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Kapitel 5 Ein Rendezvous – Experimentierfreudige Wissenschaftler
ОглавлениеAm nächsten Morgen erwachte Fribbeldropp, oder der Sergeant, wie Kammergarn und Pampfnagel begonnen hatten, ihn zu nennen, mit einem ziemlichen Brummschädel. Er hatte in der Nacht zuvor einen Schwank nach dem anderen aus dem reichhaltigen Repertoire seines Militärlebens zum Besten gegeben. Daher waren die beiden darauf verfallen in nur noch mit seinem ehemaligen militärischen Rang anzusprechen, was Fribbel jedoch ganz recht war, hatte er sich doch schon so sehr daran gewöhnt, dass er die Bezeichnung Sergeant ohnehin für seinen wahren Namen hielt. In Wirklichkeit lauteten seine Vornamen im Übrigen Fabrizius, Amadeus und Karl-Gustav, und wer wollte schon so angesprochen werden?
Glücklicherweise hatte Fribbeldropp noch ein wenig Zeit, bis er sich mit dem kleinen Boten treffen wollte, der sich hoffentlich als zuverlässig erweisen würde. Von nebenan drang schon das Hämmern des Schmieds an sein Ohr, der sein Leben lang mit den Hühnern aufgestanden war, dicker Schädel oder nicht. Die beiden Hurveniks unterstützten den Handwerker wie üblich nach Kräften, verschwanden jedoch, wenn ein Kunde die Werkstatt betrat, auf der Stelle durch ein Loch in der Wand des Schuppens nach draußen in ein Gebüsch. Kammergarn allerdings schnarchte noch bis zehn Uhr am Vormittag in die Kissen.
Gegen Mittag verabschiedete sich Fribbeldropp herzlich von seinen neuen Freunden, allerdings würde er am Abend zurückkehren, um noch einmal in Hallgard zu übernachten. Pampfnagel wollte ihm unbedingt noch etwas zeigen, hatte der gesagt; um was es sich hierbei handelte, darüber hatte sich der Schmied nicht weiter ausgelassen.
So blieb dem Sergeanten schließlich noch die Zeit eine andere Adresse aufzusuchen, die ihm der Professor genannt hatte. Athanasius hatte sich mit einem fürchterlich schlechten Gewissen dazu durchgerungen, der Mutter des Jungen eine Botschaft zukommen zu lassen. Zwar konnte er nicht versprechen, dass es ihm gelingen könnte, den Sohn zurückzubringen, doch sollte die herzensgute Frau endlich erfahren, dass ihr kleiner Simon keineswegs schon tot und begraben war, wie sie immer noch annehmen musste. Der Professor hatte sich noch in der Kerkerhaft immer wieder den Kopf darüber zerbrochen, ob er Elvira von all dem unterrichten sollte, oder nicht, hatte aber keine Entscheidung treffen können. Vielleicht ist es auch besser so, hatte er eine Zeitlang gedacht, wenn sie ihn schon für tot hielt, würde sie irgendwann über diese schreckliche Tatsache schon hinwegkommen. Inzwischen aber war Athanasius zu dem Schluss gekommen, dass dies der Mutter gegenüber nicht fair war.
Nach einigem Suchen gelang es Fribbeldropp schließlich das Haus zu finden, in dem Elvira mit Sybilla und deren drei Töchtern wohnte. ‘Bäckerei im Erdgeschoss’ hatte der Professor noch bemerkt, und endlich war der Sergeant an der richtigen Adresse angekommen. Obwohl er die längste Zeit seines Lebens in Hallgard zugebracht hatte, konnte er sich Straßennamen einfach nicht merken. Die Türe zum Treppenhaus stand offen, und so trabte er schnurstracks hinauf und klopfte an der Wohnungstür an, die alsbald von einer etwas verwirrt wirkenden Dame im besten Alter geöffnet wurde.
„Ja, junger Mann?“, fragte die blondgelockte Frau, die vor kurzer Zeit noch eine wirkliche Schönheit gewesen sein musste, wie Fribbeldropp mit seinem Kennerblick sofort bemerkte. „Wir haben schon den ‘Hallgardenser Boten’ abonniert und das 'Goldene Blättchen,“ fügte sie dann noch in einem bezaubernden, singenden Tonfall hinzu.
„Gnädige Frau, ich habe nur einen Brief abzugeben. Für eine Elvira Karsulke.“
„Meine Schwester, ich werde ihn weitergeben. Kann ich noch etwas ausrichten?“
„Nur die allerbesten Wünsche von Professor Greifwald! Ich muss dann auch wieder!“
Die Türe schloss sich und Fribbeldropp rannte hinunter auf die Straße. Er musste jetzt wirklich schnell zum Marktplatz, wenn er den Lausebengel dort noch antreffen wollte.
Elvira hatte die letzten Wochen in einer Art Dämmerzustand zugebracht, anders würde man kaum ausdrücken können, auf welch schlafwandlerische Weise sie es fertiggebracht hatte, all ihren Pflichten nachzukommen, ohne zu wissen wohin ihr Ein und Alles entschwunden sein mochte. Es musste etwas mit dem Alchimisten Athanasius zu tun haben, nur soviel war Elvira klar. War es nicht das Haus, in dem der Zauberer wohnte, das da zuerst gebrannt hatte, und dann eingestürzt war? Noch mehrere Nachbargebäude waren Opfer der Flammen geworden, doch schien das Feuer vom Haus des Athanasius Greifwald ausgegangen zu sein. Die Rettungsmannschaften hatten allerdings weder lebende, noch tote Körper aus der Ruine bergen können, zum Glück hatte der geistesgegenwärtige Schankwirt der Taverne, die im selben Haus untergebracht war, rechtzeitig seine Gäste aus der Gefahrenzone lotsen können. Weder von Simon, noch von Athanasius war allem Anschein nach eine Spur zu finden gewesen. Immer wieder hatte sie sich bei der Garde und der Feuerwehr erkundigt, ob noch Verletzte oder Verschüttete aus den Trümmern hatten geborgen werden können, jedes Mal war sie dann ohne jegliche Information erhalten zu haben, verzweifelt und niedergedrückt zurück nach Hause geschlurft. Allerdings hatte der Hallgardenser Bote am nächsten Tag von der Gefangennahme fremdländischer Subjekte berichtet, die wohl mit dem Auftrag den Baron zu stürzen in die Stadt geschickt worden waren. Welches feindliche Fürstenhaus hinter dieser Geschichte steckte, davon war wiederum nichts mitgeteilt worden. Allerdings würden die Übeltäter ihrer gerechten Strafe nicht entkommen, hieß es noch, zurzeit wären sie im tiefsten Verlies der Festung untergebracht und würden dort Verhören unterzogen werden.
Dann jedoch sollen die Unmenschen vom Hinrichtungsplatz weg befreit worden sein, unter Umständen, die in Elviras Ohren doch sehr fantastisch klangen. Mit einem Fluggerät hätte man die Verantwortlichen vom Richtplatz weg in die Lüfte entführt, so wurde berichtet. Elvira, die auch während dieser zweifelhaften Festivität in der Küche der Festung geschuftet hatte, war allerdings nicht in der Lage gewesen, dies alles mit eigenen Augen zu sehen. Auch war sie so sehr mit ihren Sorgen beschäftigt, dass sie sich kaum über diese Angelegenheit Gedanken machte. Niemals hätte sie diese bösartigen Heinzelmännchen, von denen in der Küche gesprochen wurde, mit ihrem vermissten Jungen in irgendeine Verbindung gebracht.
Dies alles beruhigte das Mutterherz Elviras aber in keinster Weise. Gerade dieses Unwissen versetzte sie in einen Zustand, der schlimmer war, als wenn sie ihren geliebten Findling hätte begraben können, so dachte sie jedenfalls in schwachen Momenten. Sie verfluchte sich selbst nicht strenger mit dem Jungen gewesen zu sein. Warum hatte sie sich nur so leicht von den Qualitäten dieses Zauberers überzeugen lassen? Gut, der Mann hatte wirklich einen guten Eindruck bei ihr hinterlassen, ganz im Gegensatz zu seinen Kollegen, die in der gesamten Bürgerschaft Hallgards, wegen ihres unmöglichen Betragens so verhasst waren. Ja, hatte sie nicht sogar die Gesundheit ihrer Schwester diesem Mann anvertraut, der von sich behauptete auch Doktor der Medizin zu sein? Wie hatte sie nur so blöde sein können? Schon als sie Kenntnis davon bekommen hatte, der Junge verkehre mit Alchimisten, hätte sie dem doch sofort einen Riegel vorschieben müssen. Hier hatte ihr siebter Sinn gänzlich versagt, klagte sich die gute Frau selbst an.
Jede Nacht weinte sie sich nun in den Schlaf, doch irgendetwas in ihrem Herzen sagte ihr dann, in den langen Stunden bis zum Morgengrauen, dass Simon noch am Leben sein müsse. Würde sie es nicht spüren, wenn sein Körper tot und verbrannt noch immer unter den Trümmern des Hauses dieses Professors läge? Nein, das konnte einfach nicht sein!
