pilgerte schon seit Jahren immer wieder hinaus zur Behausung dieses Eremiten, sie nahmen den weiten und gefährlichen Weg dorthin auf sich, wenn sie sich keinen Rat mehr wussten. Immer wieder waren Geschichten von spontanen Heilungen an die Ohren von Grützling dem Älteren gedrungen, der sich an seinen wenigen freien Tagen gerne einmal unters Volk mischte und die niedrigsten Kaschemmen aufsuchte. Er übte sich dort in einer Disziplin, die gemeinhin als ‘Dem-Volk-Aufs-Maul-Schaun‘ bezeichnet wird. Hierbei war Grützling jedoch immer inkognito geblieben, es geziemte sich kaum für den engsten Vertrauten des Herzogs in solch niedrige Gefilde hinabzusteigen.

Die Leute schworen allesamt auf die unglaublichen Fähigkeiten dieses Einsiedlers, und als Grützling dem Herzog von diesem berichtete, beauftragte Gosbert den Diener damit, den Kerl herzubringen, koste es, was es wolle, wie er sich ausgedrückt hatte. Wäre sich der Herzog darüber bewusst gewesen, was er damit für eine Lawine lostreten würde, hätte er sich die Sache bestimmt zweimal überlegt.

Noch Jahre später konnte sich Gosbert an den Augenblick erinnern, als er das erste Mal des Eremiten namens Windebouteille ansichtig geworden war. Sofort hatte das schmierige Grinsen des Mannes beim Herzog größtes Missfallen ausgelöst, als ihm dieser Einsiedler entgegengetreten war. Gosbert hatte jedenfalls einen zauseligen alten Kerl erwartet, ungepflegt, schmutzig mit Fetzen bekleidet, doch wurde diese Erwartung gründlich enttäuscht. Windebouteille mochte damals kaum dreißig Lenze gezählt haben, und wirkte wie aus dem Ei gepellt. Er trug das Haupthaar vielleicht ein wenig länger als allgemein üblich, doch sein tiefschwarzer Vollbart war fein säuberlich gestutzt, als hätte er vor fünf Minuten noch auf dem Stuhl des Barbiers gesessen. Und der Kerl wollte nun alleine in der Wildnis hausen? Den Elementen ausgesetzt, in einer ungeheizten Höhle, zur Sommer wie zur Winterzeit? Der Herzog konnte dies kaum glauben, doch Grützling bestätigte ihm hinterher, den Mann genau in einem solchen Unterschlupf vorgefunden zu haben, und dort habe er schon genauso ausgesehen wie eben jetzt. Auch war der Eremit nach der allerneuesten Mode gekleidet, wie er dies, da draußen in der Wildnis fertigbrachte, war dem Herzog ein Rätsel geblieben.

Gosbert fühlte sich auf sonderbare Weise abgestoßen von dem jungen Mann, trotz, oder gerade wegen seiner so flotten Erscheinung, es mochte an dem Blick liegen, der aus dessen Augen blitzte. Man hatte, wenn man in diese Augen sah, den Eindruck, als würde man auf der Stelle durchschaut. Nicht nur hatte man das Gefühl, der Mensch blickte durch einen durch, wie durch eine frisch gewienerte Glasscheibe, nein, es war, als ob er einem direkt auf den Grund der Seele schauen könnte, und deren Unwürdigkeit augenblicklich und unwiderruflich erkannte. Ein eigenartiges Gefühl durchzuckte den Herzog in diesem Moment. Es kamen ihm ganz alte, längst verdrängte Erinnerungen in den Sinn, Streiche die er als Knabe ausgeheckt, und für deren Auswirkungen er schlauerweise dann andere verantwortlich gemacht hatte. Ungesühnte Verbrechen, böswillige Gebete, die er im zarten Alter gen Himmel geschickt hatte, um seinen jüngeren Geschwistern zu schaden; dann die Sache mit der Kröte, die er mit einem Strohhalm aufgeblasen und zum Platzen gebracht hatte. Die Katze seiner Mutter, die er gequält, und die brechenden Augen der sterbenden Hirschkuh, die das erste Opfer seiner jugendlichen Jagdlust gewesen war.

All diese Begebenheiten waren Herzog Gosbert in Sekundenbruchteilen durch den Kopf geströmt, ein Taumel hatte ihn erfasst, als er diesem schicken Eremiten die Hand gereicht, und ihn ins Schlafgemach seiner Gemahlin eingelassen hatte. Schon da hätte er erkennen müssen, dass er damit noch großes Unheil auslösen würde.

In den ersten Tagen, die seit der Ankunft von Windebouteille vergangen waren, hatte sich jedoch der Zustand der Herzogin beinahe schlagartig verbessert. Zuerst fiel dem Herzog selbstverständlich ein großer Mühlstein vom Herzen, als sich auf den Wangen seiner Frau wieder eine gesunde Rötung auszubreiten begann, doch hatte er auch ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Er hatte keine Ahnung, von welcher Art die Methoden waren, die der Einsiedler bei Elspeth anwendete. Dieser hatte sich ausbedungen mit der Herzogin vollständig allein sein zu müssen, wenn seine Bemühungen von Erfolg gekrönt sein sollten. Gosbert musste sich wohl oder übel den Forderungen des Eremiten fügen, obwohl ihn eine ungute Ahnung begonnen hatte zu beschleichen. Nur der Anblick seiner beiden Lendenfrüchte tröstete ihn über den Zustand seiner armen Gattin hinweg.

Die Babys waren aber auch herzallerliebst; solange sie nicht aus Leibeskräften brüllten, oder einmal nicht die Windeln vollgeschissen hatten, was allerdings äußerst selten vorkam. Zu seinem ungeheuren Glück bekam Gosbert die Kleinen nur gerade dann zu sehen, wenn sie sich in ihren Bettchen freistrampelten, an der Brust der Amme lagen, oder friedlich schlummerten, daher nahm er an, dass ihm hier zwei Prachtexemplare der menschlichen Rasse gelungen waren, die einem alten Geschlecht, wie dem der Quarlodinger, alle Ehre machen würden.

Obwohl sich Elspeths Zustand von Tag zu Tag zu bessern schien, war die Zeit, die Gosbert mit seiner Gattin verbringen durfte, knapp bemessen. Man sollte sie jetzt auf keinen Fall überfordern, hatte Windebouteille gemeint, und dabei dem Herzog ernst und ein wenig spöttisch in die Augen geblickt, als ob er hätte andeuten wollen, dass Gosbert nichts anderes im Sinn haben würde, als bei der ersten Gelegenheit über seine Gemahlin herzufallen und neuerlichen Nachwuchs zu zeugen. Dem Eremiten lag es selbstverständlich fern, so etwas dem Herzog gegenüber zu erwähnen, doch lag in seinen Augen eine solche Geringschätzung, dass Gosbert den Kerl am liebsten hätte auspeitschen lassen. Leider war er auf den Mann angewiesen, daher würde er dieses Ansinnen noch eine Weile hintanstellen müssen, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, so dachte Gosbert damals insgeheim.

