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Kapitel 4 Grützlings Auftrag - Zauberer in Randbezirken
ОглавлениеDer Kammerdiener Grützling war es schon seit Jahren gewohnt, die ungewöhnlichsten Aufträge für seinen Herrn erledigen zu müssen. In den allermeisten Fällen hatten diese Bittgänge etwas mit unbezahlten Rechnungen zu tun. So mancher Kaufmann oder Handwerker schlug schon die Hände über dem Kopf zusammen, wenn er Grützling nahen sah. Auf der Stelle war den Leuten dann klar, was die Stunde geschlagen hatte. Die hochwürdigen Herrschaften konnten wieder einmal ihre Rechnungen nicht begleichen. Es war immer dasselbe. Aber dass der Diener nun auch noch als Bittsteller vor dem herzoglichen Schwiegersohn erscheinen musste, das war bisher noch nicht vorgekommen. ‚Langsam wurde es wirklich etwas peinlich, immerhin gehöre ich ja wohl nicht zur Familie‘, fand Grützling, als er sich mit drei bewaffneten Männern hoch zu Rosse auf den Weg machte. Er hätte auch in einer Kutsche die Strecke bewältigen können, doch so war es dem jungen Menschen doch lieber. Man war immerhin an der frischen, herbstlichen Luft, von einem wirklichen Wintereinbruch war noch nichts zu verspüren. Wenn sie ein gutes Tempo vorlegen würden, wären sie in drei bis vier Tagen vor den Toren Hallgards angelangt.
Obwohl Grützling einer uralten Dynastie von Kammerdienern entstammte, hatte er doch, als Knabe schon, das Reiten erlernt und auch der Gebrauch eines Säbels war für ihn ein leichtes. Das war nun keine selbstverständliche Sache für jemanden, der nach dem Besuch der Volksschule, aus einem Kaff am Rande des Schimmerwaldes kommend, dann gleich das Kammerdienerseminar in der ehemals kaiserlichen Hauptstadt besucht hatte. Hier erlernte man im Grunde nur den richtigen Umgang mit den adligen Herrschaften, Tischsitten, Manieren, Kleidungsvorschriften und das wichtigste Attribut für einen guten Untergebenen, unbedingte Verschwiegenheit. Grützling jedoch hatte in Weentbehl-Lachapelle die Bekanntschaft mit einigen Recken der ehemals kaiserlichen Garde machen können, denen er sich gerne angeschlossen hatte. Obwohl sich die rauen Kerle immer wieder über seinen zukünftigen Berufsstand lustig gemacht hatten, schlossen sie den jungen Mann recht schnell ins Herz, so eine gewinnende Art hatte der Lehrling am Leibe. Sie hatten ihm all das beigebracht, was seine Ausbildung brach liegen ließ, ob es sich um soldatische Fähigkeiten handelte oder um die Kunstfertigkeit die Gunst einer schönen Frau zu erringen, bei letzterem allerdings mit weitaus weniger Erfolg.
Der Kammerdiener hätte nach dem Ende der Lehrzeit durchaus ebenso eine soldatische Laufbahn einschlagen können, als ihn der Ruf ans Haus der Quarlodinger in Kopoks ereilte. Sein Vater, der sein Leben lang der treueste Diener der Herzöge gewesen war, hatte das Zeitliche gesegnet, und Grützling sollte sein Amt nun von ihm übernehmen. Man legte allgemein größten Wert auf Tradition im Hause Quarlo. Grützling fügte sich schließlich dem letzten Willen seines Erzeugers, obwohl er den guten Mann nur selten jemals zu Gesicht bekommen hatte.
Wie viele verschiedene Positionen er, wegen dessen beständigen Geldmangels, bei seinem neuen Herrn innehaben sollte, hatte den jungen Mann dann doch etwas überrascht. Immerhin hatte er drei volle Jahre damit zugebracht, allein die Pflichten, die einem Kammerdiener obliegen von der Pike auf zu erlernen. Dennoch brachte er es fertig, all diese verschieden Aufgaben aufs Beste auszufüllen, und war so für Herzog Gosbert unersetzlich geworden. Man wächst mit den Anforderungen, wie man gemeinhin sagt, und in Grützlings Fall ist doch ein wenig mehr als bloße Binse an dieser Weisheit.
Diese Reise jedoch war nun etwas völlig Neues für den Kammerdiener, bisher war er nicht gezwungen gewesen, die Grenzen des kleinen Fürstentums zu überschreiten. Dennoch war er frohen Mutes, was diesen Auftrag betraf, immerhin kam er so wieder einmal in den Genuss auf einem Pferd zu sitzen, sich mit anderen Burschen zu unterhalten, sich die frische Luft der Hochebene um die Nase wehen zu lassen, und, was das Allerbeste war, sich einmal wieder einen zünftigen Schweinebraten mit ein paar Halben Bier einzuverleiben. Auch die Männer, die er mit auf die Reise genommen hatte, waren ganz nach seinem Geschmack, raue, harte Kerle, aber immer mit einem dummen Spruch auf den Lippen. Ansonsten hatte es Grützling schließlich nur mit verweichlichten Höflingen zu tun, denen außer ihren körperlichen Unzulänglichkeiten, ebenfalls jede Art Humor vollkommen abging, was allerdings auch kein Wunder war, unterlag man bei Hofe schließlich der ständigen Überwachung von Herzogin Elspeth.
Als dann am dritten Tag die Türme von Hallgards Festung vor den Männern aufragten, fühlte sich Grützling müde, aber auch auf sonderbare Weise erleichtert, als wären während des Rittes einige Lasten von seinen Schultern genommen worden. Allerdings befiel die Kopoksianer allesamt eine leichte Übelkeit, als sie sich der Stadt näherten. Der unmenschliche Gestank hatte sich schon eine ganze Zeitlang über bemerkbar gemacht, doch je näher sie der Stadtmauer gekommen waren, desto schlimmer war es damit geworden. Die Begleiter des Kammerdieners hatten schon finstere Vorahnungen geäußert, es röche wie auf einem Schlachtfeld, einige Tage nachdem der letzte Kämpfer sein Leben hatte lassen müssen. So konnte doch wohl nur Tod und Pestilenz riechen, da waren sie sich einig gewesen, doch nachdem die ersten Hustenanfälle abgeebbt waren, gewöhnten sich ihre Nasen langsam an dieses Miasma.