Seit einigen Tagen ging es ihrer Schwester Sybilla immerhin wieder etwas besser, dies zumindest stellte eine Erleichterung im Leben Elviras dar. Der Zustand Sybillas, die von der Oblivionitis, auch große Vergessenheit genannten Krankheit, befallen war, verbesserte sich von Tag zu Tag. Fast waren wieder normale Gespräche mit ihr möglich. Allerdings schien ihr Kurzzeitgedächtnis immer noch sehr in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Wenn sich die Schwestern jetzt unterhielten, kamen immer wieder Episoden ihrer gemeinsamen Kindheit zu Tage, an welche sich wiederum nun Elvira kaum mehr erinnern konnte. So war Sybilla seltsamerweise in der Lage immer noch die Namen aller Karnickel aufzuzählen, die in ihrer beiden frühesten Lebensjahren, auf dem Hof in Grimbelwald über die Wiesen gehoppelt waren, nur um zum Leidwesen der Schwestern doch noch irgendwann auf dem Sonntagstisch zu landen. Manchmal allerdings fielen Sybilla die Namen der einfachsten Alltagsgegenstände nicht mehr ein; so sagte sie z.B. immer 'Hüttenkäse', wenn sie darum bat, man möge ihr ihre Haarbürste reichen. Aber Elvira glaubte ganz fest daran, dass sich auch dies mit der Zeit wieder geben würde. Auch Gertrud, Gerlinde und Gisela waren sehr glücklich, als sich nach und nach das Bewusstsein ihrer Mutter wieder aufzuklaren begann, besonders Gertrud jauchzte jedes Mal, wenn Sybilla eine neue alltägliche Kleinigkeit, wie das Binden ihrer Schnürsenkel, zuwege brachte. Gerlinde und Gisela spotteten manchmal über die Begeisterungsfähigkeit ihrer kleinen Schwester, meinten dies aber keineswegs böse.
Man hörte jetzt immer öfter von Erkrankten, denen es plötzlich besser zu gehen schien. Man hätte meinen können, nicht die Krankheit an sich wäre ansteckend, sondern die Genesung von derselben. Viele, der vor die Mauern der Stadt verbannten, waren zu ihren Familien zurückgekehrt, denen dies in manchen Fällen gar nicht recht zu sein schien. Man hörte von tränenreichen Szenen, wenn sich die Rekonvaleszenten wieder einfanden und sich ihre Häuser und ihr gesamtes Eigentum wieder begannen anzueignen. Manch ein Sohn oder eine Tochter wurden daraufhin aus etwaigen Testamenten gestrichen, da sie sich so undankbar ihren Eltern gegenüber gezeigt hatten, und es brauchte noch Jahre bis der Familienfriede wieder eingekehrt war; an einigen betroffenen Häusern soll besagter Friede allerdings niemals mehr angeklopft haben. Auch ging das Gerücht um, dass ein großer Pilgerzug meist älterer Herrschaften auf dem Weg nach Hallgard sich befände, die anscheinend in die Obhut des Verificienserklosters auf der Insel Lacrima gegeben worden waren. Man hörte, dass einige adlige Jungherren nicht gerade in Begeisterungsstürme ausgebrochen seien, als sie hiervon Kunde bekamen.
Zumindest war in der Stadt wieder etwas Ruhe eingekehrt seit dem Fest, das zum Geburtstag von Baron Bodo veranstaltet worden war, nach welchem doch beinahe schon wieder ernsthafte Unruhen aufgewallt waren. Angeblich sollten die Hintermänner des Aufruhrs tatsächlich ihrer gerechten Bestrafung mit dem Tod entgangen sein, ja sie sollen von Komplizen befreit worden sein, und dies vor aller Augen. Die ganze Episode schien ihr so verwirrend, dass sie sich wirklich keinen rechten Reim darauf machen konnte. So war trotz des Verschwindens Simons das Leben irgendwie weitergegangen, doch bekam Elvira des Nachts kaum mehr ein Auge zu, aus Sorge um den Jungen.
Als sie dann an diesem Abend nach Hause kam, erwähnte Sybilla eine ganze Weile lang nichts von dem Brief, der für ihre Schwester gekommen war. Erst als die gesamte Frauenschar sich zu einem späten Abendessen zusammengesetzt hatte, fiel ihr dieser ausgesprochen hübsche, junge Mann wieder ein, der heute Mittag angeklopft hatte.
„Da war auch noch ein Brief, glaube ich. Aber ich kann mich gar nicht erinnern, wo ich den hingesteckt habe!“
Eine ganze Weile suchten die Frauen und die Mädchen nun in allen Ecken und Winkeln der kleinen Wohnung, wobei zwar allerhand längst verloren geglaubtes zu Tage kam, aber von einem versiegelten Umschlag war keine Spur zu finden. Bis dann schließlich Gertrud einen kleinen, spitzen Schrei des Entzückens ausstieß und mit dem Brief in der rechten erhobenen Hand siegreich in die Küche zurückkehrte.
„Er war in Mamas Kommode, zwischen den Socken versteckt!“, triumphierend schwenkte Gertrud ihre Beute.
„Zwischen den Socken“, murmelte Sybilla, aber wie ist er denn dorthin gekommen?“
„Ist doch egal“, meinten Gerlinde und Gisela, beinahe zur gleichen Zeit. „Lies doch mal vor, Tante!“
Zögerlich mit spitzen Fingern übernahm Elvira die Botschaft. Immer schon war sie der Ansicht gewesen, nur ein leerer Briefkasten ist ein guter Briefkasten, zumindest blieb man so von lästigen Rechnungen verschont. Dann betrachtete sie den Umschlag einige Zeit argwöhnisch, die Schrift kam ihr nicht bekannt vor. Auch war kein Absender auf der Rückseite zu finden. Schließlich fasste sie sich ein Herz, nahm das große Brotmesser vom Tisch auf, wischte es vorher noch sorgfältig mit einem Spültuch ab und öffnete vorsichtig das Wachssiegel, auf dem die verschnörkelten Buchstaben A und G prangten.
„Jetzt lies schon!“, riefen wieder ungeduldig Gisela und Gerlinde.
„Seid doch mal still!“, sagte Gertrud, die trotz ihres zarten Alters immer die vernünftigste von den Dreien war.
Elvira faltete mit zitternden Fingern den Papierbogen auseinander und begann langsam, Wort für Wort, das Geschriebene in sich aufzunehmen. Gespannt beobachteten die Mädchen ihre Tante, auf deren Stirn sich eine große V-förmige Falte breitgemacht hatte.
'Sehr geehrte allergnädigste Frau Karsulke', stand dort ganz oben in wunderschönen, beinahe kalligrafisch anmutenden Buchstaben geschrieben.
Sehr geehrte, allergnädigste Frau Karsulke
Lange, eine viel zu lange Zeit habe ich mit mir gerungen, Euch von all dem zu berichten, was sich in den letzten Wochen zugetragen hat. Es war keinesfalls Nichtachtung, die mich dazu bewog, diese meine Pflicht und Schuldigkeit Euch gegenüber, wieder und wieder aufzuschieben. Dies muss ich zu meiner Entschuldigung doch erwähnen, obwohl dies, wie ich sehr wohl weiß, kein Trost für Euch sein dürfte. Doch wo und wie soll ich beginnen? Aller Anfang ist schwer, wie Ihr in eurer Weisheit wissen dürftet.
Doch beginnen wir mit dem, was als eine glücklichmachende Nachricht angesehen werden muss. Der kleine Simon ist keinesfalls tot und gestorben, dies wird Euch nun zweifelsfrei das gütige Herz überlaufen lassen, doch lasst mich hinzufügen, dass es nicht in meiner Macht steht den Jungen wieder zu Euch zurückzubringen. Das heißt vorerst nicht.
Ich weiß selbstverständlich darum, dass ich zu meinem größten Bedauern in Rätseln sprechen werde müssen. Doch ist es mir nicht gegeben Euch vom Verweilort Eures teuersten Kindes zu unterrichten. Ich kann nur soviel sagen, und dieses Wissen beziehe ich mehr aus einer inneren Erkenntnis heraus, als aus wirklichen Tatsachen.
Jedenfalls, Allerverehrteste ist es so, dass Simon am Leben ist, doch befindet er sich nun an einem anderen Ort. Damit jedoch meine ich nun keinesfalls den himmlischen Ort, in den wir alle eines Tages hoffentlich Einlass finden werden. Auch befindet sich dieser Ort, weder hier auf dem Kontinent, noch auf einer der zahlreichen Inselgruppen, die unsere Welt wie eine Perlenkette am Halse einer schönen Frau umgeben. Doch bin ich mir sicher, dass sich das Kind dort behaupten wird können. Ihr Sohn ist ein ganz besonderes Kind, ich wusste dies von Anfang an.
Seid versichert, dass ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, um Simon wieder zurück zu Euch zu bringen, damit Ihr ihn wieder an Euer treusorgendes Mutterherz werdet drücken können.