Doch zu derlei Strafmaßnahmen sollte es niemals kommen, ganz im Gegenteil. Mit der Zeit sollte sich Windebouteille als unersetzlich für die Herzogin erweisen. Sie befolgte all seine Anweisungen aufs Genaueste, niemals ließ sie einen der stimulierenden Tränke einfach stehen, brav schluckte sie jedes Kraut, das der Eremit ihr zu ihrem Wohlergehen verabreichte. Doch nicht nur um die körperlichen Belange der Landesfürstin hatte der fromme Mann begonnen sich zu kümmern. Auch ihre Seele benötigte Trost und Reinigung, so hatte sich der Eremit ausgedrückt und die Herzogin mit dem Glaubenskanon des Reformators Nepomuk Lammel bekannt gemacht.

Beinahe ganz und gar vergessen waren die Schriften des großen Mannes gewesen auf dem Kontinent, und dies völlig zu Recht, wie zumindest die ‘Einzig Wahre Kirche‘ meinte. Dabei befand diese sich allerdings in allerbester Gesellschaft, auch nahezu alle Fürstenhäuser des Kontinents hatten längst den Glaubensgrundsätzen des Reformators abgeschworen, die für so viele kriegerische Auseinandersetzungen früherer Jahre verantwortlich gewesen waren.

Dieser Lammel war ursprünglich ein einfacher Mönch gewesen, der vierte Sohn eines vermögenden Bauern, der wie so viele männliche, zu spät geborene, der heiligen Mutter Kirche zum Opfer gebracht worden war, obwohl er als junger Mensch zu einer solchen Berufswahl keinerlei Neigung verspürt hatte. Dennoch stieg er rasch auf in der Hierarchie des Klosters Himmelthal, aufgrund einer unglaublichen Anpassungsfähigkeit an die Umstände. Schnell hatte der junge Nepomuk herausgefunden, wie es sich mit den lasterhaften Vorlieben seiner Vorgesetzten verhielt, und nach einigen raffinierten, erpresserischen Drohungen dem Klostervorstand gegenüber, wurde er erst zum Sacratarius ernannt, um schließlich ein paar Jahre später selbst Abt in Himmelthal zu werden. Wollte man den Historikern Glauben schenken, hatte er bis dahin noch einige Anschläge auf sein Leben zu überstehen gehabt, die Geschichtsschreiber blieben aber bis heute den Nachweis für diese Behauptungen schuldig. Im ersten Jahr als Abt, da zählte Lammel gerade einmal neunundzwanzig Jahre, hatte er dann sein Erweckungserlebnis. Nepomuk Lammel, der, wäre er ehrlich sich selbst gegenüber gewesen, niemals an Gott nur einen einzigen Gedanken verschwendet hatte, wurde nun plötzlich gläubig. Wie und wo diese wundersame Bekehrung stattgefunden hatte, darüber existieren die verschiedensten Theorien. Die wahrscheinlichste jedoch ist diejenige, welche auch in den Schulgeschichtsbüchern des Kontinents aufgezeichnet ist. Es soll den zukünftigen Reformator, an einem lauen Sommertag, an dem kein Wölkchen am Himmel gestanden hatte, der Blitz getroffen haben. Eine Narbe soll ihm von diesem Erlebnis geblieben sein, die er den Rest seines irdischen Daseins wie eine Auszeichnung auf seiner hohen Stirn trug. Andere Stimmen waren allerdings der Ansicht, dass sich der Reformator diese Narbe jeden Tag aufs Neue von einem seiner Mitbrüder mit einem Schminkstift nachzeichnen ließ, als sie langsam zu verblassen begann. Daher kommen wahrscheinlich auch die vielen verschiedenen Beschreibungen dieses Merkmals Lammels. Die einen behaupten, es hätte ausgesehen wie der Blitz, von goldglänzender Farbe und Form, der auch für die Erweckung des Reformators verantwortlich gewesen war; andere wiederum sprachen von einem ellipsenförmigen, blaugrünen Mal, einem Fisch nicht unähnlich. Möglicherweise spielte der für das Schminken verantwortliche Mönch, seinem Vorgesetzten des Öfteren einen kleinen Streich, immerhin war das Aufstellen von Spiegeln im Kloster nicht gestattet, und so musste sich Lammel darauf verlassen, dass der Mann nach bestem Wissen und Gewissen seiner Pflicht nachkommen würde.

Seit diesem Vorkommnis jedenfalls war Nepomuk Lammel vollkommen verändert, so berichteten seine Mitbrüder. Alles persönliche Hab und Gut, dass er als Klostervorstand angehäuft hatte, ließ er auf einen Scheiterhaufen legen, und er selbst entfachte dann das Feuer, das den Reichtum verschlingen sollte. Er wies die Mönche des Klosters Himmelthal an, ihre dicken, wollenen Kutten abzulegen und sich nur noch in armselige, dünne Fetzen zu kleiden, um sich so besonders demütig zu zeigen. Buße war das einzige Prinzip, dem sich Lammel noch unterwarf, und diese Bußfertigkeit wollte er auch noch dem Rest der Menschheit nahebringen. Dazu schickte er seine Brüder hinaus in die Welt, um Armut, Verzicht und Demut zu predigen.

Der Reichtum der Mutter Kirche war ihm von da an nicht nur ein Dorn im Auge, ja, so konnte man wohl sagen, eher ein Pfahl im Fleische. Schließlich schlossen sich noch andere Geistliche in der Nähe des Klosters Himmelthal dem Reformator an, dann weitete sich das revolutionäre Gedankengut noch auf entlegenere Gegenden aus. Als sich dann das Erste der Fürstenhäuser zu dem neuen Glauben bekannt hatte, löste dies eine Art Panik in der Mutterkirche aus. Der Kaiser, der damals noch den Kontinent regiert hatte, wurde dazu getrieben schließlich militärisch zu intervenieren, dann schlugen sich andere adlige Häuser mal auf die eine, mal auf die andere Seite, bis schließlich der halbe Kontinent in einen langjährigen Kriegszustand verfiel, der am Ende gar den Niedergang der Institution des kontinentalen Kaisertums zur Folge haben sollte.

Schon nach nur einigen wenigen Monaten, da der Bürgerkrieg tobte, hatte man längst vergessen, um was es bei der ganzen Angelegenheit ursprünglich eigentlich gegangen war. Zwar predigten die Anhänger Lammels auch da noch Armut, Keuschheit und Sittenstrenge, doch die meisten Mitglieder der Fürstenhäuser hielten sich mit derlei Kleinigkeiten nicht auf. Hier wurde bald nur noch um die Vorherrschaft auf dem Kontinent gekämpft, mit Gott hatte dies, wie so oft bei derlei Angelegenheiten, rein gar nichts zu tun.

