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ОглавлениеWas zur Hölle ist los mit mir? Ich fühle mich heute Morgen, als wäre ich unter Betonplatten begraben. Als würde auf mich ein Gegner einschlagen, den ich nicht sehen kann. Etwas reißt an mir, zerrt an meinen Gefühlen. Das Tier wütet in mir und kratzt an meinem Verstand. Raven zu riechen, sie zu spüren, zu sehen überreizt meine Sinne. Ich war zu lange nicht mehr laufen. Ich muss raus, muss rennen, bis jeder Muskel brennt und dieses Zerren endlich schweigt.
Mit einem abfälligen Schnauben wende ich mich ab und ziehe Raven hinter mir her in die Küche, wo ich ihre Handschelle löse und sie wortlos auffordere, sich an den Tisch zu setzen. Es riecht nach Toast, Eiern und Speck, aber am dankbarsten bin ich Sam für die große Kanne Kaffee, die er gekocht hat, denn in der vergangenen Nacht habe ich mehr mit dem Chaos in meinen Gedanken und Gefühlen gekämpft als geschlafen. Ich fühle mich erschöpft, was nicht nur an Raven und meinen Schuldgefühlen ihr gegenüber liegt, sondern vor allem an den Wochen, in denen Sam und ich jetzt schon auf der Flucht sind und um sein Leben kämpfen. Und ich fühle mich, als wäre in mir alles außer Kontrolle geraten. In der einen Sekunde denke ich darüber nach, die Frau neben mir unter meinem Körper zu begraben und nicht aufzuhören, bis sie sich mir völlig unterwirft und meinen Namen schreit. Und in der nächsten zittert jeder Muskel in mir vor Wut und ich will sie umbringen. Im einen Augenblick kann ich ihr nicht nahe genug sein. Und im nächsten kann ich nicht weit genug fort sein. Und bei all dem Chaos darf ich nicht vergessen, dass sie nur wegen Sherwood hier ist. Dass sie seine Tochter ist.
Eins muss man über Sherwood wissen: Er verlangt absoluten Gehorsam. Zuwiderhandlung wird hart bestraft. Immer. Das gilt für jeden, weswegen er auch keine Ausnahme bei unserer Mutter, seiner Partnerin, gemacht hat. Weil sie Sams Betrug gedeckt hat, musste sie sterben. Gerade deswegen ist Sherwood zuverlässig. Jeder im Clan weiß zu jeder Zeit genau, dass er sich auf seinen Anführer verlassen kann. Die Gesetze werden durchgesetzt. Dass Sam und ich geflohen sind, dürfte einiges an Chaos verursacht haben. Und für Sherwood ist es umso wichtiger, zu zeigen, dass er noch immer die Kontrolle hat, indem er Sam seiner Strafe zuführt. Und mich meiner. Weil ich meinem Bruder zur Flucht verholfen habe. Er lässt uns also jagen. Aber was ich brauche, was ich unbedingt will, ist, dass er mich jagt. Dass er sich mir stellt. Damit ich es beenden kann.
»Hast du das Frühstück allein zubereitet?«, will Raven von Sam wissen und sieht ihn bewundernd an, als er Teller mit Ei und Speck vor uns auf den Tisch stellt.
Sam ist in dem Alter, in dem einen jegliches Lob noch peinlich ist. Er verzieht verschämt das Gesicht, presst die Lippen aufeinander und brummt leise zur Bestätigung. »Hat Ma mir beigebracht.« Sams Blick wandert über Raven, seine Augen verengen sich misstrauisch und er tritt einen Schritt von ihr zurück, als brauche er dringend Abstand zwischen sich und ihr.
Dieser Abstand würde mir auch guttun, denn ich halte es in ihrer Nähe kaum noch aus. Meine Gedanken kreisen um das Gefühl, sie in den Armen gehalten zu haben, gemeinsam mit ihr aufgewacht zu sein, und wie sehr mich alles zu ihr hinzieht. Ich erwische mich dabei, wie ich auf ihre vollen Lippen starre, die Biegung ihres Halses mustere und den Klang ihrer Stimme in mich aufsauge.
Erschöpft reibe ich über mein Gesicht. Vielleicht war ich schon zu lange nicht mehr mit einer Frau zusammen. Ich habe mich seit Wochen ausschließlich auf Sam und Sherwood konzentriert. Da war keine Zeit dafür, meinen Trieben nachzugeben und mir ein kurzes Abenteuer zu suchen. Normalerweise ist meine Lust auf Frauen ausgeprägt, aber ich habe dem Druck kaum nachgegeben. Sams Schutz steht vor allem anderen. Aber jetzt mit Raven in der Nähe, scheint mein Körper auf seinem Recht zur Befriedigung zu bestehen. Was für ein Bullshit, fluche ich innerlich über meine eigenen Gedanken. Ich fühle mich, als würde ich außer Kontrolle geraten. Als würde der Teil in mir, den ich mühsam versuche, zu unterdrücken, jeden Augenblick explodieren. Aber das darf ich nicht zulassen. Ich brauche jetzt meinen Verstand.
