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Kapitel 2 Lucy und eine denkwürdige Begegnung
ОглавлениеLukretia Müllerschön hatte ihren Namen schon immer aus tiefstem Herzen verabscheut. Ihr Familienname erschien ihr viel zu normal; sie fühlte sich keineswegs wie eine schöne Müllerin, die in irgendeinem Kitschroman aus vergangenen Zeiten vorkommen mochte. Sie hatte immer das Bild aus einem dieser altmodischen Heimatfilme vor Augen, wenn sie über die Bedeutung ihres Nachnamens sinnierte. Sommer, eine Wassermühle an einem fröhlich dahinplätschernden Bächlein, grüne Wiesen, am Horizont die schneebedeckten Kuppen der Alpen. Ein blondbezopftes Mägdelein tritt aus der Türe, in der Hand einen kleinen Weidenkorb. Dann eine Windbö. Das Mädchen knüpft sich ein rotkariertes Kopftuch um das Haupthaar und hüpft dann lustig vor sich hinträllernd den Feldweg entlang. Ja, so einer Person mochte ein solcher Name wohl anstehen, dachte Lukretia.
Allerdings konnte sie ihrem Vater wohl kaum einen Vorwurf wegen ihres Familiennamens machen, hatte er sich diesen ja auch nicht aussuchen können. Allerdings hatte Papa sich den Namen Lukretia für sie ersonnen, und das zumindest, hielt die so bezeichnete doch für ein wirkliches Verbrechen.
Wer hieß schon Lukretia, dachte sie? In all den Schulklassen, die sie bis zum heutigen Zeitpunkt besucht hatte, war ihr niemals eine zweite Person begegnet, die diesen Namen trug, was ihr allerdings dann auch wieder ganz recht so war.
Wolfgang Müllerschön war nun eben zeit seines Lebens ein großer Anhänger einer längst dahingegangenen Popband namens 'The Beatles' gewesen und nur aus diesem Grund war er auf diesen Namen verfallen. Und deshalb nannte er sein Töchterlein auch nur Lucy, ja Lucy, wie aus 'Lucy in the sky with Diamonds'. Ein Song besagter Band, der zu allem Überfluß auch noch mit dem Konsum der halluzinogenen Droge LSD in Verbindung gebracht wurde. Und Lucy wurde Lukretia von allen anderen ebenfalls nur genannt. Das allerdings fand sie zwar immer noch besser als ihr vollständiger Name, aber wie eine Lucy fühlte sie sich nun wirklich schon seit langer, langer Zeit nicht mehr.
Lucy war vor zwei Monaten fünfzehn Jahre alt geworden. Ein Alter, in welchem man beginnt, die Dinge in einem etwas anderen Licht zu sehen und vieles in Frage zu stellen, was man ehemals als natürliche Ordnung der Dinge einfach so hingenommen hatte. Allerdings hatte dieser Prozess schon ein, zwei Jahre zuvor seinen Anfang genommen. Von einem Tag auf den anderen hatte Lucy eine Abneigung gegen alles Mögliche entwickelt. Alles fing mit der schönen Farbe Rosa an.
Wie viele Mädchen unserer Zeit hatte sich Lucy ihr Jugendzimmer von ihrem widerstrebenden alten Herrn in grellstem Pink anstreichen lassen. Sie war eine dieser Prinzessinnen gewesen, denen es nicht rosa genug sein konnte. Rosa, rosa, rosa. Der Regenmantel, die Skihose, der Regenschirm. Alles, ja wirklich jeder Gegenstand, mochte er auch nur für die profansten Dinge benutzt werden, musste in wunderschönem Rosa erstanden werden. Sogar ihre Zahnbürste erstrahlte in dieser Farbe und Prof. Müllerschön hätte wetten können, gäbe es Toilettenpapier in dieser Farbnuance, wäre kein einfaches, weißes, mehr an das Hinterteil seiner Tochter gekommen.
Das Puppenhaus, das zu ihrer immensen Barbie Sammlung gehörte, rosa. Die Oberfläche des Schreibtischs, der nun langsam aber sicher zu klein für das Mädchen wurde, erstrahlte in eben dieser farblichen Pracht. Rosa Gardinen umrahmten das Fenster, das auf einen grünen Lindenbaum hinausblickte und verliehen dem Raum ein absonderliches Licht. Alles wirkte dadurch auf eine merkwürdige Weise trist und fleckig, jedoch nur bei Tage. In der Dunkelheit glühten unzählige rötliche LED-Lämpchen und erwärmten das Reich von Prinzessin Lucy auf bezaubernde Weise, wie das Kind meinte.
Dann auf einmal, an einem sonnigen Dienstagmorgen um Viertel vor sieben hatte Lucy die Augen aufgeschlagen und die Welt völlig verändert vorgefunden. Ganz plötzlich hatte es sie vor dem Morgenlicht gegraust, das da durch die staubigen Scheiben in ihr Zimmer eindrang, obwohl dies doch einen sonnigen Frühsommertag ankündigte, an dem alles Wunderbare sich würde ereignen können.
Lukretia Müllerschön jedoch empfand an diesem Morgen keineswegs das Verheißungsvolle, das in der Luft lag. Eigentlich war sie nie ein Morgenmuffel gewesen, jetzt jedoch drehte sie sich das allererste Mal in ihrem Leben wieder um, zog sich die pinkfarbene Bettdecke über den Kopf und lauschte in die Stille hinein, die begann, sich mit den üblichen alltäglichen Geräuschen zu füllen.
Als sie es dann endlich geschafft hatte, sich aufzuraffen, starrte sie noch minutenlang an die Decke, bevor sie zaghaft einen Fuß aus dem sicheren Bereich ihres Bettes zu setzen sich traute.
Als sie ihr Refugium an diesem Morgen dann eingehend betrachtet hatte, war der Entschluss in ihr gereift, dass ab jetzt alles anders werden musste. Nachdem sie unwillig den Schultag am Robert-Koch-Gymnasium absolviert hatte, war sie kurzerhand auf ihrem Fahrrad an einem nahe gelegenen Baumarkt vorbeigefahren, hatte Pinsel, eine Farbrolle und einen 7,5 Liter Eimer schwarzer Wandfarbe erstanden und damit begonnen das Zimmer in eine Gruft zu verwandeln.