Mit Allervorzüglichster Hochachtung
Athanasius Greifwald
P.S. Ohne Euch noch mehr beunruhigen zu wollen, muss ich noch erwähnen, dass Ihr auf der Hut vor den Schergen des Soylentius sein mögt. Vielleicht wäre es das Beste für Euch und Eure Familie, Ihr würdet einige Zeit auf dem Lande zubringen.
Elvira hatte kein Wort gesagt, seit sie begonnen hatte den Brief zu lesen. Sie konnte sich auf dies alles keinen rechten Reim machen. Auch klagte sie sich nun erneut an, nicht damals Simon auf der Stelle jeglichen Umgang mit diesen Zauberern verboten zu haben. Da hatte ja nichts Gutes dabei herauskommen können, dachte sie jetzt wieder. Und dann diese verschwiemelte Ausdrucksweise; aber eine wunderschöne Handschrift besaß er wohl, der blinde Mann. Dabei war ihr der Alchimist nicht wie ein aufrührerischer Verbrecher erschienen, doch musste er wohl etwas mit dem Verschwinden dieser Zwerge zu tun haben, die versucht hatten, eine Palastrevolution anzuzetteln, wie gesagt wurde. Dieser Athanasius hatte bei ihr solch einen guten Eindruck hinterlassen, dass sie dies alles gar nicht hatte glauben können. Und was sollte das jetzt bloß bedeuten? Wo war der Junge nur? An einem anderen Ort? Nicht auf dem Kontinent?
Doch keimte auch Hoffnung im Herzen der guten Frau auf. Wenn der Professor so sicher war, dass Simon am Leben war? Vielleicht sollte dann auch sie, frohen Mutes sein, dachte sie jetzt, drückte das Schreiben an die Brust, und ein paar Tränen liefen ihre Wangen hinunter.
„Was steht da, Tante Elvira“, fragte nach einiger Zeit Gertrud mit leiser Stimme. Die anderen beiden Mädchen waren mucksmäuschenstill geblieben, als sie die Tränen Elviras bemerkt hatten.
„Ach“, seufzte die Tante, „lest selbst!“ Mit diesen Worten überreichte sie das Schreiben Gerlinde und alle drei Mädchen beugten sich nun über das Blatt und begannen die Zeilen zu verschlingen.
Sybilla räumte schon den Tisch ab, obwohl noch niemand etwas von Wurst, Brot und Käse zu sich genommen hatte, und summte dabei fröhlich vor sich hin. Elvira hatte manchmal das Gefühl, dass ihre Schwester gewisse Sachen, die auch ihr nahegehen könnten, einfach nicht mehr an sich heranließ. Mochte dies jetzt noch eine Folge der Krankheit sein, oder schob sie die Oblivionitis nur vor, um nicht selbst verletzt werden zu können? Das fragte sich Elvira inzwischen des Öfteren, nahm ihrer Schwester jetzt die Teller aus den Händen und stellte sie wieder auf den Tisch.
„Was soll denn das heißen?“, riefen dann Gerlinde und Gisela, wie aus einem Munde aus. „Aber der Kleine lebt doch! Das steht hier zumindest.“ Auch Gertrud konnte mit dem Brief nicht allzu viel anfangen, glaubte aber durchaus, dass der Alchimist in dieser Beziehung niemals lügen würde.
Elvira dachte eine ganze Weile über die Empfehlung des Professors nach, entschloss sich dann aber dazu, Hallgard nicht zu verlassen und einfach so weiterzumachen wie bisher.
Fribbeldropp schaffte es geradeso, bis zur abgemachten Stunde an dem hoch aufragenden Maibaum zu erscheinen, doch war von dem Bengel keine Spur zu sehen. Es herrschte jetzt um diese mittägliche Stunde einiger Betrieb auf dem Marktplatz, und der Sergeant ließ sich auf einer Ruhebank nieder, die unbedingt einmal einen neuen Anstrich benötigte. Solcherlei Kleinigkeiten waren für Fribbeldropp ein Anzeichen für den schleichenden Niedergang Hallgards.
Eine halbe Stunde später hatte sich der kleine Bote immer noch nicht eingestellt, und Fribbel begann nun langsam aber sicher etwas ungeduldig zu werden, bis sich schließlich eine dicke Matrone neben ihn setzte und ihn unverwandt ansprach.
„Na, junger Mann“, sprach die Alte und klang dabei so, wie man sich die Hexe aus dem Knusperhäuschen vorstellt, mit einer brüchigen, zitternden Stimme. „Habt ihr denn nichts Besseres zu tun, als Eure langen Beine müßig so weit hinaus in die Gegend zu strecken, so dass arbeitsame Menschen noch drüberfallen?“ Wirklich wäre die Alte beinahe über ihn gestolpert, bevor sie sich gesetzt hatte.
„Na, so einen fleißigen Eindruck macht Ihr momentan ja auch nicht!“ Fribbeldropp musterte die Frau mit zusammengekniffenen Brauen, irgendetwas an der Person kam ihm bekannt vor, doch musste das wohl Einbildung sein.
„Frecher Kerl! Mein Leben lang hab' ich mir nun den Buckel krumm geschuftet, nur um mich jetzt im hohen Alter von einem jungen Schnösel noch beleidigen lassen zu müssen! Unverschämtheit!“ Die alte Hexe fuchtelte mit dem Knauf ihres Regenschirms vor dem Sergeanten in der Luft herum, dann klemmte sie ihm das Ding unters Kinn, hob dabei seinen Kopf an, und er schaute ihr jetzt in die Augen.
„Amelie!“, rief Fribbel jetzt erstaunt aus.
„Ich würde meinen, du hättest mich selbst in dieser Verkleidung ruhig ein wenig früher erkennen können!“, sprach nun die Zofe der Baroness, klemmte den Schirmknauf in Fribbeldropps Nacken, zog ihn zu sich und küsste ihn lange.
Als der Sergeant wieder Luft bekam, besah er sich das Objekt seiner Begierde einmal etwas genauer. Besonders diese drei weißen Haare, die sie auf der, aus irgendeiner formbaren Masse gekneteten, Warze angebracht hatte, faszinierten den jungen Mann ganz und gar. Wahrlich ein Kunstwerk en Miniature, dachte er. Auch die Runzeln, die das Gesicht zerfurchten, sahen atemberaubend echt aus, wie hatte sie dies nur fertiggebracht? Unglaublich!
„Wie hätte ich dich so erkennen können? Wie hast du das bloß hingekriegt?“, fragte Fribbel, immer noch hin und weg von der kunstfertigen Verkleidung. Das Mädchen trug dazu noch eine landesübliche Tracht, die nur noch von Frauen, die schon nahezu ein Jahrhundert vollendet hatten, angezogen wurde.
„Die Baroness hat mir schon ein wenig geholfen, muss ich gestehen“, sagte Amelie mit einigem Stolz. „Besonders um die Haare so strähnig aussehen zu lassen, konnte sie mir noch ein paar Tipps geben.“ Wirklich sah ihr Haar, das unter dem Kopftuch herausdrang, aus, wie eine graue, amorphe Masse. „Ich hoffe, die ganze Arbeit hat sich gelohnt, und es hat mich keiner von Soylentius Schergen verfolgt. Er lässt zumindest Priscilla Tag und Nacht überwachen!“
„Aber warum das? Wie kann er erfahren haben, dass sie in die Sache involviert ist?“ Damit war auf gar keinen Fall zu rechnen gewesen.
„Sie musste den Magister davon abhalten, Befehl zu erteilen auf euch zu schießen, und die Art und Weise wie sie ihn davon überzeugt hat, dies zu unterlassen, war… , sagen wir mal, nicht besonders diplomatisch!“ Diese letzten Worte hatte sie aus irgendeinem Grund wieder vorgetragen wie die Knusperhexe, als welche sie neben dem Sergeanten saß, gerade war eine Streife der Stadtgarde an ihnen vorübergegangen. „Ich glaube zwar nicht, dass die Nari Dari auch mich verfolgen, aber wir wollten auf Nummer Sicher gehen, daher meine Aufmachung“, fuhr sie dann mit ihrer gewöhnlichen Stimme fort, die jedoch unser Sergeant niemals als gewöhnlich bezeichnet hätte.
Amelie berichtete jetzt Fribbeldropp haarklein alles, was sich seit der Befreiung in der Festung ereignet hatte. Wirklich hatte anscheinend die Baroness den Soylentius mit Hilfe eines Messers davon abgehalten, den Schießbefehl zu erteilen. Aus diesem Grund wusste der Magier jetzt Bescheid darüber, wer noch alles an dem Komplott beteiligt sein musste, das gegen ihn geschmiedet worden war. Doch hatte er nichts, aber auch gar nichts in der Hand, um dies beweisen zu können. Daher hatte er es dabei bewenden lassen, die Meuchelmörder der Nari Dari zur Überwachung von Priscilla und Lugbert, dem Hofnarren einzusetzen. Als Fribbel verwundert fragte, wieso der Zauberer denn nicht zumindest Lugbert hat aus dem Weg räumen lassen, erklärte Amelie, der ehemalige Minister und jetzige Hofnarr, würde von einer Truppe geschützt, die aus lauter ehemaligen Soldaten bestünde, die ihm schon zu seinen Amtszeiten ergeben gedient hatten.
