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Kapitel 3 Erkenntnisse eines Dämons siebten Grades
ОглавлениеLucy hatte sich, während sie mit dem Jungen durch die halbe Stadt nach Hause gelaufen war, der Kleine hatte sich beharrlich geweigert in die Straßenbahn einzusteigen, eine Geschichte zurechtgelegt, die sie ihrem Vater glaubhaft würde auftischen können, ohne dass dieser sofort bemerkte, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuginge. Simon wäre der Sohn von Schulhausmeister Rolfsen, mit dem sie seit jeher auf gutem Fuß stand, wie ihr Vater wusste. Diese Lüge wollte sie ihm nun präsentieren. Der gute Rolfsen hätte sich den Fuß gebrochen, würde ein paar Tage im Krankenhaus liegen müssen, sie hatte sich angeboten, den Kleinen während dieser Zeit zu verköstigen und dann könne er ja genausogut hier bei ihnen übernachten. Tatsächlich erfreute sich der Hausmeister bester Gesundheit, auch war er alleinstehend, hatte weder Ehefrau noch Kinder, von dieser Tatsache hatte allerdings Dr. Müllerschön keine Ahnung. Er wusste nur, dass Lucy schon seit der sechsten Klasse dem Schulangestellten in den Pausen beim Verkauf von Limonade, Kakao und Backwaren aushalf und sie sich damit noch etwas zu ihrem Taschengeld hinzuverdiente. Ja, Rolfsen, das wäre doch eine Möglichkeit, schoss es Lucy jetzt durch den Kopf. Vielleicht könnte der ihnen auch anderweitig weiterhelfen.
Zuallererst jedoch sollte sie dem Jungen etwas Anständiges zum Anziehen besorgen. Die Klamotten, die der Kleine am Leib trug, waren doch etwas zu auffällig, wie das Mädchen meinte. Simon trug lederne, hellbraune Hosen, ein etwas schmutziges, grobes, graues Leinenhemd und eine grüne Jacke aus einem sonderbaren Material, das aber einen ziemlich wasserdichten Eindruck machte. Wenn man es genau nahm, wirkte Simon auf die Normalbevölkerung von Eschenfeld weitaus normaler als Lucy. Nicht nur das dunkle Cape, das so gar nicht zur sommerlichen Hitze passen wollte, auch der tiefschwarze Lippenstift, den sie aufgetragen hatte, und die Piercings in ihren Ohren trugen dazu bei, dass die Passanten dem ungleichen Paar verwundert nachsahen. Das schien dem Mädchen aber gar nicht aufzufallen und so verfiel sie auf die Idee zuallererst einmal etwas für den Knaben einzukaufen. Auf die Frage, ob er denn Geld bei sich tragen würde, hatte Simon ihr einige rostige Münzen unter die Nase gehalten, die wirkten, als wären sie gerade eben aus einer Museumsvitrine entwendet worden. Damit war wohl nichts anzufangen.
Als die Glastüre der städtischen Sparkasse automatisch zur Seite glitt, erschrak der Junge so sehr, dass sie einige Minuten Überzeugungsarbeit leisten musste, den Knaben dazu zu bringen, über die Schwelle zu gehen. Verwundert nahm Simon dann drinnen alles in sich auf. Die Hauptfiliale der Bank wirkte auf den Jungen wie ein großer kristallener Palast. Verwundert blickte er nach oben, wo sich auf einer Empore Türen zu den einzelnen Büros der Mitarbeiter reihten. Der marmorne Boden war von einer Glätte und Sauberkeit, dass er beinahe seine Gestalt sich darin spiegeln sehen konnte.
Lucy zückte die EC-Karte, die ihr Wolfgang zu ihrem vierzehnten Geburtstag zum Geschenk gemacht hatte, seitdem wurde das Taschengeld auf das Konto seiner Tochter elektronisch überwiesen. Fasziniert beobachtete der Junge, wie das Kärtchen surrend durch den grün schimmernden Spalt in der Apparatur verschwand, alsbald wieder zum Vorschein kam und schließlich weiter unten einige blaue, rötliche und ein grüner Papierfetzen hervorkamen. Damit sollte man bezahlen können? Wo bin ich hier nur hingeraten, dachte der Junge noch, als ihn Lucy vor sich her aus dem Bankgebäude schob.
Wenn die Sparkasse von Eschenfeld den Jungen schon fast überwältigt hatte, mit ihrer glitzernden Sauberkeit, so fiel er kurz darauf aus allen Wolken, als die beiden auf das Einkaufszentrum zusteuerten. Auch hier glitten die Glastüren wie von Zauberhand zurück, er erschrak nur noch ein wenig und musste dieses Mal schon nicht mehr durch gutes Zureden davon überzeugt werden, dass das Weitergehen nicht mit Gefahr für Leib und Leben verbunden war.
In der Kinder und Jugendabteilung eines Kaufhauses wurde Lucy dann schnell fündig, schnappte sich eine Dreierpackung verschiedenfarbiger T-Shirts, eine Jeans, die sie dem Jungen nur kurz anhielt und ‘wird schon passen’ murmelte.
Auch daran ein paar Unterhosen mitzunehmen, dachte das Mädchen. Schließlich fand Lucy noch eine Jeansjacke, in die sie den Jungen schlüpfen ließ, daraufhin schnalzte sie mit der Zunge, rief: „Perfekt!“, und schon waren sie wieder draußen, nachdem sie einen großen Teil ihres Geldes losgeworden war.
Eine halbe Stunde später standen sie vor dem Reihenhaus in der Schumannstraße, das das Mädchen mit ihrem Vater bewohnte. Der alte Opel stand zum Glück noch nicht in der Einfahrt, wahrscheinlich war Prof. Müllerschön noch an der Uni aufgehalten worden, obwohl es doch nun schon beinahe Fünf war. 'Umso besser', dachte das Mädchen und führte den Jungen ins Badezimmer, wo sie auf der Stelle die Hähne aufdrehte und Simon anwies, in die Wanne zu steigen. Der genierte sich zwar ein wenig vor seiner neuen Freundin, fügte sich aber schließlich. Das heiße Wasser, das da ohne jegliches Einheizen aus den Armaturen zischte, versengte ihm beinahe die Füße, und er blieb eine ganze Weile stehen, bis es so weit abgekühlt war, dass er sich zu setzen traute. Der Aprikosenbadezusatz duftete lieblich, und das Zeug mit dem er sich die dreckstarrenden Haare wusch, besaß eher eine männlichere Note. ‘Ob wohl die Mönche im Kloster der Verificienser auch solche Luxusartikel herstellen konnten?’, dachte Simon. Mit diesem Gedanken nickte er, der dampfenden Hitze wegen, einige Sekunden ein.