'Ein paar Tage auf dem Pferd, mit ein paar guten Kameraden, das war doch gleich ein ganz anderes Leben’, dachte der Kammerdiener, als sie durch das Westtor von Hallgard ritten. Oben in der Burg angekommen ließen die Männer die Reittiere in den fürstlichen Stallungen unterbringen, dann entließ Grützling die Soldaten, sie mochten sich ein wenig in der Stadt umsehen, sollten aber nicht über die Stränge schlagen, wies er sie spaßeshalber noch an. Daraufhin ließ er sich bei Bodo ankündigen und hielt das Schreiben bereit, das Gosbert ihm mitgegeben hatte.
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Die seltsame diabolische Wesenheit, die sich Lumpazius Höllenstiebel nannte, tappte auf kleinen samtigen Hundepfoten durch die nächtlichen Straßen von Eschenfeld. Es war schön wieder einen festen Körper zu besitzen, ein angenehm wohliges Gefühl von Macht rann wie ein Bächlein durch das Bewusstsein des Dämons. Auch wenn es sich im Moment ja nur um den winzigen Körper eines so kleinen Tieres, wie dem des Jack-Russell-Terriers Gizmo handelte. Es war ein überwältigendes Erlebnis nun wieder über Sinnesorgane verfügen zu können; alle möglichen Verlockungen schlugen dem Dämon entgegen, besonders solche der olfaktorischen Art. Allerdings brachten bestimmte Gerüche auch so einiges Nachteiliges mit sich. Es verhielt sich nämlich so, dass, wenn ein besonders reizvoller Geruch, meist hatte dieser dann etwas mit der Nahrungsaufnahme zu tun, an die Nase des Hundes drang, Gizmos eigentliches Ich wieder an die Oberfläche schwappte, und Höllenstiebel einige Mühe aufbringen musste, das Bewusstsein des Tieres in die hintersten Ecken des Hundehirns zurückzudrängen.
Gerade waren die beiden, die sich diesen kleinen Körper teilten, an einer Pizzeria vorbeigekommen. Hier roch es derart verlockend nach frisch aufgeschnittener Salami und saftigem Hinterschinken, dass der Hund kaum mehr zu halten war. Es zog ihn hinein in den düsteren Hinterhof, aus dem der Wohlgeruch drang, und Höllenstiebel musste all seine Kraft aufwenden, um das Tier daran zu hindern und es wieder auf Kurs zu bringen. Schon einige Male hatte er den Geruch des Jungen aus der Nase verloren, doch gelang es dem Dämon schließlich, die Fährte wieder aufzunehmen, als er es endlich geschafft hatte, wieder die Oberhand über den Terrier zu ergattern. Dieser ständige Kampf ermüdete beide Kontrahenten derart, dass der Hund schließlich unter einer Ruhebank, die vor einer eigentümlichen Statue aus rostigem Metall am Rande eines Grünstreifens stand, erschöpft zusammenbrach und eine ganze Weile liegenblieb.
Auch Höllenstiebel war in einen merkwürdigen Dämmerzustand gefallen, als das Tier, den Kopf auf den Pfoten, eingeschlafen war. Eine Kirchturmuhr schlug zehnmal, dann noch zweimal, als die kratzige Stimme des Magisters Soylentius in die eigenartig vermischten Träume des Hundegehirns eindrang. Gizmo, oder das, was noch als Gizmo zu erkennen war, spitzte die Ohren und ließ ein leises, doch feindseliges Knurren hören.
„Höllenstiebel, Höllenstiebel“, schien der Alchimist den Dämonen zu beschwören, der, nun etwas erholt, sich langsam wieder zurechtzufinden begann.
„Ja, Meister?“, vermittelte er dann seinem Herrn und Gebieter, den er als solchen keineswegs anerkannte, in kriecherischer Manier.
„Finde mir den Knaben, Höllenstiebel! Hast du mich denn eigentlich nicht verstanden?“, Soylentius Ton hatte etwas anmaßend Gebieterisches an sich, eine nervige Theatralik; dem würde er es schon noch heimzahlen, wenn erst der Bann gebrochen war, dachte der Dämon.
„Aber Meister, selbstverfreilich ist mir euer Wunsch Befehl!“, heuchelte Höllenstiebel nun. „Doch musste ich erst die Umstände dieser neuen Welt etwas sortieren, doch nun bin ich auf der richtigen Fährte.
„Du kannst Verbündete finden, Höllenstiebel“, übermittelte ihm die körperlose Stimme des Zauberers weiter. „Es müssen sich noch an die zwanzig bis dreißig meiner Alchimisten in der Anderwelt aufhalten. Finde auch diese und bringe sie dazu, dich zu unterstützen, sie werden froh sein, wenn es eine Möglichkeit gibt, wieder durch das Gezeitensieb nach Hause zu kommen!“ Die Tatsache, dass die verlotterten Zauberer sich hierüber freuen würden, fand der Dämon mehr als lächerlich. Seiner Meinung nach ließ es sich gerade für ein solches Gesindel, wie diese sogenannten Alchimisten, auf dieser Welt doch tausendmal besser leben.
„Höllenstiebel, hast du verstanden?!“, fragte der Magister Soylentius. Der Dämon konnte, trotz dem Nichtvorhandensein einer wirklichen Stimmübermittlung, einen drängenden Unterton heraushören.
„Ja, Meister! Ich werde eure Untergebenen schon finden und sie zurückbringen, verlasst euch ganz auf mich!“
„Gut, dann….“, hier brach die Vermittlung ab. Auch die telepathische Weitergabe von Informationen schien irgendwelchen, nicht genau zu bestimmenden technischen Voraussetzungen zu unterliegen.