Als Wolfgang Müllerschön am Abend nach Hause kam, fiel er im wahrsten Sinne des Wortes aus den Wolken. Nicht nur das eigenartige neue Ambiente, das seine Tochter für sich geschaffen hatte, war dazu angetan gewesen, ihn zu beunruhigen; auch ihr neues Outfit verstörte den armen alleinerziehenden Vater in erheblichem Maße. Lucy war jetzt nicht einmal sehr absonderlich angezogen, doch hatte sie die Ohrringe, die sie schon als kleines Kind getragen hatte, abgelegt, und anstatt farbenfroh durch die Wohnung zu springen, hatte sie sich in eine alte Jeans, die dem Anschein nach aus des Herrn Papas Jünglingstagen stammen musste, und in ein dunkelgraues T-Shirt geworfen, welches jeglichen Farbtupfer vermissen ließ, nicht einmal mit einer lustigen Aufschrift konnte dieser Fetzen aufwarten. Dies alles hätte es nun nicht vermocht, den tapferen Vater so zu verunsichern, doch dass seine Tochter ihn nicht auf die übliche fröhliche Weise begrüßt hatte, brachte ihn beinahe um seine Fassung.
Von einem Tag auf den anderen hatte sich seine liebenswerte brave Tochter von einem Schmetterling in eine graue Raupe verwandelt, wo doch jedermann, der im Biologieunterricht aufgepasst hat, die umgekehrte Reihenfolge erwartet hätte. Auch legte Lucy plötzlich eine Missmutigkeit an den Tag, die er noch niemals zuvor an seiner Tochter bemerkt hatte. Und was das Allerschlimmste war, von diesem Tage an hatte sie aufgehört ihn 'Daddy' zu nennen.
Dieses denkenswerte Ereignis war nun schon beinahe zwei Jahre her, inzwischen konnten sich weder der Vater noch die Tochter daran erinnern, wie es vorher gewesen war. Auch hatte Prof. Müllerschön sich recht bald an die neuen Umstände gewöhnt, und es war ja auch nun keineswegs so, dass Lucy sich von einem Tag auf den anderen in ein unausstehliches, nörgelndes Pubertätsmonster verwandelt hatte, im Grunde blieb alles beim Alten. Nur die Leichtigkeit, die er vormals in dem Kind gespürt hatte, war für immer verschwunden, wie ein Herbstblatt, das vom stürmischen Oktoberwind weggeweht wird und irgendwo an einer anderen Stelle der Welt als brauner Staub zurück auf die Erde fällt.
Der Kleidungsstil, den seine Tochter von diesem Tage an begonnen hatte zu pflegen, verwunderte Prof. Müllerschön jedoch mit der Zeit schon etwas. Mit ramponierten Jeans und T-Shirt gab sich die junge Dame schließlich doch nicht zufrieden. Ihr ganzer Sinn stand nach Schwarz.
War vormals ein schockendes Pink Lucys ständiger Begleiter gewesen, so hüllte sich das Mädchen jetzt nur noch in die tiefschwärzesten Stoffe, die zu finden waren. Auch gab sie sich nun keineswegs immer mit Nietenhosen und düsteren Hemden zufrieden. Wenn in der Schule oder anderswo ein besonderer Anlass geboten war, verstand es Lukretia Müllerschön durchaus, diesem gerecht zu werden. Die Gewänder, die ihre Person dann wallend umgaben, waren selbstverständlich auch von jener dunklen Farbe, von der die Wissenschaft behauptet, es handele sich strenggenommen gar nicht um eine solche. Sie wirkte dann eher wie einer dieser Vampire, die sich heutzutage so großer Beliebtheit in Filmen und Literatur erfreuen. Obwohl Lucy dieses Genre aus tiefstem Herzen verabscheute; für sie gab es nur ein wahres Meisterwerk über diese blutsaugenden Ungeheuer, und dies stammte von dem irischen Schriftsteller Bram Stoker und nannte sich schlicht und ergreifend einfach nur Dracula. Diese modernen Vampirmärchen, die nun auch schon begonnen hatten, das Fernsehprogramm zu erobern, stellten für Lucy eine Art Ausverkauf einer einstmals guten Idee dar, und die schwülstige Romantik dieser Machwerke stieß sie ab. Wenn es wirklich so etwas wie Untote oder Wiedergänger gäbe, hätten die bestimmt etwas Besseres zu tun, als immer nur der Geliebten hinterherzuschmachten und sich blutige Tränen zu verdrücken.
Schlimmer war für den Vater, der immer stolz auf das blonde, wellige Haar seiner Tochter gewesen war, dass sich dieses nun ebenfalls, mit Hilfe von allerlei chemischen Substanzen, tiefschwarz präsentierte. Auch hing das lange Haar nun meist strähnig im Gesicht des Mädchens, und oft hätte man den Eindruck gewinnen können, sie würde durch diesen düsteren Vorhang die Welt um sie herum kaum mehr wahrnehmen. Was nun keinesfalls bedeuten soll, dass das Mädchen sich von diesem Zeitpunkt an vernachlässigte, nur wusch sie sich nicht mehr jeden Tag ihre Haarpracht mit den teuersten Shampoos und keine Spülung kam ihr mehr auf den Kopf. Ansonsten roch sie keineswegs unangenehm, wie ihr alter Herr feststellen musste. Im Gegenteil, das Fehlen dieses durchdringenden Maiglöckenparfums, das sie vormals wie eine Aura umgeben hatte, fiel eigentlich recht positiv ins Gewicht, wie er meinte.
Dennoch machte sich selbstverständlich Prof. Müllerschön so seine Gedanken. War doch die Scheidung von seiner Frau an der Veränderung schuld, die mit dem Mädchen vorgegangen war? Allerdings war das doch nun schon mehr als fünf Jahre her, sollte der Knacks, den möglicherweise ihre Psyche durch das Fehlen der Mutter erlitten haben mochte, erst zeitverzögert sich geäußert haben? Der Vater konnte, oder wollte sich dies nicht vorstellen und tat diese Verwandlung schließlich damit ab, sie für ein ganz normales pubertäres Phänomen zu erachten, das die langsame Abkoppelung vom Elternhaus einleitete.