„Allerdings glaubt Lugbert nicht, dass ihn der Zauberer einfach so umbringen lassen will, wenn, dann würde er einen kleinen Unfall erleiden, meint der Narr!“, fügte Amelie noch hinzu. „Die Stimmung dort oben in der Festung ist auf dem absoluten Tiefpunkt. Nur Baron Bodo kriegt wieder einmal von alledem nicht das Geringste mit, er bereitet sich auf die jährlichen Meisterschaftsspiele im Funzelball vor und schwebt mit dem Kopf über allen Wolken!“
„Und das ist nun unser oberster Feldherr!“ Fribbeldropp schüttelte verwundert den Kopf. „Eine Schande der Kerl!“
„Sprich bitte nicht so über die Obrigkeit, man könnte dich ja für einen richtigen Revoluzzer halten“, sagte die Zofe ernst. „Es ist nun einmal so, auf dieser Welt gibt es Herren und Diener, das müsstest du als Angehöriger der Hallgardenser Armee doch wohl akzeptieren“.
„Ach, das bin ich doch nun schon gar nicht mehr. Habe mich ohne Erlaubnis aus der Truppe verabschiedet“, sagte Fribbeldropp mit einem traurigen Blick. „Aber wenn dereinst wieder ein wahrer Fürst oben in der Festung sitzt, könnte ich meine Meinung vielleicht noch einmal ändern!“
„Wenn sie dich bis dahin nicht standrechtlich erschossen haben, als Deserteur!“ Amelie klang jetzt wirklich besorgt.
„Im Moment kümmert sich kein Mensch darum. Es kommen immer mehr von Soylentius gedungenen Söldnern, und denen ist es gerade recht, wenn keiner von den alten Offizieren mehr sich ihnen in den Weg stellen kann!“
„Ich hoffe, du hast recht, Lieber!“ Die alte hässliche Matrone blickte ihrem jungen stattlichen Gegenüber ernst in die Augen.
Fribbeldropp, der bei dieser Anrede errötet war, berichtete der Zofe noch von seinem Plan, die ehemalige Schusterwerkstatt zu ihrem Hauptquartier zu machen, und dass er Athanasius und die Hurveniks in ein paar Tagen dorthin bringen könnte, dann würde man weitersehen. Wenn Priscilla es irgendwie schaffte, ihren Aufpassern zu entrinnen, wusste sie ja jetzt, wo der Professor zu finden sein würde.
„Wenn nicht, werde ich eben die Botschaften hin und her übermitteln, das wäre ja so übel auch nicht! Und wenn du dann wieder in der Stadt bist, hinterlasse doch bitte bei einem der jungen Fräulein beim Modehaus Quasselburg eine Nachricht für mich, bzw. für Frau Sylvestri, so nenne ich mich dort“, meinte Amelie jetzt nachdenklich.
„Das werde ich tun, sobald wir wieder hier sind“, versprach Fribbel. „Trittst du dort auch als alte Kräuterhexe auf?“
„Natürlich nicht, mir scheint, ich gefalle dir so wohl nicht? Obwohl mir diese Tracht doch ausgezeichnet steht!“ Mit diesen Worten küsste sie den Sergeanten nochmals auf den Mund und war, wie eine Fata Morgana, verschwunden.
Gerade zur rechten Zeit, nicht nur konnte Fribbeldropp nun drei der Marktweiber sehen, die sich über das seltsame Paar auf der Bank gar nicht mehr einkriegen wollten, sondern es standen jetzt noch zwei Lausebengel vor ihm, die sie wohl schon eine ganze Weile angegafft hatten.
Hoffentlich haben wir jetzt nicht schon zuviel Aufmerksamkeit erregt, dachte der Sergeant und beschloss sich schleunigst von hier zu entfernen. Immer wieder drehte er sich um, nachdem er sich auf den Weg zurück ins Rotlichtviertel gemacht hatte, doch schien ihm niemand zu folgen. Allerdings konnte man sich nie ganz sicher sein, besonders wenn, wie in diesem Fall, die Nari Dari mit im Spiel waren. Die Kerle waren aber wirklich unheimlich, erinnerte sich Fribbel. Sie tauchten meist wie aus dem Nichts auf, es war, als würden die vermummten Kuttenträger sich wie durch Magie plötzlich materialisieren können; als ob sie sich einfach nur einen Mantel umwarfen, der so verhext war, dass er einen unsichtbar machte. Seitdem Amelie die Meuchelmörder erwähnt hatte, war die Besorgnis um die Geliebte erheblich gewachsen, doch konnte er nichts anderes tun, als zu hoffen, dass die Baronin Vorsicht walten lassen und sich nicht irgendwelchen unkalkulierbaren Situationen aussetzen würde. Hoffentlich war sie so klug, ihrem kopoksianischen Temperament Zügel anzulegen. Das Gleiche galt allerdings auch für die Zofe selbst, die ja in derselben Gegend aufgewachsen war. Kopoks hatte in den letzten Jahrzehnten eine ganze Menge religiöse Eiferer hervorgebracht, die immer wieder mit bekehrerischen Absichten in den umliegenden Fürstentümern mit ihren Reden für Unruhe gesorgt hatten. Diese Aufrufe zur Mäßigung und Selbstkasteiung waren jedoch in den seltensten Fällen irgendwo auf fruchtbaren Boden gefallen. Wer wollte auch schon hören, dass das unendliche Leben in der Hölle auf einen wartete, nur weil man Samstags Schweinekaldaunen zu Mittag hatte.
Als Fribbel schließlich wieder bei Pampfnagels Mietstall angekommen war, schmerzten ihn schon wieder die Füße. Er war aber auch nichts mehr gewohnt, dachte er. Gut, die Frühjahrsübungen der Truppe waren jetzt ja auch schon über ein halbes Jahr her. Da konnte sich schon wieder ein wenig Verweichlichung eingestellt haben. Auf jeden Fall würde er den Weg zur fürstlichen Jagdhütte nicht auf Schusters Rappen zurücklegen. Irgendeinen Gaul würde Pampfnagel wohl übrig haben, auf dem sich bequemer und schneller die weite Strecke bewältigen ließ.
Fribbeldropp traf den Schmied bei der Arbeit an, wieder hatte er ein Eisen im Feuer, das er, noch glühend, mit dem Hammer bearbeitete. Kammergarn stand daneben, angelehnt an einen Pfeiler, einen Krug Bier in der Hand, und schaute müßig Pampfnagel bei seiner Tätigkeit zu, während die beiden Hurveniks dafür sorgten, dass die Esse immer die richtige Temperatur hatte. Wirklich fleißige Kerlchen, dachte Fribbeldropp bewundernd. Seit er die anderen Winzlinge, die zum selben Clan gehörten, wie Krautschuk und Kringskranx, näher kennengelernt hatte, war ihm alsbald die alte Sage von den Heinzelmännchen wieder in den Sinn gekommen. Sobald sich die Hurveniks einmal in einer menschlichen Umgebung niedergelassen hatten, begannen sie auf der Stelle damit, sich nützlich zu machen. In atemberaubendem Tempo hatten sie auch die, seit längerer Zeit vernachlässigte, Jagdhütte des Barons wieder auf Vordermann gebracht, so dass man es dort schließlich gut aushalten konnte. Nach nur einem halben Tag hatte das Mobiliar auf eine Weise geglänzt, als sei es eben gerade erst beim Tischler abgeholt worden. Die Lampen waren geputzt und gewienert und vermochten jetzt wieder des Nachts eine angenehme Atmosphäre zu zaubern. Beinahe eine ganze Woche lang hatten sie dort oben in der Hütte zugebracht und Fribbeldropp hatte so einiges erfahren über die Lebensweise der Hurveniks. Dinge, von denen in den alten Sagen niemals die Rede gewesen war. Mit der Zeit hatte es der Sergeant auch fertiggebracht, nicht mehr auf einen der kleinen Kerle zu treten, die beständig herumgewuselt waren, um alles im Haus in Ordnung zu halten. Obwohl selbst die schweren Militärstiefel, die Fribbeldropp immer noch trug, den zähen Hurveniks keinen wirklichen Schaden hätten zufügen können.
Pampfnagel legte bald den Hammer hin und beendete somit sein Tagwerk. Er wollte Fribbeldropp noch den Weg zeigen, mit dem Athanasius und die Hurveniks ungesehen in die Stadt kommen konnten. Er hatte sich die Erlaubnis hierzu bei der Witwe Zimmerschreck eingeholt, wie er jetzt berichtete. Diese geheimnisvolle Frau musste ja wirklich einen erheblichen Einfluss auf das Leben im Viertel haben, wunderte sich Fribbel wieder, als es forsch an der nur angelehnten Werkstatttüre klopfte.