Lammel also war am Ende dafür verantwortlich, dass dem Staat heute kein oberster Herrscher mehr vorstand, ein Zustand, den frühere Generationen für unmöglich gehalten haben würden. Hatte nicht immer ein Kaiser über das Land geherrscht? Brauchten nicht auch die Fürsten jemanden, Gott oder den Heiligen Vater auf der Vatikaninsel einmal ausgenommen, der über ihnen stand? Schließlich wurde jedoch zu diesem Zweck ein Amt am ehemals kaiserlichen Hof in Weentbehl-Lachapelle eingerichtet, das den Überblick im Reich behalten sollte, und das auch über die größte Armee des Kontinents verfügte. Der letzte Kaiser, dem man für das Jahrzehnte lang andauernde Blutbad die größte Schuld gab, hatte man kurzerhand um einen Kopf kürzer gemacht. Solange dieser am Leben war, hatte man nicht geglaubt, dass ein wirklicher Friede aufrechtzuerhalten gewesen wäre. Und so hatte man in geheimer Wahl auf einem Kongress der Fürstenhäuser sich auf einen Kandidaten geeinigt, der über den Kontinent, wenn nicht bedingungslos herrschen, so doch zumindest für die öffentliche Ordnung, das Finanzwesen und die Infrastruktur verantwortlich sein sollte. Dieses neugeschaffene Amt hatte nun schon seit etlichen Jahren der Reichsverweser Puntigam inne.

Die Glaubensgrundsätze des Reformators hatten, nachdem endlich wieder Frieden im Land eingekehrt war, keine große Anhängerschaft mehr finden können. Lammel selbst kam bei einem Brand im Kloster ums Leben, ausgelöst von einem Scharmützel, für das der Reformator am Ende gar selbst verantwortlich gewesen sein soll.

Diese Grundsätze der lammelianischen Reformation jedoch, sollten nun in Kopoks wiederbelebt werden. Obwohl Windebouteille gar nicht wirkte wie ein Mann des Glaubens, mit seiner stutzerhaften Erscheinung, vermochte er es doch, die Herzogin Elspeth zu bekehren und sie dazu zu bringen, den alten Traditionen und Riten in ihrem Lande wieder Geltung zu verschaffen. Gosbert, der sich immer noch große Sorgen um den Gesundheitszustand seiner Gemahlin machte, willigte, vielleicht etwas vorschnell, in beinahe alles ein, was diese an Veränderungen in der Gesetzgebung des Landes vorschlug. Er bemerkte lange Zeit nicht, was dies alles nach sich ziehen sollte. Im Nachhinein blieb es für Gosbert ein ewiges Rätsel, wie er zu gesetzlichen Lachverboten an Monaten, die ein R beinhalteten, hatte zustimmen können. Auch trank der Herzog gerne mal einen über den Durst, doch selbst ihm, dem Fürsten, blieb schließlich noch dieser kleine Trost versagt, als er mit einem Federstrich seinen Namen unter ein Stück Papier gesetzt hatte.

Alles was den Menschen auch nur ein klein wenig Freude bereitet hatte, war von diesem Tage an, verboten gewesen. Ob es nun der Besuch einer Tanzveranstaltung war oder auch nur leises Singen in der Öffentlichkeit. Das vormals gerühmte, städtische Theater von Kopoks wurde geschlossen, und Türen und Fenster mit Brettern vernagelt, auf dass kein Dämon aus diesem Hort der Sünde würde ausbrechen können, um die Menschen zu widernatürlichen Handlungen zu verleiten. Genauso erging es den hier ansässigen Brauereiunternehmen und Schnapsbrennereien. Die Streuobstwiesen verwahrlosten, da kein Mensch so viele Äpfel und Birnen essen konnte, wie früher zur Herstellung der geistigen Getränke gebraucht worden waren. Jeglicher Art von Glückspiel wurde selbstverständlich ein Riegel vorgeschoben, diese Teufelei sollte mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, von der käuflichen Liebe braucht man gar nicht zu reden, auch diese Betriebe wurden geschlossen und sämtliche Damen, die sich nicht öffentlich von ihrem lasterhaften Treiben distanzierten, wurden aus dem Fürstentum verbannt. Das Wiederbetreten der Stadt würde schlimmste Strafen nach sich ziehen, hatte man den Frauen angekündigt.

In den wenigen Kneipen von Kopoks wurde nur noch Wasser ausgeschenkt, an manchen Tagen war jedoch immerhin der Verkauf von Milch und Kräutertees gestattet. Was allerdings nur wenige der Wirtsleute davon abhalten konnte, ihr Geschäfte endgültig zu schließen, oder sich entweder, am Rande des Fürstentums niederzulassen, um eine Raststätte für Durchreisende zu eröffnen, oder, wie die Mehrheit, ihr Glück am Ende einfach an einem völlig anderen Ort zu suchen.

Den meisten Restaurantbesitzern wurde es bald zu bunt mit all den Vorschriften, die den Verkauf ihrer Menüs regelten, kein Mensch konnte so wirtschaften, beschwerten sie sich beim Hause Quarlo schließlich. Hatten sie sich, nach Ablauf der Schonzeit mit ausreichend Wildbret für die nächsten Wochen eingedeckt, brach auch schon eine kirchliche Hochzeit an, die den Verzehr von Rotwild für zwei Monate unter Strafe stellte, da diese Tiere um diese Zeit als unrein betrachtet werden mussten. Außer Griesbrei unterlagen sämtliche Nahrungsmittel solchen merkwürdigen Restriktionen, was bedeutete, dass die meisten Unternehmen dieser Art, ebenso wie die Schankwirte, ihre Pforten schließen mussten. Nur einige wenige hielten noch durch und verkauften das ganze Jahr über die verschiedensten Leckereien, die man mit Ingredienzien wie Grieß, Kohlrüben und Gänseschmalz herrichten konnte. Die Fantasie und Improvisationsgabe mancher Menschen ist doch immer wieder faszinierend.

Es dauerte kaum ein Jahr, und die Stadt und das Fürstentum Kopoks hatten eine unglaubliche Wandlung vollzogen, soll heißen waren praktisch pleite. Nur noch einige der größeren bäuerlichen Liegenschaften trugen noch etwas zum Staatssäckel bei, ansonsten konnte von Wirtschaft und Handel kaum mehr die Rede sein. Eigentlich hätte man genausogut Konkurs anmelden können, bis dann Gosbert sein mittlerweile siebzehnjähriges Töchterlein in die Hände des jungen Bodo gegeben hatte.

Das junge Fräulein hatte, wie ihr Zwillingsbruder, keine Liebe zur Mutter entwickeln können. Anfangs hatte Gosbert noch gehofft, Elspeth würde sich, nachdem sie gesundheitlich wieder erholt schien, nun auch gebührend um den fürstlichen Nachwuchs kümmern können, doch war dies nicht der Fall gewesen. Wenn die Herzogin einmal ihre Nase in eines der Kinderbettchen hinabsenkte, schreckte sie auf der Stelle vor dem für ihre adlige Nase entsetzlichen Gestank der Sünde, wie sie sich ausgedrückt hatte, zurück, und kehrte den Kleinen für Wochen wieder den Rücken. Hätte nicht die Amme Margarethe sich rührend um die Kinder gekümmert, wären wohl die beiden an mangelnder Zuwendung frühzeitig wieder aus dem Leben geschieden. Doch mit dieser Hausangestellten hatte Gosbert einen wirklichen Glücksgriff getan, sie war Tag und Nacht für die Zwillinge da, gönnte sich kaum einmal eine Pause, ja sie versäumte gar die Beerdigung ihrer eigenen Mutter, die fern von Kopoks nach langer Krankheit verstorben war, nur um immer für die Kleinen sorgen zu können.