Der Jack-Russell-Terrier setzte sich und blickte ins Dunkel der Nacht, das nur von einigen wenigen Straßenlampen noch spärlich erhellt wurde. Das Tier schien nun auf geradezu erschreckende Weise zu grinsen. Es zog die Lefzen nach hinten, und die feuchte rote Zunge hing nun hechelnd heraus.
‚Wie gut, wie gut‘, dachte Höllenstiebel, ‚hier laufen also auch noch Zauberer herum. ‚Vielleicht würden die ihm ja noch nützlich sein können.
Nur widerwillig hatte der Jack-Russel-Terrier die Fährte wieder aufgenommen, der Geruch, der noch nicht geleerten Müllbehälter rechts und links der Einkaufsstraße, lenkte ihn immer wieder ab, und Höllenstiebel musste seine sämtliche Energie dazu verwenden, den Hund wieder auf Spur zu bringen. Während der kleine Köter wieder und wieder Versuche unternahm, anderen Lockungen hinterherzuspüren, überlegte der Dämon, wo denn wohl die verlorengegangenen Alchimisten zu finden sein würden. Dann kam ihm der Gedanke, dass man einfach nur die verufensten Gasthäuser der Stadt einmal in Augenschein nehmen müsse. Irgendwann würde dann schon einer oder zwei dieser verkommenen Berufsgruppe da auftauchen. Die Zauberer waren berüchtigt für ihr unmäßiges Trinkverhalten; so lautete Zuhause auf dem Kontinent das Sprichwort, das man gemeinhin auf die Alchimisten bezog: ‚Ist der Ruf erst ruiniert, säuft es sich ganz ungeniert', oder so ähnlich. Höllenstiebel konnte sich nicht vorstellen, dass die Herren Wissenschaftler hier in der neuen Welt ganz plötzlich zu Teetrinkern mutiert waren.
Da die Hundenase jetzt allem Anschein nach endgültig die Spur verloren hatte, diese befand sich in diesem Moment tief in einem Haufen übelriechenden Unrats, den die Straßenreinigung wohl übersehen haben musste, beschloss der Dämon, sich zuerst einmal um den Verbleib der Alchimisten zu kümmern. Er hoffte nur, dass niemand die Golddukate finden würde und dadurch die einzige Spur des Jungen verloren wäre. Schlauerweise hatte er jedoch die kleine Töle dazu bringen können, das Ding mit dem Maul aufzuklauben und in einem Gebüsch zu verstecken, nicht dass noch die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages einen findigen Spaziergänger anlocken würden.
Höllenstiebel ließ eine geraume Weile dem Hund seinen Willen und stellte für sich einige Überlegungen an. Wie schaffte es bloß dieser elende Magister Soylentius bis hierher in diese Welt zu ihm vorzudringen? Er hatte den Kerl immer für einen recht unfähigen Zauberer gehalten, der wohl nur durch bloßes Glück in die Lage gekommen war, einen Dämon aus der Unterwelt, wie ihn, beschwören zu können und diesen an sich zu binden. In früheren Zeiten, also vor ein paar Jahrhunderten, wäre dies einem solch geistigen Zwerg unmöglich gewesen. Dummerweise hatte dieser Guttenbergolo dann den Buchdruck erfunden, und damit hatte die ganze Misere erst richtig angefangen. Kaum bekam jetzt einer der Zauberer, die sich in der Zwischenzeit in Wissenschaftler umbenannt hatten, jetzt ein solches, von einem wirklichen Meister seines Fachs verfasstes Werk, in die Hände, schon ging es los mit dem lustigen Beschwören. Als hätte man in der Unterwelt nicht schon genug zu tun, kam nun alle naselang so ein Kerl daher, der nichts Besseres zu tun hatte, als die Hölle heraufzubeschwören. Zum Glück waren nicht mehr allzu viele Exemplare dieser schwarzmagischen Gebrauchsanweisungen übrig geblieben. Der Chef selbst hatte dafür gesorgt, dass die meisten vernichtet worden waren. Trotzdem tauchte immer mal wieder so ein verfluchtes Druckerzeugnis auf und brachte erhebliche Unruhe in die Unter- sowie die Oberwelt. Es war im wahrsten Sinne des Wortes wie verhext.
Während all dieser Überlegungen hatte Gizmo wieder die Oberhand über sein Riechorgan gewonnen und war daher in der Lage gewesen, die Richtung selbst zu bestimmen, die er einschlagen wollte. Die Gegend sah inzwischen etwas heruntergekommen aus, bemerkte Höllenstiebel nun, als er begann das Bewusstsein des Tieres wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Niemals hätte sich der Dämon vorstellen können, dass das Eindringen in ein, mit so wenig Intelligenz ausgestattetem Tier, wie einem Hund, auf die Dauer derart anstrengend sein konnte. Vielleicht zeichnete sich dieses Exemplar allerdings auch durch eine ganz besondere Halsstarrigkeit aus.
Nach einem langen Weg durch das nächtliche Eschenfeld waren sie in einem anscheinend halbverlassenen Gewerbegebiet angekommen. Auf einer Seite der Straße lag eine weite Rasenfläche brach, nur die grünen Metallkästen der Stadtwerke zeigten an, dass das Gelände schon erschlossen war, und es nur noch auf finanzstarke Bauträger wartete, die hier Gewerbebetriebe errichten wollten. Anscheinend wartete es allerdings schon eine geraume Weile, die runden Betonöffnungen für die Kanalisation im Boden waren schon derart von Unkraut überwuchert, dass sie kaum mehr auszumachen waren. Auf der anderen Straßenseite standen etliche schnell hochgezogene Flachbauten auf geräumigen, umzäunten Höfen, doch schien höchstens die Hälfte von ihnen, eine Firma zu beherbergen. An manchen der Gebäude war kaum mehr eine Scheibe heil geblieben. Verrostete Metallschilder über den Hofeingängen trugen die Aufschriften von Unternehmungen, die wohl längst den Weg in die Insolvenz angetreten hatten. Die Straßenlampen waren von nächtlichen jugendlichen Randalierern nach und nach mit Steinwürfen außer Betrieb gesetzt, und danach nicht mehr repariert worden. Höchstens die Hälfte der Beleuchtungsmasten warf noch ein kümmerliches Licht auf das Viertel.