Die Sonne war schon im Sinken begriffen und beleuchtete die Figur im Türrahmen in eindrucksvoller Manier. Der Sergeant vermochte zuerst lediglich eine dunkle hochgewachsene Gestalt zu erkennen, dann trat diese einen Schritt näher ins Innere des Raums und schüttelte eine löwenartige, jedoch schlohweiße Mähne. Wenn Fribbeldropp nun eine alte, verwitterte Person in der Witwe Zimmerschreck erwartet hatte, fand er sich jetzt aufs Allergründlichste enttäuscht.
Die Witwe mochte zu diesem Zeitpunkt wohl an die sechzig Jahre zählen, doch hatte das Leben es allem Anschein nach gut mit ihr gemeint. Mit der Figur und der Agilität eines jungen Mädchens ausgestattet, von hinten hätte man sie gar für einen recht stattlichen jungen Mann halten können, betrat die Frau die Werkstatt Pampfnagels und blickte den Sergeanten mit ernsten Augen an. Und diese Augen waren von einem Blau, dass Fribbeldropp das Gefühl hatte, er müsse hilflos darin versinken, eine solche Intensität strahlten diese aus. Wie das Meer schienen sie beständig ein wenig ihre Farbe zu ändern, je nachdem in welche Richtung sich der Blick der Witwe wandte, wirkten sie einmal azurblau, dann wieder türkisgrün. Der Sergeant hatte nicht den Eindruck, als könne das Wesen, das hier vor ihm stand, überhaupt jemals der menschlichen Rasse angehört haben. Es war etwas von einer Elfe an ihr, etwas zauberisch Glitzerndes, eine Aura von Sanftmut, doch auch von kalter Schönheit umgab die Gestalt der Witwe Zimmerschreck. Ein großes, uraltes Geheimnis schien die Frau zu verhüllen, wie ein Mantel von Unwägbarkeiten. Dem Sergeanten kam es vor, als ob Märchen wahr werden würden, als ob der Vorhang einer profanen Realität dabei wäre, zu zerreißen. In dem Moment als die Gestalt durch das schwindende Sonnenlicht die Schwelle zur Werkstatt überschritt, schien auf einmal alles Wunderbare möglich zu sein. Bis,...ja, bis sie anfing zu reden.
„Ihr seids wohl die neuen Rekruten!“, sagte die Witwe eher feststellend als fragend. Ihre Stimme schien sich weit außerhalb ihres gut gewachsenen, doch gertenschlanken Körpers zu befinden, so wenig schien das eine zum andern zu passen. Da war ein Grollen, ein Brummen von einer abgründigen Tiefe, die auch einem Bassisten im Chor der ehemals kaiserlichen Oper zur Ehre gereicht hätte. Noch dazu war ihre Sprache von einem Dialekt gefärbt, der nur noch weit, weit im Süden des Kontinents, in den wilden Bergregionen der Alpenninen gesprochen wurde, ein gutturaler Akzent, in dem auch irgendwie etwas Animalisches mitschwang.
Kammergarn, der jetzt ebenfalls zum ersten Mal die Witwe zu Gesicht bekam, hatte sich als Erster wieder gefasst. Fribbel starrte die Frau immer noch mit offenem Mund an. Als sie angefangen hatte zu sprechen, war ihm mit einem lauten Knacken der Kiefer heruntergeklappt, und er hatte das Gefühl, ihn nun nicht mehr aus eigenem Antrieb schließen zu können. Zum Glück klopfte ihm Kammergarn jetzt auf die Schulter, so dass die Lade wieder einrastete.
„Könnte man so sagen! Obwohl ich hoffe, dass es in Ihrer Armee mit den hierarchischen Strukturen nicht so genau genommen wird!“, antwortete schließlich der Impresario.
„Da habts recht. A Hierarchie brauchts net überall!“, entgegnete die Witwe und fuhr dann in einer etwas gequält klingenden, kontinentalen Hochsprache fort: „Hierarchien sind wirklich nicht immer das adäquate Mittel, wenn es darum geht, sich anderer, ähnlich strukturierter Banden zu entledigen, wie war noch der Name?“
„Kammergarn, Gnädigste, Jonathan Kammergarn!“ Der Dicke trat einen Schritt nach vorne, nahm die Rechte der Witwe und drückte sich den Handrücken gegen die Lippen.
„Ah, ein wirklicher Gentleman, wie ich sehe“, bemerkte die Dame schmunzelnd mit einer Stimme, deren Bassanteile die Bretter der Wandverkleidung zum Vibrieren brachten. „Und wie steht es mit Euch?“
Da das Schulterklopfen anscheinend nicht völlig ausgereicht hatte, um Fribbel aus seiner Versteinerung zu erlösen, drückte Kammergarn jetzt dem Sergeanten noch den Ellbogen in die Seite.
„Äh, Fribbeldropp, Sergeant Fribbeldropp“, brachte der junge Mann dann endlich mühsam zwischen den Lippen hervor.
„Sergeant, ein ungewöhnlicher Vorname, möchte ich meinen?“, bemerkte die Witwe Zimmerschreck und fügte hinzu. „Na ja, ich heiße eigentlich Circumstantia, das ist auch nicht gerade erstrebenswert.“
„Äh, ich ...“, wollte Fribbeldropp einwerfen.
“Schon gut, schon gut. Ich bin mir der Scheußlichkeit dieses Namens durchaus bewusst!“, unterbrach die Witwe Fribbeldropp. „Ich bin eigentlich nur gekommen, um mir unsere Neuzugänge einmal zu besehen.“
„Ich wollte sie gerade mit dem geheimen Pfad in die Stadt bekannt machen, Witwe“, mischte sich jetzt Pampfnagel ein.
„Nur koa Umständ, äh, nur keine Umstände“, meinte die Frau, ganz wie du willst, Schmied. Du legst doch immer noch deine Hände ins Feuer für die Neuen, nehme ich an?“
„Selbstverfreilich Witwe, soll ich schon mal ...?“, Pampfnagel hielt die Hände über der Glut seiner Esse ausgebreitet, als wolle er sich wärmen.
„Das wird wohl nicht nötig sein, du Spaßvogel. Ich bin dann wieder weg! Pfiati miteinand!“ Und schon war die imposante Gestalt der Witwe Zimmerschreck aus der Werkstatt hinausgerauscht, nicht ohne Fribbeldropp und Kammergarn noch mit einem ernsten, abschätzenden Blick bedacht zu haben.
„Puh, das war also die Witwe!“, meinte nach einer kleinen Weile der Sergeant, „ich kann langsam verstehen, warum diese Person hier das Kommando hat!“
„Eine wunderbare Frau!“, seufzte Kammergarn und dieses Seufzen ließ in Fribbeldropp die Ahnung aufkommen, der Impresario bevorzuge anscheinend Frauen mit einer gewissen Ausstrahlung.
„Na dann, machen wir uns mal auf. Ich muss euch beiden doch noch zeigen, wie man ohne befürchten zu müssen, von der Garde kontrolliert zu werden, nach Hallgard hineinkommen kann.“
Pampfnagel lief aus dem Gebäude hinaus und ging mit großen Schritten dann die kleine enge Gasse entlang, die gleich neben den Ställen in Richtung der westlichen Stadtmauer führte. Kammergarn und Fribbeldropp konnten kaum mit dem Tempo mithalten, das der Schmied vorlegte, die Hurveniks waren nach kurzem Überlegen, einfach ungefragt in die Manteltaschen des Impresarios geschlüpft. Pampfnagel hatte der Witwe nichts von der Anwesenheit dieser kleinen Gesellen mitgeteilt, immerhin war die Witwe trotz ihres burschikosen Auftretens schließlich eine zarte Dame, und er war sich nicht ganz sicher, wie sie die Existenz dieser zauberischen Sagengestalten aufnehmen würde. Allerdings war er sich durchaus darüber im Klaren, ihr in dieser Beziehung noch reinen Wein einschenken zu müssen.
In der Abenddämmerung überquerten die drei nun ein Holzbrückchen, das über einen schmalen, friedlich dahinplätschernden Bach namens Grinzel führte. Das Gewässer würde ein, zwei Meilen, nachdem es unter der Befestigungsanlage hindurch die Stadt verlassen hatte, schließlich in den Trensel münden, wusste Fribbeldropp. Sie befanden sich jetzt an der Rückseite der Häuser und konnten über Zäune und Hecken hinweg die Hintereingänge der Gebäude sehen. Die einzelnen Gärten streckten sich bis zum Grinzelbach hinunter, so konnte man mühelos in der Sommerhitze die Pflanzen wässern. Auf der anderen Seite des Bachs erhob sich ein großes halbverfallenes Gemäuer in den Himmel. Es musste sich um ein ehemaliges Fabrikgebäude handeln, so wirkte es zumindest auf Kammergarn.