Nur am Sonntag zeigte sich die Herzogin beim kirchlichen Hochamt ihren Untertanen mitsamt ihrem Nachwuchs, allerdings erst als die Kinder stubenrein waren, wie sie sich ausgedrückt hatte. Doch mochten die beiden allerdings schon fünf Jahre alt gewesen sein, als es das erste Mal in die Schlosskapelle ging. Oft hielt bei solchen Gelegenheiten dann Windebouteille selbst die Predigt, obwohl er niemals nachgewiesen hatte, überhaupt jemals ein Priesterseminar auch nur betreten zu haben. Darauf legte Elspeth allerdings auch keinen allzu großen Wert, die Hauptsache war und blieb, dass es bei diesen seinen Predigten nur so wimmelte von Teufeln, Dämonen, dem Bösen an sich, der Versuchung, die pausenlos der Menschheit nachstellt, und sie mit sich hinabziehen möchte ins Feuer der Hölle. Und diese Hölle vermochte der junge Mann in den schillerndsten Rottönen zu schildern, die Grillspieße, die den Sündern durch Mund und Allerwertesten gerammt würden, um sie über ewiger Glut zu rösten, die dreizackigen Spieße, die die Unterteufel verwendeten, um den Ärmsten, Zentimeter für Zentimeter die Haut abzuschälen, der Kessel mit siedendem Öl, in dem die Menschheit in Ewigkeit vor sich hin köcheln musste, die Schmerzenschreie, die niemals verstummten, die Apparatur mit welcher denen, die ihr Leben lang der Fresssucht gefrönt hatten, das Fett abgesaugt wurde; das Jammern, das Klagen, das Brüllen und das unaufhörliche Tosen des grenzenlosen Flammenmeeres.

Dies beeindruckte sowohl, die in der Stadt verbliebenen Bürger, als auch den herzoglichen Nachwuchs. Schließlich traute sich beinahe niemand mehr, den neuen Verhältnissen in Kopoks etwas entgegenzusetzen. Brav fügte man sich allen Anordnungen des Hauses Quarlo, nicht einmal Nepomuk Lammel selbst hätte sich eine solche Erfüllung all der Pflichten und Gebote vorstellen können. Allerdings hatte Windebouteille die meisten der absurden Maßnahmen, die dazu dienen sollten, der Herde der gläubigen Kopoksianer sicheren Einlass ins Himmelreich zu garantieren, frei erfunden. Der Reformator hatte zwar durchaus eine ähnliche Weltanschauung vertreten, wie der fesche junge Eremit, hätte aber solch krasse Umsetzung seiner Theorien von niemandem jemals verlangt. Es schien fast so, als wolle Windebouteille testen, wie weit er gehen konnte, ohne dass sich eine rebellische Gegenbewegung bildete. Im Nachhinein betrachtet, wäre man beinahe versucht zu unterstellen, dass es sich bei dem ganzen Projekt um ein sozialwissenschaftliches Experiment handelte, das ein ehrgeiziger Student in Gang gesetzt hatte, um damit zu einer Berühmtheit auf dem Kontinent zu werden. Auch hatte man, wenn man diesem jungen Mann vorgestellt wurde, immer das Gefühl einen schmierigen Schwindler vor sich zu haben, das schiefe Grinsen war dem Kerl einfach nicht aus dem Gesicht zu wischen. Diesen Eindruck hatte zumindest der alte Hjalmar gehabt, als er dem fürstlichen ersten Berater wie sich der einstige Einsiedler damals nannte, zum ersten Mal begegnet war. Der Baron von Hallgard hatte diese Begegnung in seinen Tagebüchern erwähnt, und diese Aufzeichnungen enthalten für die Geschichtsschreiber des Kontinents durchaus noch einige weitere interessante Begebenheiten, die teilweise sehr komplizierten Beziehungen zwischen den Fürstenhäusern betreffend. So waren dort auch einige Notizen über den Werdegang des Reichsverwesers Puntigam in den ersten Jahren seiner Herrschaft niedergeschrieben, da sich besonders der alte Hjalmar von Hallgard für dessen Ernennung in besonderem Maße eingesetzt hatte. Dies aber wäre jetzt wieder einmal eine völlig andere Angelegenheit.

So also wuchs das Zwillingspärchen, dem man die Namen Priscilla und Alfons gegeben hatte, traditionellerweise wurde der Nachwuchs der Quarlodinger immer nach den Großeltern väterlicherseits benannt, in einem äußerst sittenstrengen Umfeld heran. Das Mädchen war von Anfang an die Fügsamere der beiden gewesen, wie man ja Mädchen gemeinhin eine größere Anpassungsfähigkeit an die Gegebenheiten unterstellt, obwohl diese Annahme meiner Meinung nach jeglicher Grundlage entbehrt. Jedenfalls kam Priscilla mit den Einschränkungen ihrer Freiheit anscheinend besser zurecht, als ihr nur wenige Minuten jüngerer Bruder. Schon mit fünf Jahren hatte dieser nur mit Widerstreben den sonntäglichen Gottesdienst besucht. Kaum fing die riesige Orgel im Dom zu Kopoks donnernd an zu spielen, konnte man im karg eingerichteten Kirchenschiff das Plärren des kleinen Mannes vernehmen. Wenn dann Windebouteille auf die granitsteinerne Kanzel gestiegen war und begonnen hatte, mit sprichwörtlichem Feuereifer über die Hölle zu predigen, geschah es oft, dass der Junge ohnmächtig wurde. Entweder, weil er sich alle Kraft schon herausgeschrien hatte, und nun zum Wachbleiben keine mehr zur Verfügung stand, oder aber es graute ihn so sehr vor den Worten und dem Gebaren des Eremiten, dass er einfach vor Angst und Schrecken das Bewusstsein verlor. Meistens reichte eine Dosis Riechsalz aus, um ihn wieder ins Reich der Lebenden zurückzuholen, doch war es auch vorgekommen, dass Elspeth ihn den Armen der Amme anvertrauen musste, die ihn hinauf ins Schloss schaffte und in sein Bettchen legte, worauf er dann wach wurde und Margarethe dankbar anblickte, ohne weitere Tränen vergießen zu müssen.