In den neuen Klamotten wirkte er jetzt viel normaler, wie Lucy fand. Allerdings hatte sie einige Zeit dafür verwenden müssen, das verfilzte Haar des Jungen mit der Bürste zu bearbeiten, bis sie ihm einen recht adretten Scheitel gezogen hatte, der genau zwei Minuten an der Stelle verweilte, an den sie ihn in mühevollster Kleinarbeit gebracht hatte, dann standen dem Knaben die blonden Haare wieder allesamt aufmüpfig wirr vom Kopf ab.
Lumpazius Höllenstiebel versuchte mittlerweile, sich an den Verkehr auf dieser Welt zu gewöhnen. Nach und nach gelang es ihm, ohne all seine Aeromolekügelchen von vorbeirauschenden Fahrzeugen in alle Winde verstreuen zu lassen, eine Fahrbahn zu überqueren. Gerade durchstreifte er die technische Abteilung eines Kaufhauses im City Center, als er auf einen geradezu diabolischen Lärm aufmerksam wurde. An die fünfzig Bildschirme waren an den Wänden vor ihm aufgereiht, die alle die gleichen, bewegten Bilder zeigten.
Köpfe zuckten ekstatisch, verfilztes Haar wurde hin und her geworfen zu einem stampfenden Rhythmus, der sogar einem Dämon siebten Grades ins Blut gehen musste, wenn er so etwas denn besessen hätte. Eine Gruppe junger, langmähniger Mannsgestalten promenierte lasziv über eine riesige Bühne, im Vordergrund wanden sich die Leiber der Verfluchten, so Höllenstiebels Interpretation des Geschehens. Diese Welt fing an, ihm mehr und mehr Spaß zu machen.
Schon auf dem Weg in dieses Einkaufparadies hatte er ganz genau die Menschen beobachtet, die, ohne seine Wesenheit zu bemerken, an ihm vorbeigekommen waren. Die meisten von ihnen zeichneten sich durch einen derart leeren Gesichtsausdruck aus, dass man hätte meinen können, hier strolchten nur untote Wiedergänger durch die Gassen. Trotz des sonnigen Wetters und der angenehmen Temperaturen schienen die Leute nichts von der Schönheit der Welt wahrzunehmen. Wie aufgezogene Püppchen setzten sie ein Bein vor das andere, jeder hatte einen wichtigen Auftrag zu erfüllen und nicht das kleinste Quäntchen Zeit, um seiner Umwelt Aufmerksamkeit zu schenken. Insbesondere die Jugend wirkte durchaus zombiehaft auf den Dämon. (Mit Zombies hatte Stiebel schlechte Erfahrungen gemacht, ständig waren diese Durchreisenden der Unterwelt in Eile, so schnell wie irgend möglich, wollten sie wieder nach oben, um ihren ehemaligen Mitmenschen, die Gehirne zu stehlen, um sie dann ebenso schnell hinunterzuwürgen. Schreckliche Kerle, immer rempelten sie einen an, eine vernünftige Unterhaltung war kaum möglich, nicht mal für ein wenig Small Talk hatten sie Zeit).
Der Großteil der Teenager, die dem Dämon entgegentappsten, je näher er dem City Center kam, starrte wie hypnotisiert auf die kleinen leuchtenden Geräte, die sie ausnahmslos in Händen hielten, oder tippten mit Daumen und Zeigefingern auf die seltsamen Gerätschaften ein, als wäre dies das Wichtigste auf der Welt. Der Dämon konnte sich das Äquivalent eines lauten Lachens nicht verkneifen, als einer von ihnen gegen einen an der Hausmauer befestigten, gelben Postkasten stieß, sich entschuldigte, und dann weiterlief.
'Die sind ja alle vollkommen durch den Wind, hier werde ich wohl leichtes Spiel haben, mir einen neuen Körper zu ergattern', dachte er amüsiert.
Und jetzt noch diese fast höllisch zu nennende Musik, die aus den Lautsprechern dieser sogenannten 'TV Geräte' drang. Phänomenal! Der Videoclip des Konzertes neigte sich dem Ende, der Leadsänger der Band formte mit Daumen und kleinem Finger das Zeichen des Höllenfürsten, und der Dämon war nun endgültig überzeugt davon, dass diese Welt wesentlich leichter zu unterjochen sein würde, als diejenige, aus der er gekommen war.
Als Dr. Müllerschön an diesem Nachmittag nach Hause kam, fand er neben seiner Tochter einen jungen Herrn vor und dachte schon das Schlimmste. Dann fiel ihm auf, dass der Junge doch mindestens zwei Jahre jünger als Lucy sein musste und dies beruhigte ihn nun wieder. Mädchen in diesem Alter würden sich wohl eher mit Rabauken einlassen, die einige Jahre älter wären, als sie selbst; sagt man dem weiblichen Geschlecht doch nach, ihren männlichen Altersgenossen immer eine Nasenlänge voraus zu sein. Er hatte nichts dagegen, den Jungen für ein paar Tage bei sich aufzunehmen, schließlich waren jetzt große Ferien und Lucy konnte sich ja um den Knaben kümmern. Wolfgang Müllerschön machte sich keine besonderen Gedanken mehr über die Sache und ließ sich die Spaghetti mit Tomatensauce schmecken, die sein Töchterlein zubereitet hatte. Da würde ja für ihn auch noch mal ein Abendessen herausspringen, wenn sich Lucy schon so mütterlich um diesen Simon kümmerte, dachte er nur. Oft kam es nämlich nicht vor, dass sich die Tochter dazu herabließ, sich hinter den Herd zu stellen, meist erwiderte sie nur auf einen solchen Vorschlag von väterlicher Seite: „Ich bin schließlich eine emanzipierte Frau!“, und drehte dem Vater die Kehrseite zu, worauf dieser meist nichts zu erwidern wusste und dann kopfschüttelnd zu Tiefkühlpizza griff. Er wunderte sich nur darüber, wie der Junge versuchte die Nudeln zu vertilgen. Er stellte sich an, als hätte er noch niemals zuvor in seinem Leben Spaghetti gegessen. Na, ja immerhin kommt er aus der ostfriesischen Provinz, vielleicht war die italienische Küche so weit nach Norden noch gar nicht vorgedrungen, dachte Wolfgang.
Simon wäre beinahe noch der Kopf in den Teller gefallen, so erschöpft fühlte der Junge sich plötzlich. Auch Lucy bemerkte nun, dass der Kleine äußerst mitgenommen wirkte. Für seine zwölf Jahre sah er plötzlich schon fast wie erwachsen aus, als sich die Müdigkeit auf seinen Zügen zu zeigen begann. Er musste wohl ganz schön was mitgemacht haben, dachte sie. Außerdem hatte er das gelbe T-Shirt schon derart mit roter Sauce bekleckert, dass es gleich gewaschen werden musste. Zur Not hätte sie auch noch ein paar schöne rosa Hemden in ihrem Kleiderschrank, die sie nicht mehr trug. Darin würde er bestimmt auch sehr adrett aussehen.