Von irgendwoher drang ein unterschwelliges Wummern an die Ohren des Jack-Russell-Terriers. Höllenstiebel richtete die Schritte in die Richtung, aus der der Lärm kam, obwohl Gizmo gerade wieder begonnen hatte, seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen und die Nase tief in einem Haufen Müll vergraben hatte. Was mochte hier mitten in der Nacht vorgehen?
Dort weiter vorne drang ein Lichtschein aus einem Gebäude, das aus einer völlig anderen Zeitepoche stammen musste, wie die übrigen, in den 90er Jahren des letzten Jahrtausends, errichteten Fertigbetonklötze. Aus winzigen, von Fachwerkbalken eingerahmten Fenstern fiel schummeriges Licht auf den Bürgersteig, der Lärm wurde lauter und lauter. Jetzt fiel es dem Dämon wie Schuppen von den Ohren. Musik, ja, Musik! So etwas nannten die Menschen dieser Anderwelt doch tatsächlich Musik, aus Gründen, die Höllenstiebel nicht ersichtlich waren. Er hätte dieses Getöse vielleicht verglichen mit dem Rotieren dampfbetriebener Schiffsschrauben, die auf dem Trockendock zu Testzwecken angeworfen wurden, und in die nun irgendjemand ohne Unterlass metallische Gegenstände hineinwarf. So in etwa könnte das klingen, meinte der Dämon, obwohl er einem solch blödsinnigen Ritual noch niemals beigewohnt hatte. Aber das war die gleiche Art Musik, die doch immerhin dem Fürsten der Unterwelt gewidmet war, wie Höllenstiebel schon herausgefunden zu haben glaubte.
Ein paar Stufen ging es hinauf zur Eingangstür dieses eigentümlichen Gasthauses, denn um ein solches schien es sich zu handeln, erkannte er doch jetzt auch ein Wirtshausschild, das drohend über seinem kleinen zerbrechlichen Hundeschädel in der lauen Brise knarrte. 'Roxy Inn' stand darauf in verblassenden Großbuchstaben, darunter waren zwei Elektrogitarren abgebildet, die sich wie auf der berüchtigten Flagge der internationalen Piraterie kreuzten. Es musste sich um ein früheres Ausflugslokal handeln, das weitab von der Stadtmitte gelegen war. Jetzt hatte sich das Gemeindegebiet von Eschenfeld derart ausgebreitet, dass die Kaschemme zwar nicht eben gut erreichbar war, aber dennoch zu einem der eingemeindeten Stadtviertel gehörte, die nach und nach dazugekommen, und früher eigenständig verwaltet worden waren. In Urzeiten hatte das Lokal wohl den schönen Namen 'Zum Goldenen Löwen' getragen, dies war jedenfalls noch in einer fast nicht mehr lesbaren Schrift über dem Eingang zu entziffern. Später war es wohl zu einem Ort der käuflichen Liebe mutiert, nachdem die Nachfrage nach dieser Art Gewerbe durch Zuzug fremdländischer militärischer Truppen angewachsen war.
Gerade öffnete sich die Tür und der Lärm schwoll an. Ein etwa vierzigjähriger wuchtiger Mann stiefelte durch die Tür und begann dann die Straße hinunterzulaufen. Höllenstiebel nutzte die wenigen Sekunden, die der Schließmechanismus benötigte die Tür in ihren Rahmen zu drücken, und spazierte mit erhobenem Schwanz hindurch.
Hier drinnen war der Krach beinahe infernalisch, hier fühlte sich der Dämon dann auch gleich pudelwohl, wenn man das von einem Terrier sagen kann. An einer langen Theke, wie missgeratene Perlen an einer Kette aufgereiht, lungerten etliche meist langhaarige Gestalten herum und kippten alles Mögliche an Alkoholika in sich hinein. Allerdings war und blieb Bier, das am meisten konsumierte Getränk. Doch zu jedem Halbliterhumpen wurden meist noch ein oder zwei Schnäpse gekippt, als ob der Gerstensaft so zähflüssig war, dass man noch etwas zum Nachspülen gebraucht hätte.
„Bring ma noch zwei Hörnerwhiskey!“, hörte Höllenstiebel einen Fettsack über das Tohuwabohu hinweg rufen. „Und 'n Sambuca!“
„Kannste nich ma AC/DC spielen! Aber nur mit Bon Scott!“, drang eine weitere plärrende Stimme an die empfindlichen Hundeohren Höllenstiebels.
Der Dämon hatte sich unter einen der wenigen kleinen Tische begeben, anscheinend hatte sich an diesem noch keiner der Kerle niedergelassen. Jetzt fiel Höllenstiebel allerdings auf, dass nicht alle der Gestalten dem männlichen Geschlecht zuzuordnen waren. Beinahe wäre ihm entgangen, dass ein Drittel der Gäste aus Frauen zu bestehen schien, die sich allerdings genauso gebärdeten wie die Kerle. Dies hätte in seiner Welt als unmögliches Verhalten gegolten, doch gefiel diese Tatsache dem Dämon im Grunde ausgesprochen gut. Auch die Art Musik fand langsam aber sicher immer mehr sein Wohlgefallen. Waren das nicht ganz ähnliche Töne wie diejenigen, die aus diesen 'Fernsehapparaten' gedrungen waren. Ja, jetzt schien der Sänger der Kapelle etwas von einem Hochweg in die Hölle zu berichten, selbst ein Dämon, der erst den siebten Grad erreicht hat, war durchaus in der Lage mehrere menschliche Sprachen zu verstehen. Die Barden vergangener Zeiten hätten sich sicher nicht getraut Lieder über die Hölle anzustimmen, dachte der Dämon. Und war das nicht ein ihn hoffnungsfroh stimmender Umstand, dass viele der Anwesenden auf ihren blauen ärmellosen Jacken das Symbol der gehörnten Hand trugen? Hier schien er richtig zu sein.
Das, in entlegenere Bereiche des Hundehirns zurückgedrängte, Bewusstsein Gizmos, verharrte inzwischen ängstlich dort, es befand sich im Angesicht des Lärms und der vielen groben Stiefel der Leute in einem angstvollen Zustand.