Monika Müllerschön, die Ex-Gattin war eine sehr attraktive Frau gewesen, und war es auch heute noch. Nie jedoch hatte sie die Mutterinstinkte entwickeln können, die doch von der Mehrheit der Gesellschaft als natürlichstes Verhalten angesehen werden. Nach Lukretias Geburt war die Depression auf die Frau herabgesunken wie ein dunkler Vorhang. Und während sich dies bei den meisten frischgebackenen Müttern nach kurzer Zeit wieder gibt, und sie dann durchaus in der Lage sind, eine gesunde Beziehung zu ihrem Nachwuchs zu entwickeln, so stellte sich bei Monika leider keinerlei Veränderung ihres Gemütszustandes ein. Monatelang hatte sie einfach nur im Bett gelegen, ihren Mann verflucht, der ihr dies angetan hatte, bis sie schließlich an einem Herbstmorgen wieder damit begann, ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin nachzugehen. Dies änderte jedoch nicht ihr Empfinden dem Kind gegenüber, ausschließlich der Gatte kümmerte sich um das kleine Gör, wenn es hungrig schrie oder von Koliken geplagt wurde. Wolfgang hatte sich, an der Universität an der er lehrte, eine Auszeit nehmen können, um sich die erste Zeit um seine Tochter zu kümmern, und für jemanden, dem man immer eine gewisse Zerstreutheit nachgesagt hatte, machte er seine Sache erstaunlich gut. Mit der Geduld eines Engels schlug er sich die Nächte um die Ohren, wenn das Kleine wieder von Schmerzen geplagt wurde, verabreichte Fencheltee, wechselte die Windeln und sang ihr Lieder von den Beatles vor, wenn sie nicht einschlafen wollte.
Eines Tages hatte Monika ihre Koffer gepackt, ein Taxi bestellt und war verschwunden. Wolfgang bekam seine Frau nur noch einmal beim Scheidungstermin zu Gesicht, wo sie alles was er ihr vorlegte ohne hinzusehen unterschrieb und auf der Stelle nun endgültig aus ihrer beider Leben entschwand. Sie hatte es nicht einmal fertiggebracht, ihm ins Gesicht zu sehen. Ein paar Wochen später hörte der, nun alleinerziehende, Vater, dass seine Ex-Frau Teilhaberin einer großen Anwaltskanzlei für Wirtschaftsrecht in Frankfurt am Main geworden sei, sie hatte also keinen großen räumlichen Abstand zwischen sich und ihren ehemaligen Gatten gebracht, lehrte dieser doch an der Universität derselben Stadt. Aber viele Jahre hörte er kein Wort mehr von ihr.
Lucy schien seither jedoch nichts zu vermissen, soweit dies Prof. Müllerschön beurteilen konnte. Da sie von kleinauf daran gewöhnt war, nur ein Elternteil zu besitzen, hätte sie auch nicht sagen können, wie es wäre auch noch ein zweites zu haben. Auch heute, da sie längst begonnen hatte eigene Wege zu gehen, hätte man nicht behaupten können, dass es dem Kind an irgendetwas mangelte. Im Gegenteil war sie bis zu dem Tag, an dem diese äußerliche Verwandlung vorgegangen war, immer ein ausgeglichenes, fröhliches Kind gewesen. Auch jetzt, da sie doch immer eine Aura von Trauer zu umgeben schien, war sie eine gute bis sehr gute Schülerin geblieben. Nichts Grundlegendes hatte sich eigentlich verändert, und nach dem ersten Schrecken hatte sich Prof. Müllerschön mit dem neuen Erscheinungsbild seiner Tochter rasch abgefunden und machte sich keine allzu großen Sorgen deswegen. Lucy selbst hätte nicht sagen können, was diese Verwandlung eigentlich ausgelöst hatte.
Ungefähr zwei Jahre später, Lukretia zählte jetzt fünfzehn Lenze, verließ das Mädchen gerade, mit dem Jahreszeugnis in Händen, das Robert-Koch-Gymnasium in ihrem Wohnort Eschenfeld. Auch die zehnte Jahrgangsstufe hatte sie mühelos überwinden können, keine einzige Fünf und nur zwei Vieren, eine davon seltsamerweise in Kunst, wiesen sie als eine Schülerin aus, die sich immer noch im oberen Mittelfeld befand. Es wurmte sie allerdings in Sport nur neun Punkte bekommen zu haben, hielt sie sich doch für eine ausgezeichnete Läufer- und Schwimmerin. Lucy verabschiedete sich auf den Stufen der Schule noch von ihrer besten Freundin Helena, die schon am nächsten Tag mit ihren Eltern an die Algarve reisen sollte, als ihr ein äußerst merkwürdig aussehender kleiner Junge von der anderen Straßenseite aus zuwinkte.
Sie drehte sich um, suchte mit Blicken vergeblich denjenigen, den der kleine Kerl wohl meinen könnte, es befand sich aber außer ihr niemand mehr auf der Treppe der Schule. Drüben, auf der anderen Seite, lagen die gepflegten städtischen Parkanlagen von Eschenfeld im grellen Sonnenlicht, die Mittagsstunde war gerade herangebrochen, und Lucy begann zu schwitzen in dem nachtschwarzen Cape, das sie sich um die Schultern gewunden hatte. Vielleicht hätte das dunkle, weite Männerhemd mit den violetten Rüschen am Kragen, das sie darunter trug bei diesen Temperaturen schon ausgereicht, dachte sie, als der Junge, den sie nicht aus den Augen gelassen hatte, wie betrunken auf die Fahrbahn zuzutaumeln begann.
Die Straße war zu dieser Tageszeit stark befahren. Ein Sattelschlepper, der gerade mit überhöhter Geschwindigkeit vorbeirollte, verdeckte Lucy die Sicht auf den Jungen. Die städtischen Behörden hatten zwar in der Tauberstraße eine Dreißiger- Zone eingerichtet, da sie ja direkt am Nebeneingang zur Schule lag, doch hielten sich viele Autofahrer in diesem Fall nicht an die Vorschriften. Dann konnte das Mädchen den Knaben wieder ausmachen. Anscheinend war er vor der Straße zurückgewichen und dann unsanft mit dem Hinterteil auf das Trottoir geplumpst, schien sie jedoch dabei nicht aus den Augen gelassen zu haben.