Schnell verfrachtete sie den Kleinen nach oben ins Gästezimmer, das neben ihrem lag. Kaum hatte sein strubbeliger Kopf die Kissen berührt, war Simon auch schon eingeschlafen.
Lange noch blieb Lucy wach in dieser Nacht, nachdem sie einiges im Internet über multidimensionale Welten, schwarze Löcher und Kinderpsychologie recherchiert hatte. Nach und nach legte sich das Mädchen einen Plan für den morgigen Tag zurecht, in dem Hausmeister Rolfsen, wie auch Oma Jablonski eine Rolle spielen würden. Ja, Oma Jablonskis Hilfe würde sie auf jeden Fall in Anspruch nehmen müssen, um herauszufinden wie es mit dem Jungen bestellt war. Dr. Müllerschön wunderte sich etwas über das frühzeitige Zubettgehen seiner Tochter, auch fand er merkwürdig, dass keine Musik zu hören war an diesem Abend, wo doch sonst, kaum war das Mädchen nach oben entschwunden, das Getöse losging. Er hatte so gar kein Verständnis für die musikalischen Vorlieben seiner Tochter. Paradise Lost war für ihn immer noch Dante Alighieri, Nightwish erinnerte ihn immer an äußerst schlechte Opernaufführungen und Anathema musste irgendetwas mit Religion zu tun haben. Diese Bands heutzutage. Er konnte einfach keinen Bezug dazu finden. Für ihn hatte es nach den Beatles eigentlich gar keine Musik mehr gegeben, allerdings gefiel ihm der düstere Heavy Metal, den Lucy jetzt konsumierte immer noch besser als das Top Ten Radio, das zu ihrer rosafarbenen Zeit beständig durchs Haus gedröhnt war.
Ja, es gefiel Lumpazius Höllenstiebel immer besser auf dieser Welt, vielleicht würde er sich hier niederlassen, überlegte er. Doch musste er zuerst die Stricke lösen, mit denen er immer noch an die Welt des Kontinents gebunden war. Soylentius, der ihn beschworen hatte, musste diese Bande lösen, so lautete das Gesetz, und dies würde der Dämon nur erreichen können, indem er ihm diesen kleinen Jungen zurückbrachte, dann erst konnte er die Forderung stellen, von seinem Dienst entbunden zu werden; und der Zauberer würde sich nicht herausreden können, wenn Höllenstiebel den Jungen als Pfand hatte.
So langsam reifte ein Plan in dem Dämon siebten Grades. Er musste nur noch den Knaben aufspüren. Außerdem würde er einen Körper benötigen, der ihm gestattete, Nachforschungen über den Verbleib des kleinen Kerls anzustellen. Zudem wäre es ein wahres Vergnügen, sich wieder in einem festen menschlichen Leib breitzumachen.
Er befand sich nun wieder in der kleinen Parkanlage, in der er hier auf dieser Bildschirmwelt, wie er begonnen hatte sie zu nennen, angekommen war. Hier stand eine Bank, auf der vor kurzer Zeit erst der Junge und seine neue Freundin gesessen hatten, was der Dämon allerdings nicht ahnte. Leider konnte sich Höllenstiebel im eigentlichen Sinne nicht setzen, da er ja noch nicht über dasjenige Körperteil verfügte, das ein Sitzen erlauben würde, seine Aeromolekügelchen schwebten irgendwo zwischen den Zweigen der uralten Zwillingseichen. Er blickte aus seiner erhabenen Position hinunter auf das erst vor kurzem gemähte Gras, und wieder leuchtete ihm die goldene Dukate entgegen. Dann machte es einmal kurz ‚Klack‘ in seinem ebenfalls nicht vorhandenen Gehirn, merkwürdigerweise war dieses Geräusch wirklich zu hören gewesen, wie Höllenstiebel bemerkte. Eine alte Dame schien seine wabernde Wesenheit mit ihren Blicken zu verfolgen, zuckte dann aber mit den Schultern und ging ihres Weges.
„Ein Hund, ein Hund! Ein Königreich für einen Hund!“, deklamierte der Dämon in Gedanken, nicht ahnend, dass er hierbei beinahe einen Dichterfürsten dieser neuen Welt zitierte. Das war eine großartige Idee, fand Lumpazius Höllenstiebel, darauf sollte erst mal einer kommen.
Er löste seine Teilchen aus dem Geäst, das ihm keinerlei Widerstand entgegensetzte, und machte sich auf die Suche nach einem dieser treuherzig blickenden Vierbeiner, die er ansonsten aus tiefstem Herzen, wenn er denn über ein solches lästiges Ding verfügen würde, verabscheute. Der Abend brach langsam an in Eschenfeld. Die meisten Menschen waren mittlerweile von ihren Arbeitsplätzen wieder in ihre Häuser und Wohnungen zurückgekehrt und machten es sich nun Zuhause gemütlich. Einige besonders geplagte Exemplare jedoch hatten am frühen Abend noch eine lästige Pflicht zu erfüllen. Ein Ritual, das man gemeinhin als Gassigehen bezeichnete und das meist in öffentlichen Parkanlagen praktiziert wurde.
Bald sah das dämonische Wölkchen unter sich einen ersten Kandidaten. Die Dogge, die eine aufreizend gekleidete Blondine hinter sich her zog, schien Höllenstiebel jedoch zu auffällig zu sein. Nein, er würde ein kleineres Tier bevorzugen, dort drüben, nein schon wieder so ein Koloss, ein junger Mann führte einen irischen Wolfshund über die kleine Holzbrücke am Rand des Parks. ‘Ein kleiner Hund, ist das denn zuviel verlangt?’, fragte sich der Dämon siebten Grades eben, als ein Mütterchen auftauchte, das einen Jack-Russel-Terrier an der Leine führte. Das schien genau das Richtige zu sein.
Der Dämon besann sich nicht großartig, schwebte über den lila verfärbten Kopf der alten Dame hinweg auf den kleinen Köter zu und vermischte seine Teilchen mit denen des Tieres.
‘Ah, endlich wieder Leben spüren, wie gut das tat!’ Das Bewusstsein des Hundes widerstrebte nur kurz der feindlichen Übernahme durch den Dämon, nur schwach erwachte der Widerstand im Kopf des Tieres, dann fügte es sich brav dem Willen Höllenstiebels, und fing böse an zu knurren. Das Frauchen blickte auf ihren treuen Begleiter hinunter und meinte nur: „Aber, was ist nur mit dir, Gizmo?“ Wieder knurrte das Tier, dieses Mal weitaus lauter.