Dann öffnete sich die Eingangstüre und ein paar Gestalten betraten den Raum, die von ihrer Kleidung her hier nicht hineinpassen wollten.
‚Wusste ich es doch, dachte Höllenstiebel, ‚Zauberer, es ist immer Verlass darauf, dass sie die finstersten Spelunken ausfindig machen, wie Ratten, die jeden umgekippten Mülleimer kilometerweit riechen können.‘
Wirklich waren fünf Gestalten durch die Türe gekommen, hatten sich durch die Meute an der Theke hindurchgedrückt und sich weiter hinten an einem der größeren Tische niedergelassen. Der Dämon wartete einen geeigneten Moment ab, um nicht doch noch Bekanntschaft mit einer Stiefelspitze zu machen, und robbte dann an der Wand entlang in die Nähe des Tisches der Alchimisten vor. Schließlich gelang es dem Terrier sich unter die, die ganze hintere Seite des Lokals einnehmende, Bank zu schieben, um so die Gespräche der Zauberer belauschen zu können. Dies stellte sich allerdings, unter den gegebenen Umständen, als nicht ganz einfache Sache heraus. Zu Höllenstiebels Glück jedoch hing über den Plätzen der, ganz im üblichen schwarz gekleideten, Zauberer keine der Lautsprecherboxen, die ansonsten in jeder Ecke des Raumes vor sich hin schepperten. Dennoch musste er sich ziemlich anstrengen, um etwas von dem Gesprochenen zu verstehen, selbst die empfindlichen Gehörgänge des Terriers hatten einige Schwierigkeiten aus all dem Radau einzelne Stimmen herauszufiltern.
„Was meinst du jetzt dazu, Pfeifentrist?“, sagte gerade einer der Kerle, kaum dass sie sich niedergelassen hatten.
„Ich sag' nur eins das Sieb ist weg, futschikato, verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst!“, erwiderte eine andere, heiser klingende Stimme.
„Aber wie sollen wir jetzt jemals wieder zurückkommen?“, meinte ein dritter Alchimist, Verzweiflung klang mit in dieser Frage.
„Ich will vielleicht gar nicht zurück!“, mischte sich jetzt ein Vierter ein. „Wieso in Gottes Namen sollte irgendjemand überhaupt auf die blöde Idee kommen zurückzuwollen, frag ich mich?“
„Zuhause ist nun mal Zuhause!“, erwiderte der, der Pfeifentrist genannt worden war. „Man kann doch nicht einfach so seine Heimat verlassen. Ja wenn es nur darum ginge, in eine andere Stadt zu ziehen oder in ein anderes Fürstentum, dann wäre das vielleicht etwas anderes.“
„Wieso? Wir können bestimmt auch auf dieser Welt hier unser Auskommen finden!“, wurde zurückgefragt.
„Da wäre ich mir nicht so sicher! Ich hab schon mal versucht einem schrulligen alten Herrn, der einem jungen Mädchen nachgestiert hat, einen Liebeszauber anzudrehen. Er hat mich nur angesehen, als wäre ich nicht ganz bei Sinnen.“
„Womit er ja vielleicht auch nicht ganz im Unrecht ist, hi, hi!“
„Also bitte, in meiner Heimatstadt Solpertingen waren meine Tränke äußerst beliebt. Ich hätte ein Vermögen verdienen können!“, erklang es beleidigt zurück.
„Ja, wenn sie dich nicht irgendwann zu den Toren der Stadt mit Schaufeln und Äxten hinausgejagt hätten. Und damit warst du noch gut bedient! Ich erinnere mich, dass der Kaufmann Sulminger noch sechzehn Wochen lang an Dauerdurchfall gelitten hat, nachdem er einen deiner ganz speziellen Erotisierelixiere getrunken hatte!“
„Das war ein Unfall, ich schwöre. Diese Tränke haben in den allermeisten Fällen gewirkt, manchmal sogar ein wenig zu gut! Besonders auch die Viagranello Tinktur!“, erklärte der, der Unfähigkeit Verdächtigte trotzig. „In diesem Fall allerdings, war wohl irgendetwas mit der Zusammenstellung der Ingredienzien danebengegangen.“
Der Wirt, der anscheinend nur mit einer Aushilfe den Laden ganz alleine betrieb, war an den Tisch gekommen und wollte die Bestellungen aufnehmen.
„Fünf Halbe und fünf Jägermeister, wie immer nehme ich an?“, fragte der hochaufgeschossene Mann, der das Haar wie die meisten seiner Kunden schulterlang trug, und es jetzt zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, über den Lärm hinweg.
„Ich hätte gern lieber einen Amaretto!“, erklang zaghaft ein Stimmchen, das sich bislang noch nicht in das Gespräch eingemischt hatte.
„Amaretto, ok! Kommt sofort!“
„Amaretto? Immer diese Flausen, Berkeldorf! Mit dir wird es einmal ein schlimmes Ende nehmen!“, wieder die heisere unangenehme Stimme.
„Man wird sich ja noch selbst aussuchen dürfen, was man trinken möchte?“, kam es zögerlich zurück.
„Ich sag euch eins, den Berkeldorf hättet ihr wirklich auf dem Kontinent lassen können, das is ja 'n Mädchen!“
„Lass mal gut sein, Wunsiedel. Der ist schon in Ordnung der Berkeldorf!“, meinte wieder Pfeifentrist. „Aber was das Gezeitensieb angeht, oder das Weltenportal, wie du es immer nennst, du kennst dich von uns allen doch am besten aus? Bist du nicht mindestens ein ganzes dutzend Mal von der einen in die andere Welt gereist und umgekehrt?“
Der Wirt kam mit den Getränken, machte Striche auf die Bierdeckel und verschwand wieder.
„Ja, da hast du wohl recht! Ich denke, ich bin wahrscheinlich derjenige, welcher sich mit wahrem Fug und Recht als den allergrößten Weltenreisenden bezeichnen kann!“, antwortete Wunsiedel prahlerisch, leerte mit einem einzigen großen Schluck sein Bierglas und rülpste daraufhin herausfordernd. „Nochmal dasselbe!“, rief er dann laut in Richtung Theke.