'Merkwürdiger kleiner Kerl’, dachte Lucy noch, als der fremde Junge sich mühsam wieder aufzurappeln begann, ohne dabei aufzuhören, ihr mit einer Hand zuzuwinken. Als er dann endlich wieder stand und erneut den Weg über die Straße antreten wollte, wurde er schließlich beinahe von einem vorüberfahrenden Personenbus gestreift, der laut hupend vorbeirauschte. Lucy konnte noch die schreckgeweiteten Augen des Fahrers erkennen, dann war auch der Omnibus weitergefahren.
'Was macht der da bloß? Will der sich etwa umbringen?', schoss es dem Mädchen durch den Kopf. Und warum lief er nicht einfach die vierzig Meter nach rechts, wo das blau-weiße Schild, das den Zebrastreifen anzeigte, eigentlich nicht zu übersehen war. Unbeirrt begann der Junge aufs Neue sich zu erheben, dabei schien er ihr etwas zuzurufen, was jedoch im Verkehrslärm unterging.
Lucy deutete in die Richtung, in der der Fußgängerübergang lag und bewegte sich auf der anderen Straßenseite in dieselbe Richtung. Gott sei dank schien der Kleine sie verstanden zu haben, da auch er sich nun aufmachte, anscheinend jedoch ohne das Mädchen drüben aus dem Blick verlieren zu wollen. Endlich waren beide am Zebrastreifen angekommen. Lucy hob selbstbewusst den Arm, die Karawane an Personenkraftwagen kam zu einem Halt, und schnellen Schrittes überquerte sie die Fahrbahn, wo der Knabe sie mit ehrfurchtsvollem Blick erwartete.
Simon kam es vor, als teile die Person einen von Ungeheuern bewohnten Ozean, als sie da so stolz über die Strasse schritt. Er hatte aber eigentlich von dem Vampyr nichts anderes erwartet. Als Lucy aber näher und näher kam, musste der Junge zu seinem großen Schrecken erkennen, dass es sich bei der Gestalt, die er für Wondraczek gehalten hatte, keineswegs um diesen handelte.
Nein, das war ja noch dazu ein Mädchen, musste er entsetzt feststellen. Ein recht großes Mädchen zwar, sie wirkte in etwa so groß wie Wondraczek in seiner üblichen, vampyresken Gestalt, so kam es dem Jungen zumindest vor. In Wirklichkeit war Lucy zwar um einiges kleiner, aber Simon befand sich in diesem Moment auch in einem etwas mitgenommenen Zustand.
„Bist du eigentlich lebensmüde, Kleiner?”, schrie das Mädchen fast heraus, und hielt ihn am Arm fest, bevor er nochmal auf die Straße taumelte. Der Junge hatte ihr doch einen ganz schönen Schrecken eingejagt.
„Ich, ich ...“, begann Simon zu stammeln, dabei zuckte er mit den schmalen Schultern, als ob er kurz davor war, einen Anfall zu erleiden. „Ich hab' dich wohl mit jemandem verwechselt!“
„Scheint so! Aber das kann doch jedem mal passieren!“, meinte das Mädchen daraufhin mit erhobener Stimme, gerade kam ein Biker auf einer großen Maschine vorbeigetuckert.
„Ich,...ich hätte schwören können, du bist mein Freund Wondraczek.“, meinte Simon und rieb sich verwundert die Augen. „Gerade vorhin stand er noch mit mir am Ufer des Umso Meeres, und dann war ich plötzlich da drüben unter den Bäumen.“ Der Junge deutete in die Richtung, in der der Stadtpark friedlich in der sommerlichen Hitze vor sich hin döste, ohne dem chaotischen Treiben auf der Straße Aufmerksamkeit zu schenken. So eine Parkanlage interessiert sich im Übrigen so gut wie nie für die Belange des hektischen Verkehrsbetriebs unserer Tage, zumindest solange bis die Bulldozer auftauchen.
„Du warst wo?“ Lucy glaubte, einen kleinen Irren vor sich zu haben. Vielleicht ein Siebtklässler, der zu viele Computerspiele konsumierte und dadurch in fremde virtuelle Welten abgedriftet war. Man las ja so allerhand über die Gefahren der digitalen Welt. Besonders Jungs schienen in dieser Beziehung recht anfällig zu sein, wusste Lucy.
„Da hinten unter den Felsen, die jetzt allerdings Bäume sind!“, sagte der Junge und deutete wieder in Richtung des Parks.
„Ach“, meinte das Mädchen jetzt. Eine Bemerkung, die nichts anderes als vollkommene Hilflosigkeit ausdrückte, gepaart mit der Vorspiegelung kommender Erkenntnis. „Dann führ' mich doch da mal hin!“, sagte sie dann und dachte bei sich: 'Auf irgendeine Weise werde ich den kleinen Kerl doch wieder zu Verstand bringen.' Außerdem wollte sie den Jungen erst einmal außerhalb der Gefahrenzone des Straßenrandes haben.
Lucy schwang sich ihren, in tiefem Schwarz gehaltenen, Rucksack, der an diesem letzten Schultag zum Glück kaum gefüllt war, über die Schulter und folgte dem unbekannten Knaben, der ihr immer ein paar Schritte voraus war. Langsam ließen sie den Verkehrslärm hinter sich und konnten nun die leise rauschenden Blätter hören, die sich in der leichten Brise bewegten. Ein kleiner Bach, der weiter links in einen Tümpel mündete, der von Entengrütze beinahe zur Gänze bedeckt war, wurde von den beiden auf einem hölzernen Brückchen überquert, dann standen sie vor den zwei riesigen, uralten Eichen, die dem Park seinen Namen gaben.
„Hier, genau hier!“, rief der Junge aufgeregt aus, als sie bei den eindrucksvollen Bäumen angekommen waren. „Hier war das Sieb gespannt gewesen!“.
„Ein Sieb, zwischen Bäume gespannt?“, Lucy wurde allmählich etwas ungeduldig. Mit diesem Geschwätz konnte sie nun überhaupt nichts anfangen.