Wirklich war hier, vor ein paar Jahren noch, eine große Schreinerei beheimatet gewesen, die Balken, Sparren und Bretter für den Hausbau anfertigte. Mit damals modernen Maschinen war das Material zersägt und in die richtige Form gebracht worden. Die Sägen wurden von Wasserkraft angetrieben, die durch die Aufstauung des Grinzelbachs zu diesem Zweck genutzt worden war. Nur noch spärliche, verfaulte Reste waren vom Wehr und den Mühlrädern übriggeblieben. Die Zeit war über diese Technik schon hinweggegangen. Jetzt schnitt man das Holz außerhalb der Stadt auf einem weitaus größeren Gelände und benutzte zu diesem Zweck riesige Dampfmaschinen, die auch dann zu arbeiten in der Lage waren, wenn im Sommer der Bach beinahe ausgetrocknet war.
Durch das, was einmal eine größere Halle gewesen sein mochte, schritten jetzt die drei Menschen, die Hurveniks lugten aus Kammergarns Manteltaschen, da hier nicht zu erwarten war auf jemanden zu treffen. Eine Seite des Gebäudes musste vor einiger Zeit das Opfer eines Feuers gewesen sein. Rechts waren die Balken des Fachwerks schwarz verkohlt, nur noch Reste des Mauerwerks waren zu erkennen, das irgendwann weggebrochen sein musste. Man hätte von den Gärten der Anlieger aus in das alte Gebäude blicken können, hätte nicht Mutter Natur mittlerweile dafür gesorgt, dass die Sicht von allerhand wild wucherndem Gestrüpp verdeckt war. Auch ein Teil des Daches war schon eingestürzt, auf der andern Seite jedoch lagen noch ausreichend Ziegel obenauf, so dass zu befürchten war, dass manchmal einer ins Rutschen kommen würde, um auf dem Boden zu zerschellen. Kammergarn blickte besorgt nach oben, wo durch einzelne Löcher das dämmerige Sonnenlicht hinunterstrahlte.
Schließlich kamen sie an eine stabil hochgemauerte, backsteinerne Säule, hier musste sich der Kamin des Gebäudes befunden haben, dachte Kammergarn, und wirklich sah es so aus, als ob man hier ein enormes Feuer hatte entfachen können. Jetzt lag in der Brennkammer nur allerlei Unrat; zerdepperte Dachziegel, rostzerfressene Töpfe und Bauschutt.
Pampfnagel ging direkt in den Kamin hinein, dazu musste er sich nur ein klein wenig bücken, so groß war der Eingang. Hier hatte man kein Kleinholz machen müssen, um es gemütlich warm zu haben. Es hätten auch meterlange Scheite bequem hineingepasst. Der Schmied trat mit seinen festen Stiefeln den Unrat beiseite, beugte sich dann nach unten und zog ächzend eine stählerne Klappe in die Höhe, an der ein eiserner Ring befestigt war. Eine metallene Treppe führte hinab in die Unterwelt von Hallgard.
Unten angekommen fand Pampfnagel in einer Mauernische Teerfackeln vor, die er mit Streichhölzern, die dort ebenfalls gelagert waren, entzündete. Gespenstische Schatten hasteten über die Wände des Ganges, der so eng war, dass keine zwei Personen nebeneinander hergehen konnten. Kammergarn und Fribbeldropp hatten den Eindruck, als würde ihr Weg niemals enden, allerdings brauchten sie in Wirklichkeit nur etwas mehr als zwanzig Minuten bis sie hindurch waren. Längst hatten Lehmwände die Steinmauern ersetzt, dann wieder kamen sie sich vor wie in einer Höhle. Und in einer solchen endete dann auch der geheime Schmugglerweg aus Hallgard heraus. Ein schmaler Ausstieg führte sie schließlich in eine Art Höhlenkammer, an deren anderen Ende Tageslicht durch eine Öffnung hereindrang. Der Impresario hatte einige Schwierigkeiten sich durch das Loch zu pressen, und mit einigem Schrecken erinnerte er sich daran, was sich zugetragen hatte, als ihm das letzte Mal so ein Missgeschick passiert war. Endlich waren sie dann alle draußen, der Ausgang war so mit Gesträuch verdeckt, dass man ihn unmöglich würde von außen entdecken können. Die letzten Strahlen der Sonne erhitzten die Felsöffnung, aus der sie soeben gekrochen waren. Kammergarn und der Sergeant kamen sich vor wie frisch geschlüpfte Eidechsen, die sich endlich in der Sonne wärmen konnten.
„Da vorne, keine Hundert Meter von hier fließt der Trensel!“, meinte jetzt Pampfnagel und deutete in annähernd westliche Richtung. Und wirklich konnten die beiden die Böschung des Flussufers erkennen. „Und dort liegt das Westtor der Stadt, ist noch eine Viertelmeile bis dahin!“
Ja, jetzt konnten sie, weiter oben, die Stadtmauer ausmachen, die von der untergehenden Sonne angestrahlt wurde. Natürlich hatte der Weg durch die Unterwelt sie abwärts geführt, in Richtung der Flussniederung, wie Fribbeldropp jetzt klar wurde.
„Zur Zeiten der Prohibition wurde auf diesem Weg ein schöner Umsatz erzielt, das könnt ihr wohl glauben!“, erwähnte Pampfnagel. „Die lammelianischen Reformatoren hatten schon wirklich ziemlich blödsinnige Ideen gehabt!“
Wirklich war vor ca. siebzig Jahren der Genuss aller alkoholischen Getränke eine ganze Weile strengstens verboten gewesen. Bis der damalige Fürst dann den Einfluss der Lammelianer in Hallgard wieder zurückdrängte. In Kopoks herrschte nun wieder eine strikte Gesetzgebung in dieser Hinsicht, weshalb Baroness Priscilla, die ja aus diesem Fürstentum stammte, immer noch das Trinken als ein unverzeihbares Laster ansah. Allerdings blühte natürlich der Schmuggel von alkoholhaltigen Getränken nach Kopoks derart, dass, würde man einfach eine Steuer auf Schmuggelei erheben, das Haus Quarlo endlich aus der finanziellen Misere kommen könnte, in der es sich seit Jahrzehnten befand. Diese Geldknappheit war ja auch der Grund dafür, dass die junge Priscilla überhaupt in die Ehe mit Bodo eingewilligt hatte.
Pampfnagel, Kammergarn, Fribbeldropp und die beiden Hurveniks liefen einen kleinen Trampelpfad entlang, hinunter zum Fluss. Der Sergeant ließ seine müden Füße im Wasser baumeln, der Impresario holte aus den Weiten seines Umhangs ein Fläschchen Malzwhiskey heraus, rückte sich die Melone auf seinem breiten Schädel zurecht, und so genossen die Freunde einen der letzten schönen, beinahe noch spätherbstlich zu nennenden, Sonnenuntergänge am Ufer des Trensel.
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Gegen drei Uhr in der Nacht machten sich die Zauberer schließlich auf den Weg in Richtung Innenstadt. Zu ihrem Glück begegneten sie keiner Polizeistreife, denn nachdem sie noch einige Getränke im Roxy Inn zu sich genommen hatten, benötigten sie die ganze Breite der Straße auf ihrer Wanderung. Leider hätte das verbleibende Bargeld jedoch keineswegs mehr ausgereicht, um sich eine Taxifahrt leisten zu können. Pfeifentrist graute es schon vor dem morgigen Tag. Sollten sie es nicht schaffen wieder zurück auf die andere Seite zu kommen, würde das tägliche Geldbeschaffen wieder losgehen. Nachdem die Zauberer den Rest ihrer Dukaten an Münzhändler und Antiquare verscherbelt hatten, war ihnen nichts Besseres eingefallen, als entweder zu betteln, oder aber den Bürgern von Eschenfeld in die Jacken und Handtaschen zu greifen, um sich so über Wasser zu halten. Glücklicherweise war es das Los der Alchimisten auch auf ihrer eigenen Welt schon seit jeher gewesen, sich solche Fähigkeiten, wie lautlose Taschendiebstähle mit diversen Ablenkungsmanövern, schon frühzeitig anzueignen. Die Zeiten waren mal besser, mal schlechter gewesen für die großartige Zunft der Alchimisten und in Fällen wie den Letzteren, mussten sie sich zur Not immer auf die Geschicklichkeit ihrer Hände verlassen können. Ein Geschick, das sich die Zauberer schon während ihrer Ausbildung aneigneten, wenn sie nicht gerade aus gut situierten Familien stammten. Schön, dass in den Zünften noch Wert auf alte Traditionen gelegt wurde.
So torkelten die Zauberer nun durch das nächtliche Eschenfeld, ohne zu bemerken, dass sie von einem kleinen, vierbeinigen Schatten verfolgt wurden. Kaum mehr jemand sonst war auf den Straßen noch unterwegs, und genau dies hatten sie im Sinn gehabt, als sie so spät erst aufgebrochen waren. Bei dieser Angelegenheit konnten sie nun wirklich keine Beobachter gebrauchen.