„Aber Gizmo, ist doch gar kein anderer Hund in der Nähe!“, sprach die alte Dame sanft und sah sich nach allen Seiten um. „Noch nicht mal der böse Paul von Schmidts. Ich weiß gar nicht, was mit dir los ist?!“ Der Hund schien sich aber gar nicht mehr beruhigen zu wollen. Jetzt fing er auch noch zu bellen an, und es schien dem Frauchen, als funkele sie das Tier nun aus bösen Augen an.
„Gizmo, aus!“, schrie die Frau, der Hund kam ihr auf einmal vor wie besessen, sie wusste gar nicht, wie recht sie mit dieser Vermutung eigentlich hatte. „Jetzt ist es aber auch mal gut!“
Das Tier hatte begonnen wie verrückt an der Leine zu zerren, wobei er sich jedoch über die Richtung, in die er wollte, nicht einig werden konnte. Mal zog er nach links, dann wieder nach rechts, dann schien es der alten Dame, als wollte das Tier einfach nur wieder zurück nach Hause.
Gizmo wusste aber selbst nicht genau, wohin es ihn denn zog. Das Tier wollte im Grunde nur eines, sich verkriechen, am besten an dem dunkelsten Platz, den es finden konnte. Doch der Großteil seines Willens gehörte schon nicht mehr ihm selbst. Irgendetwas zwang ihn nun, sich auf die Hinterbeine zu stellen und wie ein Wolf aus voller Kehle zu heulen. Frauchen wurde es dabei immer unheimlicher zumute. Was war nur mit dem Tier? Hatte er etwas Schlechtes gegessen? Man hörte ja immer wieder mal von Idioten, die vergiftetes Futter in Parkanlagen ablegten, weil sie aus irgendeinem Grund Hunde einfach hassten, wahrscheinlich weil sie einmal in einen Haufen getreten waren, und dieses Trauma nicht überwinden konnten.
Die alte Dame beugte sich hinunter zu ihrem vierbeinigen Gefährten, murmelte beruhigende Worte und wollte dem Tier den Kopf tätscheln, da biss es sie auch schon in die ausgestreckte Hand. Sie schrie auf, ließ die Leine los, die sie in der anderen Hand gehalten hatte, und starrte entsetzt auf die blutende Bisswunde. Der Jack-Russell sprang sofort los, die Leine hinter sich herziehend, und war kurz darauf im Dickicht einer Buchenhecke verschwunden.
Gizmo wusste nicht, was da mit ihm vorging. Der arme Hund konnte sich in seinem kleinen Hirnkästlein etwas wie einen Dämon, der von ihm Besitz ergriffen hatte, natürlich unmöglich vorstellen. Nichtsdestoweniger spürte das Tier, dass irgendetwas ganz und gar in Unordnung geraten war, seine Sinne schienen nicht mehr ihm zu gehören, wenn er, was sich bei Hunden im Allgemeinen ja alle paar Sekunden ereignete, einen interessanten Geruch in die Nase bekam, wäre er nur zu gerne auf diese Verlockung zugesprungen und hätte diese dann ausgiebig untersucht. Besonders dort, wo viele seiner Artgenossen Tag für Tag entlangspazierten, gab es immer etwas Neues zu erfahren, es geht Hunden da nicht anders als den Lesern minderwertiger Gazetten, die morgens um halb sieben, nicht ohne solch ein Blatt erwerben zu müssen, am Kiosk vorbeigehen können. Gerade jetzt, da das Tier im Gebüsch den wundervollen Duft einer läufigen Hündin riechen konnte, hätte es am liebsten auf der Stelle diese Fährte verfolgt, doch hielt ihn irgendetwas davon mit aller Gewalt ab. Dass er soeben sein Frauchen böse in die Hand gebissen hatte, darüber war sich das Tier schon gar nicht mehr bewusst, viel mehr beschäftigte Gizmo, dass er einfach nicht mehr in der Lage war dorthin zu laufen, wohin es ihn so drängend zog.
Höllenstiebel hatte einige Schwierigkeiten den Geist des Jack-Russell unter Kontrolle zu bringen. Das war ja schlimmer als bei Weybrecht van Aken! Wie konnte es möglich sein, dass ein solch dummes Tier ihm so viel Widerstand entgegensetzte? Hätte der Dämon mehr über die Halsstarrigkeit dieser besonderen Rasse gewusst, wäre ihm einiges klar geworden. Nach und nach jedoch füllte die Wesenheit das Bewusstsein des Hundes ganz und gar aus, und sie konnte nun bestimmen, wohin sich das Tier wendete, nur ein ganz winziges Stückchen Gizmo steckte noch in entfernten Synapsenwinkeln des Vierbeinerhirns. Diesen kleinen Rest würde Höllenstiebel allerdings auch benötigen, sonst würde der Geruchsinn des Tieres aufhören zu funktionieren.
Der Dämon beschloss noch eine Weile, bis es ganz dunkel geworden war, in dem dichten Gebüsch auszuharren, zumindest so lange, bis die alte Dame endlich die Suche nach ihrem vierbeinigen Begleiter aufgegeben hätte. Immer wieder drangen die 'Gizmo, Gizmo‘ Rufe an die noch ganz unvertrauten Hörorgane des Dämons. Würde die denn nie Ruhe geben, dachte er, während ein winziger Teil von ihm nur zu gerne zurück zu seinem Frauchen gelaufen wäre, es aus treuen braunen Augen verzeihungsheischend angeblickt und um Vergebung für sein ungebührliches Verhalten gebeten hätte.
Endlich war die Sonne untergegangen, die Lampen, die die Wege der Parkanlagen beleuchteten, hatten sich eingeschaltet und Höllenstiebel traute sich aus seinem Versteck. Der Jack-Russell schlug mit eingezogenem Schwanz die Richtung ein, in der Höllenstiebel die schimmernde Dukate gefunden hatte. Er schnüffelte an dem im Laternenlicht schimmernden Ding und sog den Geruch ein. Es bedurfte keinerlei Anstrengung sich die Duftnote des Jungen einzuprägen, dies machte der Hundeverstand schon von ganz alleine. Er hob die kleine Schnauze und schlug dann trottend eine Richtung ein, die ihn, so hoffte der Dämon, zu Simon bringen würde.