„Ja, das Sieb, das Gezeitensieb. Es hat mich eingesogen! Ich konnte weder vor, noch zurück! Es war, als ob das Ding mich nicht mehr loslassen wollte. Und überall waren die fiesen Söldner und kämpften erbarmungslos mit meinen Freunden, Wondraczek, dem Wolf und der Bärin Veronica!“
„Ein Wolf und eine Bärin?“, fragte Lucy entgeistert. Der Kleine musste wohl wirklich den Verstand verloren haben, dachte das Mädchen, und Mitleid schlich sich in den Blick, mit dem sie nun Simon bedachte, doch der ließ sich dadurch in keinster Weise stoppen. ‘Das kann nur von diesen MMORPGs kommen. Jungs eben.’ Sie tippte insgeheim auf World of Warcraft!
„Ja, doch! Veronica und Minzbender! Und Wondraczek natürlich! Eben waren sie noch da, und dann zog es mich von ihnen weg!“
„Das Sieb hat dich also von deinen Freunden weggezogen?“ Lucy versuchte, ihrem Tonfall eine beruhigende Note zu verleihen. Sie sprach nun genauso, wie sich in ihrer Vorstellung eine gute Therapeutin anhören sollte. Schon immer hatte sie dieser Berufsstand fasziniert und insgeheim spielte sie mit dem Gedanken einmal eine solche Laufbahn einzuschlagen. Das lag gewissermaßen in der Familie.
„Ja doch, das Gezeitensieb! Ich weiß, kaum jemand hat schon mal etwas davon gehört. Das ist mir schon klar. Schließlich haben wir ja auch schrecklich lange gebraucht, um herauszufinden, wo es sich befindet!“ Der Junge schien immer noch vollkommen neben sich zu stehen.
Unterhalb der alten Eichen befand sich eine Ruhebank für die Bürger von Eschenfeld, die erst seit kurzem in einladendem frischen Grün erstrahlte.
„Beruhige dich, Kleiner“, meinte Lucy dann. „Setz dich doch erst mal hin! Oder besser, streck' dich hier einmal aus und schließe deine Augen!“
Sie redete jetzt schon auf eine Art und Weise, die ihr selbst absolut hypnotisch vorkam. Dies schien jedoch alles keinerlei Wirkung auf die Aufgeregtheit des Jungen zu haben. Immer wieder lief er zwischen den Stämmen der Zwillingseichen hin und her und tastete wie ein Pantomime in der Luft herum. Diese Form künstlerischer Darstellung war Lucy immer schon äußerst befremdlich vorgekommen. Ihre Freundin Sophie, die eine Walldorfschule besuchte, hatte ihr schon einmal ihren Namen vorgetanzt, an diese peinliche Situation erinnerte sie jetzt das Gebaren des Knaben. Daher versuchte sie nun, ihrer Rolle einen professionelleren Anstrich zu geben, setzte sich selbst auf die Parkbank, kramte aus ihrem Rucksack ein schwarzes Notizbüchlein mit rotem Rücken heraus und klickte schon einmal aufmunternd mit dem Kugelschreiber, wie sie es oft bei ihrer Oma hatte beobachten können.
„Nun setz' dich doch endlich mal hin!“, meinte sie dann und fiel mit dieser ungeduldigen Bemerkung sofort wieder aus der Rolle, die sich doch eben erst zurechtgelegt hatte.
„Genau hier war das Sieb! Und jetzt? Nichts mehr! Wo sind denn nur alle hin?“, rief Simon wieder und deutete auf den leeren Raum zwischen den Baumstämmen.
‘Dies schien wirklich ein schwerer Fall zu sein’, dachte Lucy wieder. ‘Das kommt garantiert nur von diesen bekloppten Rollenspielen im Internet. Wenn man den halben Tag lang als virtueller Elf oder Hobbit durch die Gegend strolcht, musste das ja irgendwann einmal böse enden.’
Wie viele Mädchen ihres Alters, konnte sie kaum Verständnis dafür aufbringen, wie ihre männlichen Altersgenossen gemeinhin ihre Tage verbrachten. Ihr war ein gutes Buch allemal lieber, um ihren Eskapismus auszuleben.
„Nun setz dich und beruhige dich erst einmal, Kleiner!“ Sie brachte es durchaus fertig, ihrer Stimme Autorität zu verleihen.
Simon gab es jedes Mal einen Stich, wenn ihn jemand Kleiner nannte, doch diesmal schaffte er es darüber hinwegzusehen, fügte sich endlich seiner neuen Bekannten und ließ sich neben ihr nieder.
„Recht so“, meinte die junge Dame, die augenscheinlich in Trauer war, wie Simon jetzt dachte. Warum sonst würde ein junges, gutaussehendes Mädchen sich so düster kleiden? Lucy kramte erneut in ihrer Tasche, brachte eine große schwarzgerahmte Brille zum Vorschein und schob sich diese dann auf die Nase.
„Also dann, lass dich einfach fallen, Kleiner und erzähl mir, was du auf dem Herzen hast!“
Dies ließ sich nun Simon nicht zweimal sagen und wie ein Wasserfall sprudelte alles aus ihm heraus, was sich in den letzten Wochen seines kurzen Lebens zugetragen hatte. Irgendwann unterbrach der Junge jedoch seinen Redeschwall, als ihm bewusst wurde, dass seine neue Freundin sich auf diese Weise niemals einen Reim auf das Alles machen würde können. So begann er also von Neuem, fing an zu berichten, wie er den Professor kennengelernt hatte, erzählte von der ersten Begegnung mit den Hurveniks, von Wolpertingern und Sternmunkeln und schließlich davon, wie sie das Gezeitensieb gefunden hatten, das ihn anscheinend auf magische Weise an diesen anderen Ort gebracht hatte, an dem er sich jetzt befand.
Trotz der nahezu chronologisch richtigen Erzählweise verstand Lucy sehr wenig von dem, was der Junge ihr auftischte. Merkwürdigerweise jedoch wusste er auf jede ihrer Nachfragen auf der Stelle eine Antwort, die sich logisch mit dem Rest der Geschichte zusammenfügen ließ, und das Mädchen begann langsam, ganz langsam zu erwägen, ihm Glauben zu schenken.