Bei Priscilla standen die Dinge vollkommen anders. Das Mädchen schien alles, was Windebouteille von sich gab, regelrecht aufzusaugen. Sie hielt sich an alle Regeln, die die Reformierte Lammelianische Kirche von Kopoks erlassen hatte, ohne ein Problem damit zu haben. Für Priscilla war dies von Anfang an selbstverständlich gewesen. Das Lachen schien diesem Kind vom Beginn seines Lebens an schwergefallen zu sein, so unglaublich dies klingen mag. Selten, ganz selten nur war einmal ein Lächeln über das hübsche Kindergesicht geglitten, schon als Baby musste sie niemals glucksen, wenn der Vater ihr mit der Rassel vor der Nase herumfuchtelte und ein lustiges Eiapopeia hören ließ, allerdings kam dies auch nur selten einmal vor. Nur wenig Zeit hatte der Regent zur Verfügung um seinen Nachwuchs zu besuchen, und nur, wenn Elspeth nicht anwesend war, erlaubte er sich überhaupt solche Freiheiten mit den Kindern.

Schon mit fünf Jahren rezitierte Priscilla aus der Heiligen Schrift in der Übersetzung von Nepomuk Lammel, bei der ja, wie wir heute wissen, so gut wie jede menschenfreundlich nachsichtige Episode vom Leben des Herrn herausgestrichen worden war. Und diese Reden führte das Mädchen im zarten Alter von sechs Jahren noch dazu in gestochenem Latein. Windebouteille drängte aus diesem Grund seltsamerweise darauf, dem Kind eine gute Ausbildung angedeihen zu lassen, was dem lammelianischen Regelwerk vollkommen zu widersprechen schien. Weibsbilder waren, laut Nepomuk Lammel, dazu auf der Welt, den Männern zu dienen und für nichts anderes. Sie sollten sich nicht hinter dem Herd herauswagen, nur so wäre ein moralisch einwandfreies Leben, das zum Einzug ins Paradies führen sollte, auch für minderwertige Kreaturen wie Frauenspersonen, überhaupt möglich. Obwohl die Herzogin diesen Widerspruch in Windebouteilles Denken selbstverständlich bemerkte, fügte sie sich doch den Weisungen des Eremiten und ließ beide Kinder von einem der besten Privatlehrer unterrichten, die für billiges Geld zu haben waren; man war ja immer etwas klamm bei Herzogs.

Und wirklich erwies sich Priscilla als die bei weitem klügere der beiden Kinder. In Nullkommanix hatte sie ihren Bruder in allen Fächern meilenweit hinter sich gelassen, und hätte man sie aus finanziellen Gründen nicht schon früh verheiraten müssen, hätte sie alle Voraussetzungen besessen, auch noch die ehemals kaiserliche Universität in Weentbehl-Lachapelle zu besuchen.

Bei Alfons sah die Sache völlig anders aus. Nie konnte er sich länger als ein paar Sekunden lang auf irgendetwas konzentrieren. Alles konnte ihn von der Materie, mit der er sich gerade auseinandersetzen sollte, ablenken. Ja, so brauchte es nur eine Feder, die vom Himmel herabgeschwebt kam, und der Junge vergaß auf der Stelle alles andere, mit dem er sich beschäftigen sollte. Dann saß er mit offenem Mund vor dem Fenster und blickte in den blauen Himmel hinauf, als erwarte er eine Offenbarung. Diese Tagträumereien konnten über Stunden andauern, der Lehrer Garstinger tat sein Bestes, um den Jungen zurück zur Ordnung zu rufen, was jedoch nur ab und zu gelang, und in den meisten Fällen völlig vergebliche Liebesmüh war. Zwar konnte man Garstinger durchaus eine gestrenge Lehrkraft nennen, doch war er auch ein Mann, für den Mitleid kein Fremdwort war, und so überließ er oftmals den Jungen seinen Träumereien, ohne ihm auch nur zu drohen oder zu schimpfen. In der Zwischenzeit konnte er sich ja auch mit dem Mädchen beschäftigen, dies machte dem Pädagogen auch viel mehr Spaß, denn man konnte sich kaum ein lernbegierigeres Kind vorstellen als Priscilla.

Lange Zeit bemerkte Elspeth nichts von der laxen Art, mit der Garstinger dem Jungen so vieles durchgehen ließ. Doch als sie einmal zufällig Zeugin einer solchen Nachsichtigkeit geworden war, verlor der gute Mann seine Stellung, und ein neuer Pädagoge war bald in dem Mönch Bazillius gefunden worden, ein alter, roher Kerl, der das Prügeln von Kindern aufgrund seiner lammelianischen Gesinnung für die natürlichste Sache der Welt hielt.

Dieser Bazillius nun unterrichtete 'Dieses Mädchen' wie er Priscilla immer nur abschätzig titulierte, nie nannte er sie beim Namen, äußerst widerstrebend. Für ihn konnte es kaum etwas Sinnloseres geben als einem Weib Sprachen, Mathematik und Wissenschaft nahezubringen. Die Frau besaß nun einmal einen wesentlich kleineren Verstand als der Mann, der doch derjenige ist, der nach Gottes Ebenbild geschaffen war. Was hatte es für einen Zweck einem so minderwertigen Wesen wie einem jungen Mädchen irgendetwas beizubringen, was über Stricken, Nähen und Kochen hinausginge? Und selbst diese Fähigkeiten würde eine Person von so hohem Adel wie Priscilla ebenfalls niemals benötigen. Daher beschäftigte sich der Mönch meist zu dessen Leidwesen mit dem armen Alfons. Schnell war ihm die Neigung zu Träumereien des Jungen aufgefallen, und dagegen musste nun unbedingt etwas unternommen werden. Nur der Teufel konnte an solch einem Verhalten schuld sein, äußerte der Pädagoge dann auch der Herzogin gegenüber, die diese Ansicht auf der Stelle an Windebouteille weitertrug. Der erklärte sich bereit es einmal, um des Seelenheils des Kindes Willen, mit einem leichten Exorzismus zu versuchen.

Man ließ den Jungen eine Woche lang in einen winzigen Verschlag sperren und gab ihm nur so viel Wasser zu trinken, dass er gerade noch überleben konnte. Diese Methode sollte eine reinigende Wirkung auf den, von finsteren Mächten usurpierten, Geist des Kindes haben, wie das funktionierte, hätte niemand sagen können, doch befanden sich Anweisungen für eine solche Vorgehensweise in den Schriften Lammels. Vor der Tür des Gefängnisses wechselten sich der Adlatus von Windebouteille Ockenga, Bazillius und Elspeth ab und sagten den ganzen Tag lang, und auch die Nächte hindurch, die geheimen Sprüche zur Austreibung von Teufeln und Dämonen auf, wie sie in einigen zweifelhaften, hochkirchlichen Aufzeichnungen des Mittelalters niedergeschrieben waren. Auch hier hatte Nepomuk Lammel, der große Reformator sich bedient, wie sein ganzes Regelwerk ein einziges Sammelsurium der zweifelhaftesten Thesen war, die jemals von kirchlicher Seite aufgestellt worden waren. Der Junge hätte sich im Grunde glücklich schätzen können, nicht gleich noch als kindlicher Hexer der sogenannten Feuertaufe unterzogen zu werden. Ein recht zweifelhaftes Vergnügen, dass meines Wissens niemals jemand überlebt hat.