„Und hast du nicht vielleicht eine Idee, wie wir wieder zurückkommen können?“
„Da lass mich mal überlegen!“ Wunsiedel legte die Hände vor sich auf den Tisch und starrte ins Leere. Die Alchimisten verharrten in angespannter Erwartung, nur der kleine Berkeldorf nippte einmal kurz an seinem Amaretto. Schließlich nahm auch Wunsiedel das Schnapsglas zur Hand, versenkte den Inhalt in seinem Rachen und meinte dann einfach: „Nein!“
„Du musst dir doch schon einmal Gedanken darüber gemacht haben, oder etwa nicht?“, fragte wieder Pfeifentrist.
Wunsiedel schien zu zögern, dann räusperte er sich laut und sagte: „Äh, nein! Wieso auch? Warum sollte ich? Mir gefällt es hier doch ausgesprochen gut!“
Höllenstiebel konnte von seinem Horchposten aus wieder die dünnen behaarten Beine des Gastwirts auftauchen sehen, der die nächste Runde vorbeibrachte.
„Sonst noch einen Wunsch, meine Herren!“, fragte der Wirt jetzt mit leicht spöttischer Höflichkeit. Er konnte sich immer noch keinen rechten Reim auf die seltsam gekleideten Kerle machen, die schon seit einer Woche jeden Abend hier saßen, er vermutete, sie gehörten einer Handwerkszunft an; wahrscheinlich fahrende Gesellen, die sich aus alter Tradition mal hier und mal dort verdingten. Zum Glück hatten sie ihre speckigen spitzen Hüte noch nicht herumgehen lassen und dabei Gedichte vorgetragen, wie das ansonsten bei diesen Leutchen so der Brauch ist.
„Dasselbe nochmal, Meister!“, entgegnete darauf Wunsiedel, der seinen schon wieder geleerten Glaskrug auf die Tischfläche knallen ließ.
Nachdem der Wirt gegangen war, setzten sie ihre Unterhaltung fort. Höllenstiebel war es allerdings eine Weile lang nicht möglich, dem Gespräch zu folgen, da ein großes Krakeelen der anderen Gäste eingesetzt hatte, anscheinend hatte einer von ihnen heute Geburtstag. Es war gerade Mitternacht geworden. Das Happy Birthday Gegröle der Gäste in der heruntergekommenen Taverne unterschied sich im Übrigen in keinster Weise von dem Gesinge des gleichen erbärmlichen Lieds auf einer Dinnerparty in einem Nobelvorort.
„Die Frage ist doch wohl viel eher, was oder wer das Tor geschlossen hat?“, meinte schließlich Wunsiedel, nachdem der Lärm wieder sein übliches Niveau erreicht hatte.
„Nun, wahrscheinlich konnte unser Magister Soylentius seinen Zauber nicht aufrecht erhalten!“, vermutete Pfeifentrist. „Wenn ich das richtig sehe, so kostete ihn das Offenhalten des Siebes doch eine unheimliche Kraft?“
„Das wollte uns der Kerl zumindest vormachen!“, warf Wunsiedel mit vorgetäuschter Arglosigkeit in die Runde.
„Was vermutest du denn, Wunsiedel? Oder tust du nur so schlau?“, fragte ein anderer, Höllenstiebel glaubte, vorhin einmal den Namen Quintus verstanden zu haben. An Stelle einer Antwort rief der Zauberer Wunsiedel schon wieder den Wirt herbei.
„Nochmal dasselbe, Meister!“
„Kommt sofort, auch noch einen Amaretto?“
„Nein danke, jetzt vielleicht einen kleinen Eierlikör.“, hörte man Berkeldorf sagen. Der Dämon vernahm darauf ein verächtliches Schnauben Wunsiedels.
„Du zweifelst doch nicht etwa an den Fähigkeiten unseres Magisters Soylentius?“, fragte dann Pfeifentrist erbost. Er war einer der wenigen, die den selbsternannten Anführer der Zauberer verehrten.
„Zweifeln, nein! Eher könnte man sagen, ich weiß ganz genau, dass es sich bei diesem sogenannten Magister um nichts anderes als einen Scharlatan handelt!“ erwiderte Wunsiedel herablassend. „Aber ihr seid ja anscheinend alle so blöde, dem Kerl auf den Leim zu gehen.“ Entrüstete Ausrufe von Seiten der anderen Alchimisten folgten.
„Soylentius mag die Ehre gebühren, das Gezeitensieb entdeckt zu haben, doch dass er es die ganze Zeit offen gehalten hat, mit Hilfe seiner sagenumwobenen Fähigkeiten, das möchte ich dann doch in Abrede stellen“, führte der Zauberer, den sie alle nur Wunsiedel nannten, jetzt aus. „Ich glaube viel eher, das hat er uns nur vorgespiegelt, um sich mehr Geltung zu verleihen. Ich halte das Sieb für ein ganz natürliches Phänomen, dessen Funktionsweise wir nur noch nicht begreifen.“
„Aber das ist ja alles einerlei! Jedenfalls steht uns nun dieser Weg nicht mehr offen!“, meinte daraufhin Pfeifentrist resigniert.
„Dann findet euch eben damit ab! Und jammert mir nicht die Ohren voll!“, rief Wunsiedel schnell aus, dann erschien schon wieder der Inhaber der Kaschemme mit dem Tablett voller frischgezapfter Getränke.