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Fribbeldropp hatte sich drei Tage nach der Befreiung der Hurveniks zum ersten Mal wieder zurück nach Hallgard hinein getraut. Eigentlich hätte er baldigst wieder den Dienst in der neunten Kompanie antreten müssen, die nun insbesondere für die Aufrechterhaltung des nächtlichen Ausgehverbots zuständig war. Nach all dem, was der junge Soldat nun allerdings vom Professor über die Machenschaften des Magisters Soylentius gehört hatte, war der junge Mann nicht mehr sicher, ob er noch in einer Truppe dienen wollte, die mehr oder minder schon diesem Schurken unterstand. Schweren Herzens hatte er sich daher dazu durchgerungen, künftig als Deserteur durchs Leben gehen zu müssen. In der momentanen Verfassung der hallgardensischen Armee fiele allerdings ein Abtrünniger mehr oder weniger kaum mehr auf. Schon als die neunte Kompanie von zahlreichen ausländischen Söldnern infiltriert worden war, hatten einige der altgedienten Haudegen die Truppe verlassen, meist ohne sich in irgendeiner Form abzumelden. Nach diesen Fahnenflüchtigen wurde, soweit Fribbeldropp dies einschätzen konnte, wenn überhaupt, nur halbherzig gesucht, und so machte sich der Sergeant kaum Sorgen in den Straßen der Stadt aufgegriffen und anschließend vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Soylentius hatte die Anweisung herausgegeben, diese Affären unter den Teppich zu kehren, er wollte sich nicht noch mehr Feinde in Form von einstmals einflussreichen Offizieren und deren Familien machen, besaß er doch schon Gegner zur Genüge. Solcherart politischer Ränkespiele konnte er im Augenblick auf gar keinen Fall gebrauchen, besser war es diese alteingesessenen, ehrwürdigen Häuser gäben Ruhe. Selbst Baron Bodo würde sich nicht dazu durchringen, Angehörige von Familien abzuurteilen, die schon seit Generationen dem Fürstenhaus der Etzelberts treu gedient hatten. Aus diesem Grund hatte Soylentius Sorge getragen, dass von all dem möglichst nichts dem Baron zu Ohren käme. Zum Glück für den intriganten Alchimisten war Bodo meist mit seinem Hobby, dem Funzelballspiel beschäftigt, und so drang von derlei Angelegenheiten beinahe gar nichts zu ihm durch.
Nun hätte Fribbeldropp sich doch zumindest davor fürchten müssen als einer der Insassen des Fluggerätes erkannt zu werden, mit dem die kleinen Übeltäter vom Richtplatz entführt worden waren, doch glaubte der, jetzt ehemalige, Soldat kaum, dass ihn jemand in dieser luftigen Höhe hatte erkennen können. In Hallgard kannte ihn jedermann schließlich nur in der Uniform der fürstlichen Garde und wie es so schön heißt 'Kleider machen Leute', dachte der Sergeant.
All dies war Athanasius vollkommen bewusst, als er Fribbeldropp in die Stadt schickte, um die Lage zu sondieren. Seit sie sich im Jagdhaus des Barons sechs Meilen von Hallgard entfernt und von dichtem Wald umgeben, eingerichtet hatten, waren nun schon fünf Tage vergangen. Baroness Priscilla würde sich fürs Erste hier hinaus nicht wagen können, ahnte doch Soylentius, welche Rolle sie bei der Befreiungsaktion gespielt hatte, und es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass der Alchimist sie überwachen lassen würde. Und der verfügte über einen Trupp von Leuten, die dies so unauffällig machen konnten, dass ihr niemals aufgefallen wäre, wenn sie verfolgt würde. Die Nari Dari, denen Soylentius Unsummen für ihre treuen Dienste zahlte, waren auf dem ganzen Kontinent dafür bekannt, lautlos und unbemerkt alle Operationen ausführen zu können; übrigens wurde der Lohn dieser schleicherischen Meuchelmörder selbstverständlich in alter Münze ausbezahlt, würde sich das Geld später als wertlos erweisen, wäre es sehr schnell, selbst um den mächtigen Zauberer Soylentius, geschehen gewesen. Mit den Kerlen war wirklich nicht zu spaßen.
Fribbeldropp war froh gewesen, endlich wieder einmal Stadtluft atmen zu können nach den Tagen im Wald, allerdings hatte er vollkommen vergessen, wie es seit einiger Zeit in Hallgard so zum Gotterbarmen stank. Dies wurde ihm, je näher er dem Stadttor gekommen war, eindringlich wieder ins Gedächtnis gerufen. Mit jedem Schritt wurde er langsamer und langsamer, und das lag keineswegs an dem langen Fußmarsch, den er hinter sich hatte. Wie hatte er es nur all die Wochen hier aushalten können, er musste sich den Kragen seines blau- gestreiften Hemdes lockern, sonst würde er endgültig keine Luft mehr bekommen, dachte der Soldat, als der Fribbeldropp sich immer noch sah. Ach, wie vermisste er doch seinen bequemen Kampfanzug! Würde er sich je an das Leben als Zivilist gewöhnen? Seit frühester Jugend war schließlich das Militär seine Heimat gewesen; um nicht aus der Menge der Bauern und Bürger herauszustechen, hatte er sogar darauf verzichtet seinen geliebten Degen an der Seite zu tragen. Fribbel kam sich nun tatsächlich nackt vor, wie er so durch die belebteren Straßen von Hallgard spazierte. Er hoffte insgeheim, es würden auch wieder bessere Zeiten heraufziehen, wenn man erst einmal den Magister Soylentius losgeworden war. Das Tragen von Waffen jeglicher Art war, seit dem Aufruhr vor beinahe einer Woche, ohnehin unter Strafe gestellt worden. Nur die Garde und das Militär waren dazu berechtigt; eine der vielen Maßnahmen, die dazu dienen sollten, die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Nach der Befreiung der Hurveniks war es noch zu kleineren Scharmützeln zwischen den Gardisten und aufmüpfigen Bürgern gekommen, was dann auch die Verordnung der nächtlichen Ausgangssperre ausgelöst hatte. Einige Burschen hatten anscheinend nur auf die Gelegenheit gewartet, der Obrigkeit zu zeigen, was sie von ihr hielten, die Frustration in der Bürgerschaft hatte sich Bahn gebrochen, und etliche der Söldner waren in einen Hinterhalt gelockt und böse zugerichtet worden, wie Fribbel jetzt erfuhr, als er dem Tratsch der Marktweiber lauschte.
Der Sergeant hoffte insgeheim, solange er sich hier in der Stadt aufhielt, noch einmal mit Amelie zusammentreffen zu können. Auf irgendeine Weise würde er ihr ein Stelldichein vorschlagen müssen, dachte er und hielt auch schon Ausschau nach einem der Lausebengel, die sich normalerweise immer in der Nähe der Marktstände herumtrieben, um diesen damit zu beauftragen eine Nachricht nach oben in die Festung zu bringen. Endlich fand er auch einen, der einen einigermaßen vertrauenerweckenden Eindruck machte, steckte ihm den Zettel zu und wies ihn an, diesen nur der Zofe der Baronin persönlich auszuhändigen. Er möge sich hier an dieser Stelle am nächsten Tag um dieselbe Stunde mit ihm wieder treffen und würde nach erledigtem Auftrag dann den Rest seiner Belohnung erhalten.