'Vielleicht', dachte sie, 'kommt der kleine Kerl ja tatsächlich aus einer anderen Dimension und irgendein Phänomen hat ihn hierher versetzt'. Dies klang zwar selbst in ihren Ohren absolut unwahrscheinlich, jedoch glaubte sie, schon einmal von einer wissenschaftlichen Theorie gelesen zu haben, die so etwas tatsächlich für möglich hielt. Nicht umsonst lehrte ihr Onkel Heinz schließlich höhere Physik an einer Universität in den Vereinigten Staaten. Ja, hatte sie ihn nicht schon einmal sprechen hören von multidimensionalen Ereignishorizonten? Dann war da noch die String Theorie, alles Mögliche mit Quanten, Quarks und Quarsalen. Irgendwie musste alles, was auch nur irgendwie mit diesem abgefahrenen Zeugs zu tun hatte, anscheinend mit einem Q anfangen. Q wie Quatsch, dachte Lucy, war sich dessen aber nicht mehr so ganz sicher. All dies hatte wohl auch mit Einstein zu tun, mit dem hatte das wohl seinen Anfang genommen. Zu ihrem Glück war sie bisher im Unterricht von der Relativitätstheorie noch verschont geblieben. Aber vielleicht ist das ja gar nicht so uninteressant, wie sie immer gedacht hatte. Sollte dies wirklich möglich sein? Kommt dieser kleine Kerl wirklich aus einer anderen Welt, die neben unserer existierte? Und war das, was er als Gezeitensieb bezeichnete, der Punkt, an dem sich die beiden Dimensionen berührten?
Simon hatte damit begonnen, wieder und wieder um die Stämme der Zwillingseichen herumzulaufen, er schien sich erneut in den aufgeregten Zustand hineinzusteigern, nachdem er zuvor, während er dem Mädchen seine Erlebnisse berichtete, wesentlich ruhiger gewirkt hatte.
„Wie komme ich jetzt nur wieder zurück?“, rief er nun und blickte Lucy mit einem Blick an, aus dem ihr die pure Verzweiflung entgegenschrie.
Was konnte sie darauf nur entgegnen? Konnte so etwas wirklich möglich sein? Sie würde ihren Vater fragen müssen, doch würde der sie nicht für verrückt erklären? Sie wusste nur zu genau, dass Prof. Müllerschön auch über solche abwegigen Theorien Bescheid wissen würde, doch hielt er so etwas für vollkommenen Blödsinn, nur geeignet als Stoff hirnloser Science Fiction Autoren, darüber war sie sich im Klaren. Der gute Onkel Heinz hielt seine Vorlesungen in der Zwischenzeit an der University of Berkeley, das war ja nicht gerade um die Ecke. Vielleicht könnte sie ihn ja einmal anrufen, dachte Lucy, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Wahrscheinlich würde der sich dann auch nur unnötige Gedanken um ihren Geisteszustand machen. Aber was sollte sie nun mit dem Jungen anfangen? Gut, sie könnte ihn in die Notaufnahme bringen, und dann? Wenn in der Sache tatsächlich ein Quäntchen Wahrheit steckte? Dann wäre der Kleine wohl kaum in der Kinder und Jugendpsychiatrie sonderlich gut aufgehoben. Das konnte sie ihm ja wohl nicht antun. Und wenn er doch nur ein armer Spinner war? Lucy überlegte hin und her. Na und, dann wird er eben mein erster Patient, irgendwann muss man schließlich ja anfangen! Langsam aber sicher begann sich ein Plan in ihrem hübschen Köpfchen abzuzeichnen. ‘Eine andere Welt, was für ein Blödsinn!’
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Einige wunderschöne, fast spätsommerlich anmutende Tage waren vergangen auf dem großen Kontinent, der, wie die Wissenschaft seit jeher behauptet, der einzige ist, den das riesige, fest im All verankerte pfannkuchenförmige Gebilde, das die Menschen Erde nennen, hervorgebracht hat. Warum sie die Form ihrer Erde immer als Pfannkuchen beschrieben, war wohl allein der Verfressenheit der Akademiker zuzuschreiben. Hätte man nicht einfach nur von einer Scheibe sprechen können, einem Teller oder Ähnlichem. Nein, es hatte etwas Essbares sein müssen, und dabei war es bis zum heutigen Tag geblieben.
In der kleinen abgelegenen Provinz Hallgard war nur ganz allmählich wieder etwas Frieden eingekehrt, nachdem das Fest zum Ehrentag des Barons Bodo so gründlich danebengegangen war. Man hatte sich so eine Mühe gegeben, den Bürgern wieder einmal ein wirklich köstliches Schauspiel zu diesem Anlass zu bieten. Die Hinrichtung der aufruhrstiftenden Screechies, die die meisten Bewohner der Stadt ja nur von alten Sagen her kannten, wäre ein Machtbeweis gewesen, der die Kritiker der Regierung Bodos jedenfalls hätte für eine Weile verstummen lassen müssen. Und dann? Dann hatte sich wieder einmal alles gegen den Zauberer Soylentius verschworen, der eigentlich die Fäden im Staate in Händen hielt. Und das Schlimmste war, dass die Baronin hinter all dem zu stecken schien. Doch hatte Soylentius zu seinem Leidwesen keinerlei Beweise gegen seine Herrin, die er bei Bodo hätte vorbringen können. So behielt er dies erst einmal für sich, mit dieser Person würde er ein anderes Mal abrechnen müssen, dachte der Zauberer.
Irgendwie war in den letzten Wochen alles, aber wirklich alles, gründlich schiefgegangen. Als ob diese Verschwörung bei Hofe nicht schon schlimm genug gewesen wäre, so war es auch noch einigen Schurken gelungen, das Gezeitensieb zu schließen. Dieses Portal, das ihm solch ungeheuerliche Möglichkeiten eröffnet hatte. Gut, immerhin war es ihm geglückt, bis zu diesem verhängnisvollen Tag, eine Unzahl von Waffen von der anderen Seite herüberzuschaffen. Und die Art dieser Mordwerkzeuge übertraf die technischen Errungenschaften der Welt des Kontinents bei weitem. Wenn es hart auf hart käme, würde er es seinen Gegnern schon zeigen. Soylentius war sicher, dass er mit all dem Material, das er über die letzten Monate angesammelt hatte, mit den richtigen Soldaten sogar das ehemals kaiserliche Heer würde schlagen können. Doch zuerst wollte er sich diese kleine, abgelegene Baronie unter den Nagel reißen, eine Machtbasis musste geschaffen werden, um dann die Hauptstadt und diesen verwunschenen Reichsverweser Puntigam unter Druck zu setzen. Bis dahin war es allerdings noch ein weiter Weg. Darüber war sich der Magister Soylentius durchaus im Klaren. Dennoch sollte dies sein Endziel sein, der Zauberer betrachtete sich selbst als den natürlichen Herrscher über den Kontinent. Eine Idee, die er seit langer, langer Zeit in seinem finsteren Herzen hegte und pflegte, seit er als kleiner Junge von seinen Mitschülern wegen seiner etwas schiefen Nase gehänselt worden war, und diesen Quälgeistern schließlich Mores gelehrt hatte, indem er ihnen ein Pülverchen in die Limonade mischte, das ihnen nicht gut bekommen war.