Die Herzogin und der Pädagoge suhlten sich in dem Gefühl, das einzig Richtige zu tun, um Alfons vor den Qualen der Hölle zu erretten, auch wenn Qual mit Qual bekämpft werden musste. Wie meistens war nicht einzuschätzen, was der Eremit eigentlich über diese Praktiken dachte, manchmal konnte einen das Gefühl beschleichen, Windebouteille war im Grunde vollkommen gleichgültig, was da mit dem Knaben geschah. Um seine Hände in Unschuld zu waschen hatte er die Verantwortung für die Maßnahmen dem Mönch Bazillius übertragen, falls etwas schiefgehen sollte, konnte der ruhig als Sündenbock dastehen.

Das Resultat dieser sich hinziehenden Grausamkeiten war, dass Alfons bis ins Erwachsenenalter niemals mehr ein Wort sprach. Mit seiner Schulzeit war es hiermit endgültig vorbei, meist starrte der Junge nur noch vor sich hin, und niemand vermochte zu sagen, was in ihm vorging. Selbstverständlich änderte sich rein gar nichts an seinen mangelnden Lernerfolgen, ganz im Gegenteil war es damit seit dieser Zeit nun vollständig vorbei, und der Knabe blieb geistig im Alter eines Siebenjährigen stecken. Immerhin schaute er von da an nicht mehr mit großen Augen aus dem Fenster, rannte nicht mehr freudig auf jeden jungen Hund zu oder zeigte überhaupt noch ein Interesse an irgendetwas. Doch wirkte Alfons nun überaus konzentriert, wenn der Lehrer sprach, stumm saß er da und starrte mit stoischem Ausdruck vor sich hin, allerdings fasste er nichts auf von dem, was ihm beigebracht werden sollte. Er ähnelte eher einem Insekt, das auf seine Verpuppung wartet, als dem fröhlichen, aufgeweckten Kind, das er eigentlich sein sollte. Dann, einige Zeit später, begannen diese Anfälle, die von Bazillius als erneute Angriffe aus der Unterwelt gedeutet wurden, was dann wiederum ein erneutes Wegsperren des Knaben zur Folge hatte.

Zu seiner Ehrenrettung muss gesagt werden, dass Gosbert nichts von all dem mitgekriegt hatte. Als ihm die Veränderung, die mit dem Jungen vorgegangen war, auffiel, hatte Elspeth dem Herzog etwas von einer Nervenentzündung erzählt, die sich allerdings schnell wieder bessern würde. Auch der fürstliche Familiendoktor bestätigte diese Diagnose Elspeths, sie hatte ihm einige Golddukaten zugesteckt, die sie heimlich vom Staatsschatz abzuzweigen verstanden hatte. Natürlich zog Gosbert im Laufe der nächsten Jahre die verschiedensten medizinischen Koryphäen hinzu, doch vermochte keiner der berühmten Ärzte des Kontinents etwas am Zustand des Knaben zu ändern. Hätten sie etwas von den Methoden des Windebouteille und des Mönchs Bazillius gewusst, wären sie aus allen Wolken gefallen, doch wurde den Doktoren nur mitgeteilt, der Junge sei schon immer so apathisch gewesen. Die Herren konnten keine physische Ursache feststellen, verordneten kalte oder heiße Wickel, wie es nun einmal so ihre Art ist, was im Grunde ein Glück für den Jungen war, die Behandlungsmethoden der vereinigten Ärzteschaft des Kontinents hätte er wohl kaum auch noch überleben können. Man hielt die seit Jahrhunderten gepflegte Inzucht des Adels für die eigentliche Ursache, hätte so etwas aber natürlich niemandem gegenüber zugegeben.

Nachdem Bazillius, er war schon in den Achtzigern gewesen, als er dieses schwere Amt übernommen hatte, den Weg alles Irdischen gegangen war, übernahm einer der Seminaristen von Windebouteilles neugegründeten Institut zur Ausbildung von Priestern der reformierten, lammelianischen Kirche dessen Aufgabe. Mit dem neuen Lehrer verschwand zusehends die Neigung Priscillas, sich allem ohne Widerstand zu beugen, was ihr vorgeschrieben wurde. Ob dies nun durch die Arbeitsweise des jungen Seminaristen ausgelöst worden war, oder aber etwas mit dem beginnenden Eintritt ins Erwachsenenalter des Mädchens zu tun hatte, war nicht genau zu sagen. Zwar hielt sich Priscilla noch an die allermeisten der Gebote, die in der lammelianischen Glaubenslehre vorgeschrieben sind, doch regte sich allmählich der Zweifel in ihrem jungen Herzen, ob es denn mit dem allen so seine Richtigkeit hatte. Bevor jedoch ein ernsthaftes Aufbegehren der pubertierenden Tochter zum Ausbruch hatte kommen können, war sie dann mit dem jungen Baron Bodo verehelicht worden, der gerade erst die Amtsgeschäfte des Hauses Hallgard von seinem erkrankten Vater übernommen hatte.

Und wirklich ging die erste Zeit lang die Rechnung auf, die Gosbert gemacht hatte. Die reichhaltige Mitgift, die diese Verheiratung einbrachte, konnte die Staatsfinanzen erst einmal wieder in Ordnung bringen und die folgenden Jahre schwemmten immer wieder Geldleistungen von Hallgard in die Kassen von Gosbert, ansonsten wäre sein Haus dem Untergang geweiht gewesen.

Es war Priscilla schwergefallen ihren Bruder zurückzulassen, wenn sie auch eigentlich ansonsten frohen Herzens ihr Leben in Kopoks hinter sich ließ. Selbstverständlich hing das Mädchen auch an seinem Vater, doch hatte der über die Jahre immer weniger Zeit für seine Kinder aufwenden können. Auch war bei einem solchen Unterfangen immer seine Gemahlin im Wege gestanden, die ihm vorwarf die Geschwister allzu sehr zu verzärteln. Der Abschied von der Mutter allerdings fiel Priscilla äußerst leicht, war sie doch seit der Erkrankung des Bruders schockiert gewesen über die Behandlung, die man diesem hatte angedeihen lassen, doch konnte sie nichts von diesen Geschehnissen dem Vater berichten. Sie wusste, das hätte ihm das Herz gebrochen.

So standen die Dinge nun in der Stadt Kopoks. Gerade war Gosbert noch einmal um die Pleite der Staatsfinanzen herumgekommen, als Baron Bodo von Hallgard ihm endlich das gewünschte zinslose Darlehen genehmigt hatte. Den gesamten kleinen Goldschatz hatte er dann bei seiner Hausbank, der 'Kreditkasse Ilmendorf, Kopoks und Fitzheide' hinterlegt, und so konnte die Reise am Abgrund entlang weitergehen, so dachte jedenfalls Gosbert bis zum heutigen Tag, als jedoch gegen Mittag der Besuch des Bankdirektors Hurmel angekündigt wurde, überfiel den Herzog eine schlimme Vorahnung.