So mancher Einwohner der kleinen Stadt hatte sich, während er seine Mittagspause in der Parkanlage verbrachte, schon verwundert die Augen gerieben, wenn wieder ein oder zwei Gestalten urplötzlich, wie aus dem Nichts auftauchend, sich zwischen den Zwillingseichen materialisiert hatten. Doch da ein fester Bestandteil der menschlichen Psyche die glücklichmachende Fähigkeit zur Verdrängung ist, konnte man dieses Phänomen am Ende als eine Sinnestäuschung, womöglich ausgelöst durch irgendwelche Lichtreflexe, oder Nebenwirkungen von Medikamenten, verbuchen. So hatten diese Sichtungen keinerlei Auswirkungen auf das Treiben der Alchimisten hier in der Anderwelt gehabt. Dennoch verzichteten die Zauberer gerne auf Zuschauer, wer wusste schon, was geschehen würde, entdeckten die Eschenfelder das Portal. Nur ein einziges Mal hatte das Erscheinen einer der Zauberer eine Reaktion hervorgerufen, jedoch hatte es sich bei dem Zeugen lediglich um einen kleinen Jungen von circa vier Jahren gehandelt, der dann sofort nach seiner Mutter gebrüllt und auf den schwarzberockten Mann gedeutet hatte, der so urplötzlich aufgetaucht war. Die Frau Mama ließ sich glücklicherweise nicht vom beständigen Blick auf ihr Mobiltelefon ablenken, mochte der kleine Kerl auch noch so brüllen.
Endlich waren sie im Park angekommen. Aufgrund ihres alkoholisierten Zustandes hatten sie tatsächlich für den Weg hierher eine geschlagene Stunde benötigt. Obwohl, wenn man bedenkt, dass sie durch ihr Getorkel mindestens drei Kilometer mehr Wegstrecke zurückgelegt hatten, lag dies eigentlich noch im Rahmen.
„Wie machen wir dasch jetzt also?“, fragte Hinkelmann, als sie unter den Blättern der Bäume standen, die von einer leichten Brise bewegt wurden. Der Mond erhellte den Park noch zusätzlich zu den Laternen, die die Wege säumten und ließ gespenstische Schatten auf den Gesichtern der Zauberer entstehen.
„Einer nimmt ganz einfach die Kiste mit dem Vogel und geht durch, würde ich vorschlagen!“, meinte der Pragmatiker Pfeifentrist.
„Ja, aber wer von uns soll das machen, das ist doch die Frage?“, meinte Berkeldorf.
„Na isch, wer schonscht!“, meldete sich Hinkelmann freiwillig und warf sich in die Brust. „Dann komm isch schofort zurück und wir gehen gemeinscham nach Hausche!“
„Der Hinkelmann scheint mir nicht gerade der rechte Mann für diesche Aufgabe tschu sein“, meinte der vierte der Alchimistenbande, der im Übrigen auf den schönen Namen Quintus hörte.
„Dann gehen wir eben alle zusammen!“, schlug Pfeifentrist vor.
„Ihr traut mir alscho nischt, schöne Freunde scheid ihr, beschondersch du!“, rief Hinkelmann erbost und verpasste Quintus eine Maulschelle, die allerdings ihr Ziel nur streifte.
„Hey, hey! Mach maa halblang, du Schpinner!“, schrie Quintus nun und rieb sich die Backe, obwohl er keinerlei Schmerz verspürte.
„Besteht nicht die Gefahr, dass wir irgendwo landen, wo wir auf gar keinen Fall hin möchten?“, fragte Berkeldorf in übertrieben ruhigem Tonfall.
„Wie meinst du denn das jetzt?“, fragte Pfeifentrist, wirklich hatte er keine blasse Ahnung von dem, was da seinem Kollegen Sorgen zu bereiten schien.
„Na ja, hast du dir noch nie darüber Gedanken gemacht, dass, wenn es schon zwei völlig verschiedene Welten gibt, die durch dieses Sieb oder Portal miteinander verbunden sind…?“
„Ja, sprich weiter, Berkeldorf!“, der Kerl kam wieder mal einfach nicht zu Potte.
„Also, wenn es da noch eine dritte oder vierte Welt gäbe. Stell dir doch einmal eine Welt vor, die wir uns noch gar nicht vorstellen können?!“. Berkeldorf wusste ganz und gar nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Es fehlten ihm einfach die Worte, doch hielt er diesen Gedanken für durchaus wichtig.
„Ja, und weiter?“, drängte Pfeifentrist.
„Lasch den Depp doch kwatschen. Wasch scholl der ganze Scheiß?“, meinte Hinkelmann grummelnd und ließ sich erschöpft ins nachtfeuchte Gras fallen. Das sah mal wieder nach einer endlosen Debatte aus.
„Stellt euch doch nur einmal Folgendes vor. Wir gehen nun alle gemeinsam durch das Portal und finden uns auf der anderen Seite in einer Welt wieder, die nur aus Wasser besteht. Ich hoffe, ihr seid alle gute Schwimmer!“, versuchte Berkeldorf seine Gedankengänge erneut darzulegen.
„Scho ein Kääse, wir schind immer genau dort wieder angekommen, wo wir auch aufgebrochen schind, oder etwa nisch?“
„Ja, doch. Aber jetzt hat sich das Gezeitensieb geschlossen. Wer kann sagen, dass, wenn es sich wieder öffnet, die Umstände noch genauso sind wie zuvor!“
In den Ohren von Pfeifentrist klangen die Einwände Berkeldorfs auf einmal ganz vernünftig. Er setzte sich auf die Bank unter den dicken Ästen der uralten Eichen und dachte über die Sache nach.
„Oder wie wäre es, wenn wir hindurchgehen und in einer Welt voll flüssiger Lava ankommen?“, schlug Berkeldorf vor, seine Phantasien wurden immer grauenhafter. „Oder wir kommen in einer Welt an, die nur von abscheulichen, riesigen Insekten bewohnt wird? Oder von gigantischen Echsen?“
„Dasch wird mir jetsch aber escht zu blöd! Gib mir den Vogel Pfeifenkopf, und du Berkelfurz halt endlisch die Klappe!“ Hinkelmann hatte sich wieder aufgerappelt und ging drohend auf den friedlich dasitzenden Pfeifentrist zu. „Her mit dem Viech, sag' isch!“
„Halt! Halt! Vielleicht ist da etwas dran an dem, was Berkeldorf gesagt hat!“ Pfeifentrist hatte beide Arme zur Abwehr gehoben.
„Rück jetzt den Vogel rausch oder esch kracht!“, schrie jetzt Hinkelmann mit hochrotem Gesicht und fiel gleich darauf wieder auf den gepflegten Rasen der Parkanlage. Quintus hatte ihn von hinten mit einem Faustschlag auf den Schädel niedergestreckt.
„Tschultschung!“, meinte der riesenhafte Zauberer Quintus daraufhin nur. Er war augenscheinlich von etwas schlichterem Gemüt.
„Aber Berkeldorf“, fing dann Pfeifentrist wieder an. „Wie sollen wir denn dann herausfinden, ob uns das Sieb nun wieder in unsere Heimat zurückführt, oder eben nicht?“
„Mein Vorschlag wäre, wir stellen uns ganz nahe an die Bäume und werfen den Vogel hindurch, dann versuchen wir einen Blick auf das zu erhaschen, was uns am anderen Ende erwartet. Etwas Besseres fällt mir da auch nicht ein!“ Berkeldorf wusste natürlich, dass, wenn sich das Sieb hinter dem Vogel sofort wieder schließen würde, sie unter Umständen ihre allerletzte Chance zurückzukommen verspielt hätten. Doch da Pfeifentrist auch keine andere Möglichkeit in den Sinn kommen wollte, Quintus überließ wie immer anderen die Entscheidung, und Hinkelmann war noch nicht wieder zu Sinnen gekommen, beschlossen sie es genau so zu machen.
Pfeifentrist holte umständlich mit ungeschickten Fingern, auch er hatte dem Alkohol ausgiebig zugesprochen, obwohl man es ihm nicht allzu sehr anmerkte, die Zigarrenkiste aus den Weiten seiner sackähnlichen Kutte heraus. Die anderen Zauberer, bis auf Hinkelmann, der noch betäubt am Boden lag, starrten in das Kästchen, der Vogel schien friedlich zu schlummern. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man das kleine Herz unter dem schwarzgrauen Gefieder klopfen sehen. Dann nahm der Alchimist das Tier aus seinem Gefängnis. Ein merkwürdiger Schauder überlief Pfeifentrist, als er das warme lebendige Tier in seine beiden Hände nahm; das Kästchen ließ er einfach fallen.