Genüsslich lehnte sich Soylentius in seinem Sessel zurück, als er sich an diese Begebenheit erinnerte. Als die Burschen, die ihn fünf Minuten zuvor noch mit wüsten Beschimpfungen überschüttet hatten, sich die Bäuche vor Schmerzen hielten, es schließlich der eine oder andre nicht mehr bis zum Abtritt geschafft, und sich buchstäblich in die Hosen geschissen hatte. Das war der Moment gewesen, da ihm bewusst geworden war, wie tatsächliche Macht beschaffen ist. Zwar war er einige Zeit später von den Kerlen böse verprügelt worden, doch hielten sich die meisten ab diesem Zeitpunkt lieber fern von ihm. Er lernte, die ängstlichen Blicke zu lieben, die er in seinem Rückenmark spürte, wenn er von nun an über den Pausenhof ging. Besonders bei den kleineren Knaben hatte er sich einen Respekt verschafft, der beinahe an Ehrfurcht grenzte. Auch war schon zu diesem frühen Zeitpunkt, Soylentius war damals gerade einmal neun Jahre alt gewesen, der Entschluss in dem Jungen gereift, die Laufbahn eines Alchimisten einzuschlagen. Er hatte zwar noch Jahre gebraucht seinen Vater von den Vorteilen einer solchen Karriere zu überzeugen, auch damals schon hatten Alchimisten nicht gerade den allerbesten Ruf genossen, doch hatte der gute Mann schließlich dem drängenden Nörgeln seines Sohnes nachgeben müssen.
Der Zauberer starrte mit einem nachdenklichen, wie festgefrorenen Grinsen in die bläuliche Glut im Kamin. Lugbert und Priscilla, diese beiden Verschwörer würde er auf irgendeine Weise aus dem Weg räumen lassen. Den Hofnarren könnte man wohl zur Not des Nachts in einer stillen Gasse von den Nari Dari einfach um die Ecke bringen lassen. Für die Baronin müsste sich der Zauberer jedoch etwas anderes ausdenken. Und ein Druckmittel hatte er ja schließlich zur Hand, wusste er doch von der Affäre Priscillas mit seinem Neffen Grimmbert, und dieses Wissen würde er nun nutzen müssen.
Aber auch die übrigen Verschwörer machten dem Soylentius Sorgen, sein alter Widersacher Melchidiekes, der sich nun Athanasius von Greifwald nannte, war entkommen, und der Magister glaubte nicht, dass sich sein Erzfeind einfach so aus dem Staub gemacht hatte. Im Gegenteil glaubte er, im Transportkorb des Ballons, mit dem diese verwunschenen Gnome entflohen waren, Melchidiekes erkannt zu haben. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, wie ein Blinder es fertigbringen sollte, solch ein Gefährt einigermaßen zielsicher durch die Lüfte zu steuern, doch war er fast sicher, dass es sich um dessen dickliche Silhouette gehandelt haben musste, die dort oben über den Platz geflogen war. Auch eine andere menschliche Gestalt war mit an Bord des Fluggerätes gewesen, doch hatte Soylentius keine Ahnung, um wen es sich hierbei gehandelt haben konnte. Wahrscheinlich nur so ein armseliges aufrührerisches Helferlein des Blinden. Und dann noch diese Kerle, die auf der Insel Lacrima seine Pläne durchkreuzt hatten! Wie mochte dies nur vonstattengegangen sein? Weybrecht sein treuester Vasall hatte mit seinem Leben dafür bezahlen müssen, und das Gezeitensieb war Soylentius nun verschlossen. Der einzige Trumpf, den der Zauberer in dieser Hinsicht noch im Ärmel hatte, war der Dämon siebten Grades namens Lumpazius Höllenstiebel, und der Kontakt zu diesem Wesen der Unterwelt war immerhin ja nicht gänzlich abgerissen. Er hoffte, dass dieser in der Lage sein würde herauszufinden, wie das Gezeitensieb wieder zu öffnen sein wäre. Dies alles musste mit diesem verwunschenen Jungen zu tun haben. Soylentius hatte längst herausgefunden, wer dessen Mutter war, ließ die Köchin von Süßspeisen bislang jedoch in aller Ruhe ihr Tagwerk verrichten. Doch wenn sich erweisen sollte, dass es von Vorteil wäre, ihr missratenes Früchtchen unter Druck zu setzen, wusste er ja, wie er dies anstellen könnte.
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Nachdem es Höllenstiebel gelungen war, ebenfalls durch das Sieb in diese andere Welt zu gelangen, fühlte er sich die ersten Stunden wie durch die Mangel gedreht. Dies mag für eine körperlose Wesenheit, wie ihn, eine völlig neue Erfahrung gewesen sein, doch wusste der Dämon das so gar nicht zu schätzen. Eine lange Zeit hing sein Bewusstsein in den Blättern der Bäume in dem kleinen Park, in den es ihn verschlagen hatte.
Lumpazius Höllenstiebel konnte sich kaum daran erinnern, dass es ihm schon einmal so schlecht ergangen war. Sein ganzes ätherisches Wesen schien sich schmerzhaft über die gesamte Gartenanlage verteilt zu haben, so kam es dem Dämon siebten Grades zumindest vor. Es war nicht gerade Schmerz, den er verspürte, man hätte keineswegs behaupten können, er verspüre ein Ziehen oder Stechen in irgendeinem abgelegenen Winkel seiner flüchtigen Bewusstheit, doch stellte sich sein Empfinden wohl wie das Äquivalent eines heftigen Katers nach einer durchzechten Nacht dar, bezogen auf die seltsam formlose Existenz eines Untergebenen des Fürsten der Dunkelheit.