In der Zwischenzeit wollte Fribbeldropp hinaus ins Rotlichtviertel wandern, um noch einige Aufzeichnungen und ein paar wenige wissenschaftliche Instrumente aus der alten Schusterwerkstatt holen, die der Professor vergessen hatte mit an Bord des Ballons zu nehmen. Der Weg bis dorthin wurde ihm lang, er glaubte inzwischen schon Plattfüße zu haben, nach all dem Gelatsche. Obwohl er als Soldat das Marschieren doch gewohnt sein sollte, hatte er das Gefühl, dass seine enormen Quanten inzwischen von Blasen übersät sein mussten.
Aus Vorsicht schlich er zuerst einige Male um das alte Gebäude herum, ohne die Absicht dort einzutreten vermuten zu lassen. Man konnte nicht wissen, ob die Garde inzwischen dahintergekommen war, von wo aus das Fluggerät, das so viel Chaos ausgelöst hatte, aufgestiegen war. Wirklich waren auch hier im Viertel Erkundigungen eingezogen worden, doch war man wie immer auf eine Mauer aus Schweigen gestoßen. Befragte ein Polizist irgendeinen aus dieser Gegend, konnte er froh sein, wenn er überhaupt eine Antwort bekam, allerdings konnte man mit diesen kärglichen Informationen nur in den allerseltensten Fällen etwas anfangen. Mit den Vertretern von Recht und Gesetz redete man im Grunde nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wollte doch niemand in den Verdacht geraten ein Spitzel zu sein. Wenn wirklich einmal ein Hinweis auf den Urheber eines Verbrechens gegeben wurde, konnte man sicher sein, dass es der Besagte niemals begangen haben konnte, da es sich entweder um einen längst Verstorbenen handelte, oder aber um das Kaninchen von Frau Kempowski, das nur zufälligerweise den Namen Otto trug, wie auch der Übeltäter nach dem gefahndet wurde.
Nach der dritten Runde kletterte Fribbeldropp auf einen, an der Hecke zum Grundstück stehenden, Apfelbaum und sprang hinüber in den Garten, nicht ahnend, dass wenige Tage zuvor ein eifersüchtiger Liebhaber mit Namen Grimmbert, ihn selbst von diesem Baum aus beobachtet hatte. Auf dem Grundstück lagen noch die großen Felsbrocken mit den Resten der Taue auf dem Rasen, die den Ballon am Boden gehalten hatten. Die Terrassentür stand immer noch sperrangelweit offen, so wie sie zurückgelassen worden war, und Fribbeldropp raffte schnell die paar Dinge zusammen, die ihm der Professor aufgetragen hatte mitzubringen, und begab sich dann auf demselben Weg wieder zurück auf die Straße, mit dem Unterschied, dass er nun noch eine große lederne Tasche mit sich führte.
Es war noch nicht viel los hier im Viertel, musste Fribbel feststellen, obwohl es Samstag war. Hier wurden ja meist erst nach Anbruch der Dunkelheit die Straßen belebter. Er war kaum dazu gekommen, in den Tagen, in denen sie hier ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, nähere Bekanntschaft mit den direkten Nachbarn zu machen. Nur ein paar Häuser weiter, wenn man aus der Sackgasse herausging, in der die Schusterwerkstatt lag, befand sich Pampfnagels Mietstall. Mit dem besagten Meister Pampfnagel war Fribbel dann doch einige Male ins Gespräch gekommen. Meist war es nur um das immer schlechter sich aufführende Wetter gegangen, den unerträglichen Gestank, der über der Stadt dräute, oder die Qualität des Mittagstisches in der Taverne um die Ecke, doch hatte der Sergeant den Eindruck gewonnen, dass ein oppositioneller Geist im kantigen Schädel des Mietstallbetreibers und Hufschmieds wohnte. Ein Hämmern von Stahl auf Eisen ertönte aus dem kleinen Anbau neben dem Stall, und Fribbel beschloss, Meister Pampfnagel einen Besuch abzustatten.
Wirklich war der Schmied drinnen bei der Arbeit. Wie so oft hämmerte er auf seinem kleineren Amboss, das Ding mochte allerhöchstens eine halbe Tonne wiegen, ein leuchtend rotes Hufeisen in die passende Form. Das Flackern des Feuers verlieh den Zügen des Schmieds ironischerweise etwas diabolisches, Fribbel hatte kaum einmal jemanden getroffen, der so wenig Boshaftigkeit in seinem Herzen zu tragen schien, wie Pampfnagel.
„Hey, Meister Pampfnagel, wie geht’s, wie steht’s!“, rief Fribbeldropp ins Zwielicht der Werkstatt hinein, worauf der Riese sich nun langsam umdrehte. Die Statur des Schmieds war schon enorm, er übertraf an Größe die meisten seiner Mitmenschen bei weitem, nur die langen Kerls von der ehemals kaiserlichen Garde erreichten eine solche imposante Höhe. Von dieser Höhe sah nun Pampfnagel herab und erblickte voller Verwunderung den Sergeanten.
„Fribbel, das ist ja eine Überraschung!“, meinte er daraufhin und ließ den Schmiedehammer in seiner Faust langsam sinken; man konnte sofort die wahrhaftige Freude über das unverhoffte Wiedersehen auf seinen Zügen erkennen, obwohl sich Pampfnagel ansonsten gerne als mürrischer Zeitgenosse präsentierte. „Wo warst du denn nur hin verschwunden?“
„Ach, Geschäfte, Geschäfte“, entgegnete Fribbel ausweichend.
„Was heißt hier Geschäfte. Bist du etwa nicht mehr in der Armee?“, fragte der Schmied und hielt dem Ex-Soldaten seine schmutzige Rechte hin.
„Gut erkannt“, meinte Fribbeldropp, „Ich habe meinen Abschied genommen, ganz ohne Zapfenstreich, wie ich hinzufügen möchte.“
„Sag bloß, du bist getürmt? Das könnte ich dir nicht verübeln, wirklich nicht!“ Man hielt, wie schon erwähnt, hier im Rotlichtbezirk allgemein nicht viel von der Garde und dem Militär.
„Könnte man so sagen, aber erzähl es nicht herum!“, sagte der Sergeant, der kein Sergeant mehr war, mit ernster Miene.
„Aber du hieltest doch so große Stücke auf die Truppe, dachte ich?“
„Ach, eine lange Geschichte, es ist eben nicht mehr alles so, wie es einmal war!“
„Ah, das sage ich doch schon die ganze Zeit. Es wundert mich, dass du jetzt erst auf den Trichter gekommen bist!“, grinste der Schmied breit.
„Ich gebe ja gerne zu, dass nicht mehr alles zum Besten steht. Besonders seitdem die fremden Söldner in die Armee aufgenommen wurden! Eine üble Bande von kriminellen Elementen, kann ich dir sagen!“
„Na gut, aber kriminelle Elemente gibt’s auch hier zur Genüge!“, meinte Pampfnagel in Bezug auf das Viertel, in dem er seine Wohnstätte hatte.