Höllenstiebel hatte die Ereignisse aus sicherer Entfernung beobachtet und sich zu diesem Zweck hinter einer Hecke versteckt. Mit einiger Faszination hatte er, ebenso wie die Zauberer, den Ausführungen Berkeldorfs gelauscht. Sehr interessante Ideen gingen dem alten Zausel da durch seinen eckigen Kopf, dachte Stiebel. Das schien ihm doch derjenige der Saufköpfe zu sein, mit dem eventuell noch etwas anzufangen sein würde. Mochte es wirklich noch mehr Welten geben? Nun, vielleicht existierten ja in der Tat unzählige Welten, doch, und hier befand sich der Dämon wieder auf sicherem Grund, gäbe es unter Garantie nur eine einzige Unterwelt, die für all diese oberirdischen Reiche zuständig war, oder? Schon zweifelte der Dämon an seiner neuen Theorie, all diese Unwägbarkeiten machten ihm langsam aber sicher zu schaffen. Würde es denn wahrhaftig mehrere Höllen geben, mehrere Luzifere, mehrere Großmütter, Mannomann! All diese komplizierten Gedankengänge schienen das Hundegehirn leicht zu überfordern, denn ein stechender Schmerz machte sich in dem kleinen Schädel breit, und Höllenstiebel unterließ es nun tunlichst das Tier weiterhin überanzustrengen. Gespannt beobachtete er weiter die trunkenen Alchimisten. Was würde bei der Sache wohl herauskommen?
Pfeifentrist hatte sich in der Mitte der beiden Eichenbäume aufgebaut, nahm den Vogel nun in seine Rechte, drehte sich noch einmal mit einem fragenden Blick nach seinen Kollegen um ..., und zögerte dann.
„Soll ich?“, fragte er jetzt zaghaft.
„Moment, Moment, das Beste ist, wir stellen uns genau an die Linie zwischen den Bäumen, um auch wirklich einen Blick nach drüben tun zu können!“, meinte Berkeldorf. Das klang ziemlich vernünftig in Pfeifentrists Ohren.
Gerade schlug eine Kirchturmuhr ganz in der Nähe zweimal. Der Zauberer holte zum Wurf aus, das Bündel aus Federn flog in weitem Bogen durch die Lücke zwischen den Zwillingseichen in den Nachthimmel hinein. Es sah aus, als hätte der Zauberer einen gefiederten Ball geschleudert, das Tier wirbelte beständig um die eigene Achse durch die Nachtluft. Ein wirklich toller Wurf, mit einem leichten Effay!
‚Es hätte längst etwas geschehen müssen‘, dachte Pfeifentrist. ‚Zumindest ein Geräusch, ein Leuchten, wenn sich ein Spalt im Äther öffnen würde. Nichts! Gar nichts!
Doch bevor das zusammengerollte, betäubte Tier auf den Rasen prallte, breitete es urplötzlich die Flügel aus. Die allerersten Strahlen der aufgehenden Sonne beleuchteten seine Schwingen und ließen sie in allen Farben des Spektrums erstrahlen. Der Löwennattich berührte beinahe noch die oberen Blätter der Hecke, unter der der Jack-Russell-Terrier verborgen lag, dann verspürte sein Flügelpaar Aufwind. Er beschrieb einen weiten Bogen um den rechten der beiden Bäume herum, war dann auf einmal weit oben über den Köpfen der verdutzten Alchimisten und vollführte dort so etwas wie einen leicht missglückten Looping. Anscheinend war er doch noch etwas benommen, von der chemischen Substanz, die ihm Wunsiedel eingeflößt hatte. Dann sauste das Tier noch einmal im Tiefflug über die Schädel der Zauberer, öffnete seinen orangefarbenen Schnabel und keckerte lauthals, als wollte er sie verspotten, und war in der Morgendämmerung verschwunden, vier reichlich bedröppelt blickende Zaubereraugenpaare zurücklassend.
Hinkelmann, der sich gerade wieder aufgerappelt hatte, schwor noch Jahre später Stein und Bein, er hätte ganz genau gehört, dass der Vogel 'Aufwiederdertschi, ihr Hohlköpfe', gerufen hätte.
Diese Halluzination hielt den Zauberer Hinkelmann allerdings keineswegs von seiner Absicht ab, es dem Quintus heimzuzahlen. Aus vollem Lauf heraus rammte er jetzt den riesigen Kerl, und brachte diesen dann auch tatsächlich ins Straucheln. Pfeifentrist, der noch lange mit offenem Mund dem entschwindenden Vogel nachgeblickt hatte, wollte sich Hinkelmann in den Weg stellen, wurde von diesem aber sofort mit Fausthieben traktiert. Der Mann war nun völlig außer Rand und Band.
„Ihr Schrumpfköppe, dafür hab isch nu mein letschtes Hemd gegeben!“, rief er, während er auf seinen Kollegen einschlug. Schließlich hatte sich Quintus wieder aufgerappelt und versuchte gerade mit Hilfe von Berkeldorf den Wüterich von Pfeifentrist herunterzuziehen, als ganz in der Nähe eine Sirene erklang.
Das Polizeiauto nahm keine Rücksicht auf das Hinweisschild, das das Betreten des Rasens strengstens untersagte und hinterließ breite Reifenspuren auf dem Grün. Die Nacht der Alchimisten endete schließlich in der Ausnüchterungszelle auf dem dritten Revier, welches sich zum Glück für Höllenstiebel nicht allzu weit vom Park entfernt befand. Der Jack-Russell-Terrier verfolgte den Wagen bis dorthin und legte sich dann hechelnd in der Nähe der Eingangstür auf die Lauer. Er wollte nicht verpassen, wenn die Alchimistenbande wieder aus der Haft entlassen werden würde, auf jeden Fall wollte der Dämon herausfinden, wo sie ihren Unterschlupf hatten. Höllenstiebel glaubte nicht, dass die Polizisten die Kerle lange Zeit festhalten würden. Ein wenig Streit in trunkenem Zustand konnte wohl unmöglich eine größere Bestrafung nach sich ziehen.
Der Löwennattich war nach den wenigen kühnen Flugmanövern, die er eigens zur Verspottung dieser miesen Zaubererbrut aufgeführt hatte, ähnlich außer Atem, wie der Dämon Höllenstiebel im Körper des Terriers. Hatte der Übertritt in diese Welt nicht schon genug an den Kräften des kleinen Tieres gezehrt, so waren ihm die Tropfen, die Wunsiedel ihm verabreicht hatte, erst recht nicht gerade gut bekommen. Er konnte sich jetzt endlich daran erinnern, wie er hierher gekommen war.
Kaum war er durch das Gezeitensieb geflogen, war es ihm schon schummerig geworden, das Licht der Anderwelt hatte ihn derart geblendet, dass der Vogel direkt auf eine der Laternen zugesteuert war, die des Nachts den Park erhellten, und war schließlich mit dem Köpfchen böse gegen das Metall gestoßen und an dem Mast heruntergerutscht. In dieser hilflosen Verfassung musste ihn Wunsiedel vom Boden aufgeklaubt, und ihn in einer seiner vielen Taschen verstaut haben. Daran konnte sich der Nattich allerdings nicht mehr erinnern. Er war aufgewacht von dem Geräusch eines Handbohrers, der durch sein hölzernes Gefängnis gedrungen war und ihn beinahe noch aufgespießt hätte. Zumindest hatte er so ausreichend Luft zum Atmen bekommen. Als Wunsiedel ihm dann die bittere Medizin dreimal am Tag in den Schnabel träufelte, konnte sich der Vogel nicht gegen den Alchimisten wehren. Der hielt ihn fest gepackt, und der Nattich war viel zu schwach gewesen, um dem fiesen Kerl in die Hand hacken zu können.
Auch jetzt war ihm noch etwas schwindelig, als er da auf der Regenrinne saß, und hinunter auf die langsam sich belebende Straße blickte. Auch die Abgase der Kraftwagen, die nun bis zu ihm hinaufdrangen, trugen nicht gerade zur Besserung seines Zustandes bei.
„Oh, wie das stinkt“, krächzte das Tier, war aber immer noch nicht fähig loszufliegen, um sich einen anderen Ruheort zu suchen. „Man könnte meinen, in dieser Welt hätten Alchimisten das Sagen!“
Der Löwennattich hatte keine Ahnung, wie lange er in der Zigarrenkiste zugebracht hatte. Das Letzte und Erste was er, in dieser neuen Welt angekommen, erblickt hatte, war der Laternenpfahl gewesen, der ihm in die Flugroute gesprungen war, dann war sofort das Licht ausgegangen. Jetzt machte er sich ernsthaft Gedanken darüber, wie er wieder zurück nach Hause kommen sollte. Hatte nicht der Professor gesagt, er, der Nattich, sei der Schlüssel, der das Gezeitensieb schließen würde? Oder hatte er ihn da etwa missverstanden? Dem Vogel brummte der Schädel. Doch hätte sich nicht tatsächlich das Sieb öffnen müssen, als ihn dieser blöde Zauberer durch die Luft geworfen hatte? Er musste Simon finden, wenn es jemanden gäbe der besser darüber Bescheid wusste, dann war es der Junge. Außerdem war er im Grunde, nur weil er den kleinen Menschen liebgewonnen hatte, diesem durch das unheimliche Gitter des Gezeitensiebs gefolgt, und dies war nun wirklich keine sehr angenehme Erfahrung gewesen.