Irgendwie schien sich alles um ihn herum zu drehen. Seit Höllenstiebel den Körper des sterbenden Weybrecht verlassen hatte, auch einem Wesen wie dem Dämon war es nicht möglich einen toten Mann durch die Welt zu steuern, waren nur einige wenige Sekunden vergangen, bis er diese fatale Entscheidung gefällt hatte, auf die Öffnung in jene andere Welt zuzusteuern und hinüberzugleiten. Wobei man von einem Gleiten kaum würde sprechen können.
Der Dämon hatte das Gefühl gehabt, dass alles, was sein Wesen ausmachte, in einem Strudel herumgewirbelt worden war, und er nun mit der Aufgabe dastand, aus allen Ecken des Geländes, auf dem er angekommen war, die Einzelteile dieser Wesenheit wieder aufzuklauben.
Als sich Höllenstiebel soweit erholt und nun alle wieder beieinander hatte, wie man sagen könnte, hielt er vergeblich nach dem Jungen Ausschau, der ihm durch das Gezeitensieb vorausgegangen war. Es hatte so ausgesehen, als söge das Tor den Jungen förmlich ein. Wie sich aufstülpende Lippen hatten sich die leuchtenden Fäden um Simon gewunden und ihn anscheinend mit voller Absicht hinübergezogen. Ein Geheimnis, das Lumpazius Höllenstiebel gerne lüften würde. Es kam dem Dämon fast vor, als hätte diese Pforte nur auf das Erscheinen dieses kleinen Kerls gewartet, um sich hernach für alle Zeiten wieder zu schließen. Wenn der Knabe der Schlüssel zum Gezeitensieb wäre, hätte man mit ihm eine nicht zu unterschätzende Macht in den Händen, dachte das Teufelchen. Und wer weiß, vielleicht könnte man diese Macht ja zu weitaus mehr nutzen, als er sich momentan ausmalen konnte. Zumindest schien es nun eine Unmöglichkeit zu sein, wieder zurückzukommen. Er konnte nichts mehr von dem Durchgang entdecken, den er passiert hatte, es war, als ob dieser niemals existent gewesen wäre.
Die dämonische Wesenheit namens Lumpazius Höllenstiebel glitt über die Rasenfläche, ohne den Boden zu berühren. Hätte man genauer hingesehen, hätte man ganz kurz einen kleinen schwebenden Fleck erblickt, der sich nur durch eine etwas dunklere Tönung von der Umgebung absetzte, wie der Schatten eines Schattens. Dazu hätte man aber wirklich ganz genau hinsehen müssen. Der Dämon wollte gerade eine Straße überqueren, wurde jedoch auf der Stelle von einem alten Opel Kadett erfasst und zerstob für kurze Zeit in kleine gräuliche Tröpfchen, die sich jedoch gleich wieder zum Rest seiner Nichtform gesellten, so dass er sich wieder vollständig fühlte.
Die Geschwindigkeit der Beförderungsmittel dieser Welt sollte man wohl besser nicht unterschätzen, dachte Höllenstiebel gerade, als er erneut, diesmal von einem Wohnmobil erfasst wurde, und sich danach schon wieder einsammeln musste. Es schien hier doch ziemlich gefährlich zu sein, einen festen Körper zu besitzen, dachte der Dämon. Andererseits hatte er es doch sehr genossen, wenn es auch nur für einige wenige Stunden war, in der er als Weybrecht van Aken durch die Welt stapfen konnte, einen solchen festen Körper sein Eigen zu nennen. Diese neue Erfahrung, nicht nur Beine, Arme und einen richtigen Kopf zu besitzen, hatte durchaus etwas für sich. Auch mit einem wirklichen Menschen den Geist zu teilen und ihn unter Kontrolle zu bringen, war nun wirklich eine Herausforderung für den Dämon gewesen. Das Ganze hatte durchaus auch eine geradezu erotische Note. Vielleicht wäre es auch jetzt schöner, als Mensch durch die Gegend zu streifen, dachte er. Man würde sich einmal nach einem passenden Exemplar umsehen müssen. Allerdings würde er diesmal vorsichtiger bei der Auswahl sein müssen, die Todeserfahrung, die er gemacht hatte, war nicht gerade angenehm gewesen.
Dann plötzlich erreichte Höllenstiebel die Stimme von Soylentius, damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Es war nun natürlich nicht so, dass Töne in den nicht vorhandenen Ohren des Dämons erklangen, doch irgendwie hatte es der Zauberer, der ihn beschworen hatte, fertiggebracht zu Stiebel durchzudringen.
„Finde den Jungen, oh Dämon aus der Hölle!”, das in etwa war der Inhalt der Botschaft, die Lumpazius erreichte. „Er ist der Schlüssel zur Macht. Bringe ihn zu mir, und wir werden herrschen!”
Obwohl Höllenstiebel längst beschlossen hatte, seine ganz eigenen Ziele zu verfolgen, war er doch noch immer an den Zauberer gebunden. Zumindest war er gezwungen, seinen Befehlen zu gehorchen, obwohl man solche Anweisungen ja auch mal kurzerhand würde missverstehen können. Aber da der Dämon ohnehin den Plan hatte, den Jungen zu finden, änderte sich durch die Einmischung des Zauberers eigentlich nichts. Höllenstiebel wunderte es jedoch sehr, dass es Soylentius fertiggebracht hatte, zu ihm durchzudringen, das Gezeitensieb war schließlich verschlossen. Trotzdem hatte der Zauberer einen Weg gefunden, den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Vielleicht steckte doch mehr in dem verkommenen Subjekt als Höllenstiebel geahnt hatte?
Aber wo mochte der Kleine sich nur befinden? Der Dämon konnte nur hoffen, dass die Pforte diesen nicht womöglich wiederum in einer völlig anderen Welt wieder ausgespuckt hatte. Dann wäre dies wohl alles vergebliche Liebesmüh.
Das Wesen mit dem Namen Lumpazius Höllenstiebel hatte sich wieder zurück in die Parkanlagen begeben und verharrte nun zwischen den zwei riesigen alten Eichen, die wohl schon seit Jahrhunderten an dieser Stelle verwurzelt sein mussten. Da glitzerte etwas auf dem Rasen und der Dämon erkannte einen Dukaten, den das Antlitz von Baron Bodo von Hallgard zierte. Jetzt wusste er zumindest, dass der Junge sich hier irgendwo herumtreiben musste.