„Das ist eine ganz andere Sorte. Die schrecken wirklich vor gar nichts zurück!“, erklärte Fribbeldropp und dachte dabei an die Kameraden, die mit den Söldnern aneinandergeraten waren, und denen dies allesamt nicht gut bekommen war.
„Hast du denn vor hierzubleiben und dich endgültig hier einzurichten?“, fragte der Schmied, der wusste, dass Fribbeldropp in das alte Haus des Schusters eingezogen war, das zuvor geraume Zeit leergestanden hatte.
„Ich weiß noch nicht genau!“, meinte der Angesprochene darauf. „War denn die Gendarmerie da und hat das Anwesen durchsucht, als ich fort war?“, fragte er dann zögerlich.
„Ach wo, wo denkst du hin!“, sagte Pampfnagel daraufhin und fuhr mit verschwörerisch gesenkter Stimme fort. „Wir haben hier allesamt nichts gesehen von einem Ballon, der in die Lüfte aufgestiegen ist, oder ähnliches. Niemand hat auch nur irgendetwas gesehen. Darauf kannst du dich verlassen!“
Dem Sergeanten stockte der Atem. Dass ihr Abflug von jemandem bemerkt worden war, darüber war er sich im Klaren gewesen. Doch schien anscheinend jedermann über die gesamte Aktion Bescheid zu wissen.
„Das war aber auch ne tolle Show, das muss ich schon sagen!“, meinte Pampfnagel anerkennend. „Ich hab' mir alles aus nächster Nähe angesehen und wenn du glaubst, ich hätte dein grünliches Gesicht nicht erkannt da oben am Himmel, hast du dich getäuscht!“
Fribbeldropp musste dies erst einmal verdauen. Er hätte nicht gedacht, dass ihn jemand hatte erkennen können in all dem Chaos.
„Aber, wie…?“, stammelte er schließlich vollkommen aufgelöst.
„Mach dir mal keine Sorgen, Fribbel! Auf uns hier im Viertel kannst du dich verlassen. Hier hat niemand ein Sterbenswörtchen an die Obrigkeit weitergegeben. Wir sind hier ein wahrhaft verschworener Haufen, wenn es darum geht einen der Unsrigen zu schützen.“, fuhr der Schmied mit ruhiger Stimme fort. „Auch wer sich, wie du, erst vor kurzem hier bei uns niedergelassen hat, gebührt auch dem dieser Schutz!“
„Dann könnte ich mich ja rein theoretisch wieder hier ansiedeln?“, überlegte Fribbeldropp. Athanasius würde jedenfalls wieder einen Unterschlupf innerhalb der Stadtgrenze finden müssen, wollte man weiterhin versuchen gegen Soylentius Machenschaften vorzugehen.
„Nun, das hoffe ich doch. Wir können jedwede Unterstützung brauchen!“, meinte Pampfnagel und blickte dem ehemaligen Soldaten fest in die Augen dabei.
„Soll das etwa heißen, du bist der Anführer dieser oppositionellen Bewegung, von der immer öfter in den Reihen der Garde gemunkelt wird?“, wagte sich daraufhin Fribbeldropp vor.
„Nein, nein, das bin ich keineswegs! Nicht im eigentlichen Sinn zumindest. Ich versuche nur hin wieder ein paar Aktionen zu koordinieren.“, sagte der Schmied leichthin. „Dann hat sich das wohl doch schon herumgesprochen in euren Kreisen?“
„Könnte man sagen. Es wurden ja immer mal wieder Offiziere von Soylentius Söldnern übel zugerichtet aufgefunden. Man hielt die Zunahme dieser Vorfälle inzwischen nicht mehr für das Resultat von Wirtshausprügeleien oder einfachen Raubüberfällen, obwohl die Kerle weder Geld, noch persönlichen Schmuck bei sich trugen, ja einigen fehlten sogar die Stiefel.“ Fribbeldropp fiel jetzt ein, dass man vor Wochen auch eine Art Bekennerschreiben an einem der Tatorte aufgefunden hatte.
„Ein gutes Paar Stiefel kann man immer gebrauchen!“, sagte Pampfnagel kaltblütig und Fribbeldropp überlief ein Schaudern. Das hätte er dem, gemütlich in sich ruhenden, Mietstallbetreiber nicht zugetraut. „Willkommen in der Armee der lustigen Witwe!“
„Armee der lustigen Witwe! Ein blöderer Name ist euch wohl nicht eingefallen?“, fragte der Sergeant und konnte nicht sagen, ob der Schmied ihm nicht einen Bären aufbinden wollte, dann fiel ihm ein, genau diese Organisation hatte sich zu einigen der Anschläge bekannt, obwohl er dies für einen schlechten Witz gehalten hatte.
„Ja doch, ich gebe zu, dieser Name ist nicht auf meinen Mist gewachsen. „Das Ganze fing damit an, dass die Nichte der Witwe Zimmerschreck von einem der Söldner belästigt worden ist, eine traurige Geschichte. Das Mädchen ist seitdem nicht mehr dieselbe wie zuvor.“, erklärte Pampfnagel nun. „Jedenfalls war ihre Tante außer sich, und auch wenn du vielleicht noch niemals von ihr gehört hast, so führt sie doch hier bei uns das Regiment, könnte man sagen!“
„Die Witwe Zimmerschreck?“, fragte Fribbeldropp erstaunt. „Er konnte nicht fassen, dass eine Frauensperson hier in dieser Welt des Verbrechens das Sagen haben sollte.
„Ja doch! Was ist daran nur so ungewöhnlich?“, Pampfnagel wirkte ernsthaft erstaunt.
„Ich wundere mich nur darüber, dass gerade hier, in dieser gewalttätigen Umgebung eine zarte, ältere Dame so viel Einfluss haben soll?“
„Sag bloß nicht der Witwe, sie sei eine zarte, ältere Dame. Ich glaube, das würdest du wohl nicht überleben! Aber bevor du mit der Witwe Bekanntschaft schließt, solltest du erst einmal mit jemand anderem zusammentreffen. Komm doch mal mit!“
Der Schmied ging über den staubigen Hof voran und öffnete das hoch aufragende Scheunentor, in dem seine eigenen Pferde und die Tiere seiner Kunden abgestellt waren. Eine stabile Leiter führte in die obere Etage, in der sich die Heuballen wie Trennwände stapelten.
„Hey Dicker, du bekommst Besuch!“ rief Pampfnagel aus, als er noch nicht auf der letzten Leitersprosse angekommen war. Dann blickte Fribbeldropp ins runde Gesicht Kammergarns, das ihnen mit fragendem Gesichtsausdruck aus der Luke entgegengrinste.