„Meiner Meinung nach wurde das Tor von der Person verschlossen, die es als letzte passiert hat.“, fuhr dann Wunsiedel fort, seine Stimme hatte einen verschwörerischen Tonfall angenommen. „Wenn wir wüssten, wer oder was das war, hätten wir auch die Lösung des Problems in Händen!“
„Eine interessante Theorie, bester Wunsiedel“, sagte Pfeifentrist spöttisch, aber wie kommst du denn auf diese bahnbrechende Erkenntnis?“
„Wie ihr ja sehr wohl wissen solltet, lebe ich nun schon eine geraume Weile hier in der neuen Welt. Was mich jedoch nicht davon abgehalten hat, die Türe, durch die ich hier eingetreten bin, im Auge zu behalten. Zum ersten wollte ich doch sehen, wen es noch hierher verschlagen sollte, und was Soylentius nicht noch alles hinüber auf den Kontinent schaffen lassen würde!“, holte der Alchimist aus. „Zum anderen erhoffte ich mir doch vielleicht unter all den Zauseln, die hier auftauchten, doch noch mal einen alten Bekannten ausfindig zu machen, mit dem man sich hier etwas Neues würde aufbauen können. Letztere Hoffnung scheint sich ja allerdings nicht erfüllt zu haben!“, fügte er dann nach kurzem Schweigen noch hinzu.
„Ach, mit unsch ischt wohl nix anzufangen, oder wasch?“, ertönte eine Stimme, die sich bis jetzt noch nicht eingemischt hatte. Der Mann schien diesen sogenannten Hörnerwhiskey nicht recht zu vertragen.
„Ja, ganz genau“, Hinkelmann! Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen.“
„Unverschämter Kerl! Wenn isch nur ein paar Jährschen jünger wäre, würd' isch dir schon die Hammelbeine langziehen!“ Der zunehmende Alkoholkonsum schien den alten Hinkelmann auch etwas mutiger gemacht zu haben.
„Ach!?“, meinte Wunsiedel nur, und selbst Höllenstiebel unter dem Wirtshaustisch konnte die Verdichtung der Atmosphäre wahrnehmen. Eine kleine Prügelei würde ihm jetzt Spaß machen. Dämonen lieben es, wenn Menschen sich gegenseitig verhauen, es amüsiert sie königlich.
„Mach lieber mal dein Maul nicht so weit auf, Hinkelmann!“, knirschte jetzt Wunsiedel.
„Wollen wirsch drauf ankommen laschen?!“ Der Zauberer, den sie Hinkelmann nannten, war aufgestanden und ließ sein soeben geleertes Glas hart auf die Tischplatte knallen.
Pfeifentrist zupfte am Umhang seines Kollegen und raunte dann: „Setz dich wieder, der Wirt sieht schon her!“
Wirklich war nicht nur der Inhaber der Schenke auf die Unruhe aufmerksam geworden, die hinten im Gastraum aufgekommen war. Einige fragende Blicke von Seiten der Thekensitzer begegneten den Zauberern, als sie nach vorne schauten.
„Ja, lassen wir das, sonst fliegen wir hier auch noch raus!“, meinte Wunsiedel dann ruhig. Wirklich hatten die Alchimisten schon in mehreren Gaststätten Eschenfelds Hausverbot. Entweder, weil sie versucht hatten mit fremdländischen Kupfermünzen zu bezahlen, oder sie hatten angefangen andere Gäste anzubetteln. So etwas kam bei den Wirten nie besonders gut an. In manche Lokale waren sie gar nicht erst eingelassen worden. Wuchtige Türsteher hatten die verlotterten, kuttentragenden Gestalten schon am Eingang mit der Bemerkung abgewiesen, dies sei ein anständiger Club und sie möchten sich wieder hinter ihre Klostermauern verziehen.
Da schon alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, bezeigte Wunsiedel dem Wirt, dass er noch eine Runde Bier und Schnäpse bringen solle, was alsbald geschah.
„Jedenfalls habe ich herausgefunden, wie man das Gezeitensieb wieder öffnet, das glaube ich zumindest!“, meinte dann Wunsiedel gewichtig, nachdem er einen großen Schluck aus dem neu gefüllten Glaskrug genommen hatte. „Und ob ihr es nun glaubt oder nicht ...“
„Eher nischt!“, meldete sich Hinkelmann trotzig.
„...trage ich diesen Schlüssel auch noch bei mir!“, vollendete Wunsiedel den Satz.
„Wie ...? Du ...?“, Pfeifentrist befand sich augenblicklich in einem Stadium größter Aufregung. „Dann zeige uns doch diesen Schlüssel!“
„Nur die Ruhe!“ Wunsiedel genoss offenbar die Verblüffung, die er durch seine Behauptung ausgelöst hatte, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die Beine aus, wobei er unwissentlich einem Dämon siebten Grades auf den Hundeschwanz trat. „Ihr möchtet also wirklich den Schlüssel sehen?“
„Natürlisch, du Groschmaul, dasch wird ja was schein?“ Hinkelmann konnte einfach nicht seine Klappe halten.
„Nun, wenn ihr mir keinen Glauben schenken wollt, so lasst es eben bleiben! Dann aber freundet euch mal mit dem Gedanken an, auf immer hier in dieser Welt zu sein, und jammert nicht immer nur, sondern unternehmt was!“ Wunsiedel suhlte sich in seiner Überlegenheit.
„Halt jetzt endlich dein dummes Maul, Hinkelmann!“, mischte sich jetzt einer der anderen Zauberer ein. „Dann klär' uns doch mal auf, Wunsiedel!“
„Dann passt mal auf!“ Wunsiedel schaute noch einmal gewichtig in die Runde und zwirbelte seinen imposanten Schnurrbart, dessen Enden einige Zentimeter über die Nasenwurzel hinaus in die Höhe ragten. Das Tragen von Bärten erfreut sich in der Welt der Alchimisten, wie man weiß, allgemeiner Beliebtheit.
Wunsiedel fasste in seine weite, schwarze, mit reichlich magischen Symbolen verzierte Kutte und brachte schließlich ein antikes Zigarrenschächtelchen zum Vorschein. In den Deckel waren mit dünnem Aufsatz einige Löchlein hineingebohrt worden, man konnte noch die Aufschrift 'Handelsgold' erahnen. Vorsichtig legte der Zauberer das Kästchen vor sich auf den Tisch, nicht ohne vorher ein Ohr daran zu halten, als ob er irgendetwas hören würde können in dem Kneipenlärm, der die Alchimisten umgab. Dann öffnete er die Schachtel langsam. Die Schwarzkittel hielten allesamt die Luft an, beugten sich über den Tisch und entdeckten, ...einen toten dunkelgrauen Vogel, der zusammengerollt auf dem dünnen Sperrholzuntergrund lag.