Diesen Finanzhai hatte er nie leiden können, verarmter altkaramasulischer Landadel, dachte Gosbert verächtlich. Die Blutlinie zwischenzeitlich vermischt mit Bauern, Landarbeitern und Wilderern aus den Nebelbergen, ein Kretin, ein Geisteszwerg, ein neureicher Kriegsgewinnler, und dies waren noch die nettesten Bezeichnungen, die Gosbert für den Direktor Hurmel einfielen. Dies alles behielt der Herzog selbstverständlich für sich, merkwürdigerweise kam er im Großen und Ganzen mit Hurmel gut zurecht. Wahrscheinlich, so dachte Gosbert manchmal, hatte er diese ganze Sammlung von Vorurteilen kritiklos von seinem alten Herrn, Gott hab‘ ihn selig, übernommen. Aber so schnell wurde man solch einen vererbten Snobismus nun mal nicht wieder los, so sehr man sich auch bemühte, immer bleibt noch etwas kleben, egal ob es auch nur ein Fünkchen Wahrheitsgehalt aufweist, oder eben nicht.

Die Türe zu dem kleinen Empfangszimmer, das lediglich lumpige zweihundert Meter im Quadrat maß, im Gegensatz zur Halle, in welcher der Fürst normalerweise seine Gäste empfing, öffnete sich, und der Haushofmeister in Gestalt des unvermeidlichen Grützling stand im Türrahmen.

„Ludovico de Hurmel, Direktor des Bankwesens, Träger der kupfernen Gürtelschnalle von Kunkelau, Mitglied im Rat der hochherrschaftlichen Stadt Kopoks!“, rief Grützling in den Raum hinein und klopfte dabei mit einem langen Stab mehrmals auf den steinernen Boden.

'Vielleicht auch noch Anwärter auf das Amt des größten Haderlumpen des Kontinents', fügte Gosbert in Gedanken hinzu, und musterte missmutig den Eintretenden, verwandelte seine finstere Miene jedoch sofort in eine freundliche, durch die pure Kraft bewundernswerter Heuchelei. Eine Art der Magie, die auf jeder Welt vorzufinden, und gar nicht überzubewerten ist.

„Werter Direktor, wie schön sie zu sehen!“, säuselte der Herzog und reichte Hurmel beide Hände. Der mühte sich nun damit ab, einen artigen Diener vor dem Herzog zustandezubringen, was ihm allerdings wegen seines, vom vielen anstrengenden Sitzen arg gebeugten, Rückens nicht gelingen wollte.

„Euer Durchlaucht!“, begann Hurmel dann, ohne sich groß aufzuhalten. „Das Gold, es ist….., nun wie soll ich mich ausdrücken? Es stinkt erbärmlich ... äh, es befindet sich sozusagen in einem anderen Aggregatzustand, man könnte auch sagen…., es ist alles weg!“

„Lieber Hurmel, Ihr seid ja völlig außer Euch!“ Das musste ja einmal so kommen, dachte Gosbert. Wenn man das ganze Leben lang mit nichts anderem beschäftigt ist, als Geld zu zählen, zu verwalten, zu verleihen, anzulegen und zu vermehren. Wer wollte es dem Direktor verübeln, wenn er nun völlig verrückt geworden war, es war schließlich wirklich kein Wunder. Er sollte sich vielleicht öfter einmal ein entspannendes Bad gönnen.

„Herzog, Euer Gold, es hat sich in Luft aufgelöst!“, begann Hurmel von neuem, „noch dazu in eine ziemlich dicke Luft, möchte ich mal behaupten!“

„Was hat sich in Luft aufgelöst, Direktor? So beruhigt Euch doch etwas! Wie wär’s mit einem Glas Wasserpunsch mit einem Spritzer Zwiebelsaft?“ Die Trinkgewohnheiten in Kopoks waren schon eine Sache für sich. Wirklich hatte die Gesichtsfarbe Hurmels zwischenzeitlich eine besorgniserregende Rötung angenommen, auch nestelte er beständig an seinem Hemdkragen herum, als ob er keine Luft zum Atmen hätte.

„Das Gold, nun ...! Mit dem die staatlichen Schulden beglichen hätten werden sollen, bei unserem Institut und bei weiteren Bankhäusern“, der Direktor reagierte in keinster Weise auf das Angebot Gosberts, was man ihm wirklich nicht verübeln konnte. „Also es ist weg, nur noch grünlicher Schleim! Und ein Gestank zum Weglaufen!“

„Ihr wollt sagen, dass kein Gold mehr da ist?“, fragte Gosbert nun und blickte Hurmel jetzt aus weit aufgerissenen, schreckgeweiteten Augen an.

„Genau das!“ Der Direktor ließ sich daraufhin anstandslos in einen etwas angestaubten Sessel mit grünbraunem Streifenmuster fallen und ließ ein Ächzen hören.

„Aber wie kann das sein?“, der Herzog hatte nicht die leiseste Ahnung, wie so etwas geschehen konnte. „Ist dies vielleicht Eure Schuld? Möglicherweise treibt ein goldvertilgender Parasit in Euren Räumlichkeiten sein Unwesen?“ Gosbert bildete sich ein von so einem Geschöpf schon einmal in Dr. Brehmers Tierleben gelesen zu haben.

„Ach was!“ Fast zornig wischte der Bankier diese Unterstellung von Seiten des Herzogs beiseite. „Wenn ich mich nicht irre, dann kam besagtes Vermögen doch direkt aus Hallgard, dem Amtssitz eures verehrten Schwiegersohnes, Durchlaucht?“

„Nun, da irrt ihr nicht, genau so ist es“, überlegte Gosbert. „Wie ihr wisst, greift mir der gute Bodo manchmal etwas unter die Arme. Ihr wisst es ja am besten, die Zeiten sind schlecht. Früher, ja, früher…..“

Direktor Hurmel wartete noch eine geschlagene Minute ab, doch allem Anschein nach wollte seiner Durchlaucht nichts mehr an Ausreden, sein heruntergewirtschaftetes Staatsgebilde betreffend, hinzufügen.