Kammergarn, der Impresario des Marionettentheaters Karbunkelkraut, hatte beschlossen, seinem seltsamen Vermieter Vertrauen zu schenken, und diese Entscheidung hatte er seitdem nicht bereuen müssen. Als er mit Kringskranx und Krautschuk wieder im Viertel angekommen war, hatte er den Schmied eingeweiht in die Geschichte mit der Gefangenenbefreiung, um dann zu seiner Überraschung erkennen zu müssen, dass er es bei dem Riesen mit einem echten Revoluzzer zu tun hatte. Schnell waren sich die beiden darüber einig geworden, dass der Dicke hier weiterhin sich versteckt halten konnte, woraufhin Kammergarn den Mietstallbesitzer mit den Hurveniks bekannt gemacht hatte. Obwohl Pampfnagel ja Augenzeuge der ganzen Befreiungsaktion gewesen war, und diese Knirpse ja schon auf dem Richtplatz von weitem gesehen haben musste, war er nun doch vollkommen baff, als er Kringskranx und Krautschuk in ihrer vollen Lebensgröße vor sich sah. Doch war der Schmied ein ruhiger und besonnener Zeitgenosse, den so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte, und so fand er sich schnell mit der Tatsache ab, dass diese legendären ‚Screechies‘ wirklich existierten. Fast hätte er sogar dieses Wort benutzt, doch der Impresario war ihm zuvorgekommen, hatte ihm die fleischige Hand auf den Mund gelegt und mit leichter Panik in der Stimme geraunt: „Nicht dieses Wort! Niemals dieses Wort!“
Pampfnagel hatte sich schnell mit seinem neuen Mitbewohner und den kleinen Kerlen angefreundet, sie teilten eine Vorliebe für reichliches und besonders fettes Essen, und waren auch dem einen oder anderen Bierchen nicht abgeneigt. So hatten sie die letzten Abende damit zugebracht, es sich gut gehen zu lassen. Der Schmied war fasziniert von der Geschicklichkeit und der Körperkraft der beiden Hurveniks, das Beschlagen der Pferde seiner Kunden ging nochmal so schnell vonstatten, wenn einer der kleinen Kerle mit eiserner Faust den Huf hochhielt, so dass Pampfnagel zügig arbeiten konnte. Auch machten sie sich überall nützlich, wässerten den kleinen Garten, trugen den Müll hinaus auf die Straße, ja an den Abenden kümmerten sie sich sogar um den Abwasch und die Wäsche. Jetzt konnte er endlich etwas mit den Geschichten von den Heinzelmännchen anfangen, mit welchen ihn die Großmutter oft zum Einschlafen gebracht hatte.
Kammergarn erfuhr, dass es mit der Armee der lustigen Witwe recht gut bestellt war. Es hatten sich über viele Monate hinweg immer wieder Söldner ins Viertel verirrt, meist angelockt durch die weiblichen Reize seiner Bewohnerinnen. Manche von ihnen hatten das Licht des nächsten Tages nicht mehr erblickt, andere waren mit Übelkeit und pochendem Schädel irgendwann in der Gosse aufgewacht. Doch in allen Fällen waren sie gänzlich all ihrer Bewaffnung verlustig gegangen. So hatte sich schon einiges im Keller der Witwe Zimmerschreck ansammeln können; dies würde natürlich niemals dazu ausreichen, um eine richtiggehende Palastrevolution in Szene zu setzen, doch konnte man leicht ein Bataillon, das die Unvernunft besäße, das Rotlichtviertel einnehmen zu wollen, in die Schranken weisen. Kammergarn konnte kaum abwarten, dies dem Professor zu berichten und war froh, als sich nun diese Möglichkeit eröffnete.
„Das war ja ein tollkühnes Manöver, ich muss schon sagen!“, meinte Kammergarn jetzt anerkennend. „Ich hätte dies jedenfalls nicht zu Wege gebracht, junger Mann. Höhenangst, ich muss gestehen, ich leide an entsetzlicher Höhenangst. An manchen Tagen bin ich nicht einmal dazu fähig, ein Pferd zu besteigen, bin froh, dass ich jetzt den Esel habe.“
„Ach, das kommt mir irgendwie bekannt vor!“, erklärte Fribbeldropp und musste gestehen, dass er sein gesamtes Frühstück dem Wind anvertraut hatte, als sie mit dem Ballon aufgestiegen waren. Dann aber stellte er den Rest der Aktion dar wie ein Kinderspiel.
„Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, ist es großartig, du solltest das unbedingt auch einmal versuchen!“ Fribbeldropp, der argwöhnte, dass der Professor vorhatte, sich noch einmal dieses Fluggeräts zu bedienen, sie hatten die Stelle genau markiert, an welcher der Ballon versteckt lag, wollte so erreichen, dass ein anderer, nur nicht er selbst, in das zweifelhafte Vergnügen kommen sollte, mit dem Ding in die Lüfte zu steigen.
Kammergarn berichtete dem Ex-Soldaten von der Armee der lustigen Witwe, und seiner Idee diese zur Beseitigung von Soylentius einzusetzen. Nur wäre es natürlich gut, wenn sie nicht über diese weite Entfernung hinweg kommunizieren müssten, und fand bei Fribbeldropp ein offenes Ohr. Da kaum ein Söldner oder Angehöriger der Garde mehr große Lust verspürte hier im Viertel, das durchzusetzen, was gemeinhin für Recht und Ordnung angesehen wurde, könnten sie schließlich die Schusterwerkstatt zur Zentrale ihres Kampfes machen. Dies zumindest würde er dem Professor vorschlagen, meinte Fribbeldropp.
Auch der Schmied hielt dies im Prinzip für einen guten Einfall, doch wollte er zuerst das Einverständnis der Witwe einholen. Der ehemalige Sergeant der Hallgardenser Truppe wunderte sich doch sehr darüber, welch großen Einfluss diese Witwe Zimmerschreck zu haben schien. Beim Militär hätte es so etwas nicht gegeben, Frauen waren dort nicht zugelassen, die Welt schien dort noch irgendwie etwas mehr in Ordnung zu sein, dachte er verwirrt.
Noch eine geraume Weile tauschten Kammergarn und Fribbeldropp ihre Erlebnisse aus, tranken dazu einige Fläschchen feinen Honigwein, eine Spezialität des Hauses, wie Pampfnagel bemerkt hatte, der nun zur Witwe aufgebrochen war. Als er zurückkam, fand er zwei ziemlich weinselige Männer vor, die schon seit Jahren beste Freunde zu sein schienen. Der Schmied gesellte sich auch noch hinzu, und so verging der Abend wie im Fluge. Die beiden Hurveniks hielten sich etwas zurück in Beziehung auf die alkoholischen Getränke, das heißt, Kringskranx war immer noch etwas geschwächt von der Zeit der Gefangenschaft, und aus gewissen Gründen hielt der Anführer der kleinen Kerle seinen Adjutanten vom Trinken ab, da er ganz genau wusste, was übermäßiger Konsum von Alkohol aus dem armen Krautschuk machen konnte.