„Na prima, ein toter Vogel!“, das ist natürlich eine wissenschaftliche Errungenschaft, wie wir sie noch nie zu sehen bekommen haben!“, meinte Pfeifentrist nur spöttisch, und Hinkelmann fügte wütend hinzu: „Scho ein alter Schpinner!“, daraufhin kippte er schnell seinen Schnaps hinunter.
„Ein Vogel ja! Aber weder tot, noch stammt er hier von dieser Welt, sondern aus der Unsrigen. Und diese Tatsache sollte eure grauen Zellen doch einmal in Bewegung bringen, meine Herren!“, meinte Wunsiedel siegessicher. „Der kleine Piepmatz ist im Übrigen nur ein wenig betäubt und durchaus noch am Leben!“
„Und woher weißt du, dass das Tier vom Kontinent kommt? Sieht doch aus wie eine ganz gewöhnlicher Krähenvogel?“, meinte Pfeifentrist, jetzt doch wieder etwas interessierter.
„Das ist ein Nattich, lieber Kollege. Ein Löwennattich, wenn mich meine zoologischen Kenntnisse nicht im Stich gelassen haben. Und diese Tiere gibt es nun einmal nicht hier in der Anderwelt! Ich habe dahingehend Recherchen angestellt, das könnt ihr schon glauben!“, stellte der Zauberer Wunsiedel trocken fest. „Außerdem habe ich diesen Vogel durch das Sieb fliegen sehen, woraufhin sich der Zugang geschlossen hat!“
„Du willst sagen, dieses kleine Viech hier soll das Schließen des Portals ausgelöst haben?, fragte Pfeifentrist stirnrunzelnd, und strich sich mit beiden Händen seinen ungepflegten Kinnbart glatt. „Wie kommst du denn auf so was?“
„Reicht denn dies nicht aus als Beweis? Das war das letzte Ding, was durch das Sieb gekommen ist, kurz zuvor kam allerdings auch ein Knabe hindurchgetaumelt, wie ich zugeben muss. Den konnte ich mir allerdings nicht einfach so in die Tasche stecken!“ Wunsiedel konnte nicht begreifen, dass die Zauberer an diese seine, so sorgfältig zusammengebastelte, Theorie nicht recht glauben wollten. „Aber, wenn es euch doch nicht so ernst ist, mit dem Zurückkommen, kann ich den Vogel ja wieder wegpacken!“ Er klappte den Deckel der Zigarrenkiste geräuschvoll zu und wollte sie wieder in seiner Kutte verstauen.
„Halt, halt!“, rief Pfeifentrist aus. Und hielt den Ärmel Wunsiedels fest. „Vielleicht ist da ja doch etwas daran an deiner Idee!“
„Ach!“, meinte Wunsiedel nur. „Plötzlich doch interessiert?“
„Wir sollten deiner Theorie zumindest eine Chance geben. Was haben wir dabei schon zu verlieren?“,
„Ja, lascht unsch zum Sieb gehen und ein Ekschperiment wagen!“, Hinkelmann schien plötzlich Feuer und Flamme zu sein.
„Könnte es nicht sein ...“, mischte sich jetzt zaghaft Berkeldorf ein, „dass das Tier einfach nur zufällig zwischen den beiden Bäumen durchgeflogen ist, ohne überhaupt jemals mit der Struktur des Siebes in Berührung gekommen zu sein. Schließlich gingen, solange das Tor geöffnet war, Tag für Tag Menschen zwischen den Bäumen hindurch, ohne von der Existenz einer anderen Welt jemals etwas zu bemerken!“
„Ich sage doch, dass es sich bei dem Vogel um einen Löwennattich handelt. Das sieht ja wohl ein jeder. Und diese Tiere gibt es hier nun einmal nicht!“ Wunsiedel begann schon wieder ernstlich ärgerlich zu werden. „Trink lieber noch ein Eierlikörchen, Berkeldorf und halt die Klappe!“
Der so Angesprochene reagierte in keinster Weise auf diese Unhöflichkeit, lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück und schien nachzudenken.
„Ein Mensch dieser Welt ist ja schließlich niemals zu uns hinüber gekommen, habt ihr euch eigentlich über diesen Umstand jemals Gedanken gemacht?“
„Isch doch wurscht! Isch jedenfallsch will wieder nach Hausche!“, Hinkelmann schien den Tränen nahe zu sein. „Wasch willscht du denn haben für den Vogel?“
Mit dieser Fragestellung hatte allerdings der Zauberer Hinkelmann den Nagel auf den Kopf getroffen. Nichts anderes als hier ein gutes Geschäft zu machen, hatte Wunsiedel im Sinn. Schließlich wollte er persönlich ja sowieso nicht mehr zurück. Ihm gefiel es hier ausgesprochen gut, wie schon erwähnt wurde.
„Da sind wir nun endlich beim richtigen Thema angekommen!“, meinte er deshalb auch. „Dann legt mal eure Beutel auf den Tisch, liebe Kollegen!“
Nach längerem Hin und Her waren die Zauberer schließlich all ihr Bargeld an Wunsiedel losgeworden. Kaum hatte ihr verbleibendes Vermögen noch ausgereicht, um hier im Roxy die Zeche zu begleichen, die mittlerweile ebenfalls auf einen stattlichen Betrag angewachsen war. Lächelnd hatte Wunsiedel alles in den Weiten seiner Kutte verstaut und Pfeifentrist die Kiste mit dem Vogel ausgehändigt. Vorher hatte er dem Tier mittels einer Pipette noch einige Tropfen einer Tinktur in den Schnabel geträufelt, so dass dieser noch eine Weile Ruhe geben würde. Dann hatte sich Wunsiedel aus dem Staub gemacht. Er war sich keineswegs sicher, dass seine Theorie wirklich in die Praxis umzusetzen sei, und wollte sich nicht dem Zorn der anderen aussetzen, wenn das Experiment fehlschlagen würde.