„Und in Hallgard gehen seit einiger Zeit merkwürdige Dinge vor sich“ sagte dann Hurmel, „Zauberer, Alchimisten, Magier, zwielichtige Gauner, die die Finanzmärkte mit selbstgebrauter Währung in große Gefahr bringen könnten, wenn denn so ein Unsinn wie die Verwandlung von schnödem Metall in Gold überhaupt möglich wäre!? Was ich allerdings als Unfug ansehen muss!“

„Aber Direktor, Ihr vermutet also hier finstere Mächte im Spiel?“ Darüber musste Gosbert erst einmal eine Weile nachdenken. „Wie sollte so etwas denn möglich sein?“

„Das kann ich Euch auch nicht beantworten, aber vielleicht haben es die Alchimisten, die im Dienste Hallgards stehen, doch tatsächlich fertiggebracht, Gold herzustellen, oder zumindest etwas, das eine Zeitlang so aussieht wie Gold. Obwohl wie ich gestehen muss, es von Anfang an schon irgendwie etwas fischig gerochen hat!“

„Fischig?“, fragte nun Gosbert zögerlich. „Ihr wisst ja wohl, dass in diesem Monat, der ja auch ein 'R' beinhaltet, der Genuss dieser Tiere strengstens untersagt ist!“, die Stimme des Herzogs war nur noch als Flüstern wahrzunehmen. Er wusste nie so ganz genau, wo sich seine Gattin gerade befand. Elspeth hatte diese fast schon unheimliche Fähigkeit ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, einfach aufzutauchen.

„Verbote, hin oder her!“, meinte der Bankier daraufhin, der im Grunde diese ganzen Auflagen der reformierten Kirche für bloßen Unfug hielt, und sich so wenig wie möglich danach richtete. Freilich sündigte er nur hinter geschlossenen Türen und Fenstern oder er begab sich zu gewissen Anlässen bis an die Landesgrenzen, um es sich einmal gutgehen zu lassen. Schließlich war Hurmel nicht von Geburt an Kopoksianer und fühlte sich daher auch nicht an all die merkwürdigen Regeln in diesem Landesteil gebunden.

„Ich denke, es ist wohl ebenso verboten falsches Gold unter die Leute zu bringen“, fuhr der Bankier jetzt fort. „Und, was noch schlimmer ist, ich habe einige der Barren schon zu Münzen verarbeiten lassen, Herzog! Die noch dazu Euer edles Bildnis tragen!“

„Und Ihr habt damit etwa ausstehende Rechnungen beglichen?“ Erneut fuhr der Schrecken Gosbert durch den ganzen Körper, „Aber das ist ja eine Katastrophe!“

„Nun die Vereinigte Lokomotive wird nicht gerade begeistert sein, wenn die Münzen, mit denen ich die ausstehenden Schulden bezahlt habe, sich ebenso wie die restlichen Barren, in zähen, zum Himmel stinkenden Schleim verwandelt haben.“

Gosbert brach jetzt innerlich endgültig zusammen. Ausgerechnet noch die Vereinigte Lokomotive. Mit dem Direktorium dieser Firma hatte er schon seit Jahren immer wieder die größten Schwierigkeiten gehabt. Am Ende würden sie doch noch den Gerichtsvollzieher in Kopoks vorbeischicken, obwohl es Gosbert ein Rätsel war, wie dieser, die kleine Eisenbahn, die Kopoks Tag für Tag umrundete, pfänden würde sollen. Dies war das einzige der vielen Steckenpferde aus Gosberts Jugendjahren, das bei seiner gestrengen Gattin noch kein Missfallen erregt hatte. Er hatte ihr gegenüber immer behauptet, die Bahn wäre unbedingt nötig zum Transport von Gütern und Gerätschaften für den Gartenbau. Ohne diese technische Errungenschaft, könnte das Fürstentum in diesen modernen Zeiten unmöglich bestehen. Die Lokomotive fuhr die vernachlässigten Streuobstwiesen von Kopoks an, verband die Vororte der Stadt miteinander, und wagte sich auch hinaus zu den alten Erzmienen, die jedoch kaum mehr Erträge erzielten. Herzog Gosbert liebte seine kleine Eisenbahn. Als er ein kleiner Junge gewesen war, gerade als die ersten Loks am Rande der Hauptstadt unter Dampf gesetzt worden waren, war es sein innigster Wunsch Lokomotivführer zu werden. Mit rußgeschwärztem Gesicht eine solche mächtige Maschine zu bedienen und über den Kontinent zu bewegen, hiervon hatte der kleine Gosbert lange, lange Zeit geträumt.

Doch was sollte man machen, wenn man zum Herrscher über ein Fürstentum geboren war? Dem Herzog war bald klar geworden, dass dies immer ein Traum würde bleiben müssen. Nur manchmal, wenn er sich von seinen vielen Regierungspflichten freimachen konnte, Grützling war ihm hierbei immer eine große Hilfe, begab er sich inkognito hinunter an den kleinen Bahnhof, bestieg die Größere der beiden Dampfloks, die im Übrigen immer noch nicht vollständig abbezahlt waren, und fuhr ein, zwei Stündchen mit dem Lokführer Willi übers Land. Willi war eingeweiht und ließ sich in keinster Weise anmerken, wen er da in seinem Führerhaus beförderte.

„Was soll ich nur tun, Hurmel?“, fragte jetzt Gosbert den Bankier, der mit einiger Befriedigung die Aufgeregtheit des Herzogs wahrgenommen hatte.

„Tja, vielleicht ..., “, begann Hurmel und lehnte sich fast schon lässig in seinem Sessel zurück. Es war schon merkwürdig, wenn man jemanden vor sich hatte, der gerade dabei war, vollständig den Kopf zu verlieren, wurde man dadurch auf seltsame Weise selbst immer ruhiger. „Vielleicht solltet Ihr euch zuallererst einmal Klarheit über die Absichten Eures werten Schwiegersohnes verschaffen, Mylord.“

„Ja, da mögt Ihr recht haben, Hurmel!“ Der Herzog war hinüber zum Fenster gegangen, lehnte sich hinaus und blickte hinunter in den Burggraben, dann vernahm er das lustige Pfeifen der Lokomotive, die unermüdlich in Richtung Westen vor sich hin tuckerte. „Ich werde eine Abordnung schicken. Und wenn Bodo wirklich dahinterstecken sollte, wird er mir diesen Verlust eben mit anderen Mitteln wieder ausgleichen müssen!“

„Tut das, aber Eile tut not, befürchte ich!“, meinte der Direktor und erhob sich dann. „Ich werde mein Möglichstes tun, um Euch die 'Vereinigte Lok, Dampf und Wasserwerke' noch eine Weile vom Hals zu halten!“

„Da wäre ich Euch äußerst dankbar, Hurmel!“

Nachdem ihn der Direktor des Kreditinstituts alleingelassen hatte, grübelte Gosbert einige Stunden vor sich hin und bestellte dann das Faktotum Grützling zu sich. Nachdem er ihn über die Umstände aufgeklärt hatte, wies der Herzog seinen Kammerdiener an, sich ein paar vertrauenswürdige Männer zu schnappen, die sich gegen etwaige Strauchdiebe zur Wehr würden setzen können, und die Reise nach Hallgard anzutreten. Gosbert konnte sich keinen diplomatischeren Menschen vorstellen als den guten Grützling, auch wenn er ihn hier in Kopoks dringend benötigte, so fiel ihm doch niemand anderes ein, dem er ein solches Vertrauen entgegenbrachte. Er sollte sich zuallererst an Priscilla wenden, die würde hoffentlich diese lästige Geschichte doch noch zu einem guten Ende bringen.

Das Gezeitensieb

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