Ich nehme die Kanne und fülle Raven und mir Kaffee in die Tassen. Sam schiebt ihr Zucker und Milch zu, aber sie schüttelt den Kopf und bedankt sich. Sie kostet von dem Ei und stöhnt zufrieden. »Das ist wirklich gut, danke.«
»Ich geh dann laufen«, sagt Sam. Er sieht mich mit hochgezogener Augenbraue fragend an, bis ich nicke. Er wirkt auch ein wenig fahrig heute morgen. Seine Finger zucken die ganze Zeit, als wollten sie nach etwas greifen, seine Stirn ist tief gerunzelt. Irgendetwas verstört ihn, wahrscheinlich Ravens Anwesenheit. Er hat nicht viel Kontakt zu Frauen. Schon gar nicht zu Mädchen in seinem Alter.
»Laufen?«, hakt Raven erstaunt nach. Sie mustert mich einen Augenblick verwundert. Dieser Augenblick, in dem ihr Blick nur auf mich konzentriert ist, fühlt sich viel zu intim an. Ich möchte in ihren Augen versinken, in diesem kurzen Moment verharren. Was stimmt mit mir nicht? Was stimmt mit ihr nicht? Wieso hat sie diese Wirkung auf mich? Ihre Nähe ist wie eine Qual. Eine, die ich nur zu gerne auf mich nehme, wenn das bedeutet, dass ich sie nicht loslassen muss. Irgendwie hat unsere Nacht in einem Bett alles verändert. Ich bekomme sie einfach nicht mehr aus meinem Verstand. Die ganze Nacht schon war sie immer da. In meinen Gedanken und in meinen Eingeweiden. »Hast du keine Angst, dass jemand ihn sehen könnte?«
»Du klingst, als wärst du besorgt«, werfe ich grinsend ein und balle fahrig meine Hände zu Fäusten, um meine Gedanken auf etwas anderes als auf meine Erregung zu fokussieren.
»Bild dir bloß nicht ein, ich wäre um dich besorgt. Ich will nur nicht, dass Sam etwas zustößt. Du hast selbst gesagt, dass mein Vater hinter ihm her ist«, schnaubt sie und mustert Sam, der kopfschüttelnd abwinkt, weil ihm ihre Sorge unangenehm ist.
Er beschäftigt sich mit dem schmutzigen Geschirr und räumt es in die Spüle. »Hier draußen ist sonst niemand außer uns. Ich laufe durch den Wald, der gleich hinter dem Haus beginnt.«
»Aber könnte es nicht sein, dass mein Vater …«, wirft sie mit gerunzelter Stirn ein und sieht mich hilfesuchend an.
Ich grinse noch breiter, als mir bewusst wird, dass sie sich ernsthaft Gedanken um Sam macht, obwohl sie ihn kaum kennt und er nicht gerade dazu beiträgt, dass ich sie freilasse. Zuerst war ich mir sicher, ihre Sorge wäre gespielt und sie würde sich vielmehr dafür interessieren, ob sich aus Sams Abwesenheit eine Möglichkeit zur Flucht ergeben würde. Aber ihre Augen sind geweitet und ihre Lippen leicht geöffnet, ihre Atmung beschleunigt. Ihre Furcht ist also echt. Mein Blick heftet sich auf ihren Hals, wo ich deutlich sehen kann, wie ihr Puls flattert. Der Gedanke, dass sie sich um meinen Bruder sorgt, gefällt mir irgendwie. Fühlt sich aber auch schlecht an, weil ihre Sorge noch mehr auf mein Gewissen drückt.
»Niemand wird ihn hier entdecken, und ich würde ihm nie verbieten, zu laufen. Den ganzen Tag hier eingesperrt, seit Wochen, im Moment ist das die einzige Möglichkeit für ihn, hier mal rauszukommen«, erkläre ich ihr und nicke Sam noch einmal zu. Ich kann ihr nicht sagen, warum es wichtig ist, dass Sam laufen kann, weswegen es für sie wahrscheinlich nicht nachvollziehbar ist, dass ich ihn in Gefahr bringe. Aber nicht zu laufen, wäre auch gefährlich.
»Nicht lange«, sage ich zu ihm. »Du musst dich vorbereiten. Sobald Will mehr weiß, fahrt ihr los. Du packst dann am besten gleich, was du brauchst.«
Er verzieht das Gesicht, weil er noch immer nicht glücklich mit meinen Plänen ist, aber er wird nicht länger darüber diskutieren, er weiß, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als zu tun, was ich sage. »Ich bin in einer Stunde zurück, spätestens«, fügt Sam an und auf sein Gesicht tritt ein erleichtertes Leuchten. Ich kann seine Vorfreude verstehen, ich würde auch gerne dort rausgehen und einfach nur laufen, bis ich am Ende meiner Kräfte bin, mein Körper von Adrenalin geschwängert ist und jeder Muskel vor Erschöpfung brennt. Aber das muss warten. Wahrscheinlich wartet es schon zu lange und ich fühle mich heute deswegen so gereizt.
»Iss«, sage ich zu Raven, als sie mich nur weiter nachdenklich anstarrt.
Sie schiebt sich eine Gabel voll Ei in den Mund und verzieht theatralisch das Gesicht. »Ich esse, siehst du?«
»Ja, ich sehe es«, antworte ich und trinke meine Tasse Kaffee aus, nur um sie gleich wieder zu füllen. Ich stehe mit der vollen Tasse in der Hand auf und lehne mich gegen den Kühlschrank, in der Hoffnung, dass die Entfernung zwischen ihr und mir dafür sorgt, dass mein heiß gelaufener Körper sich endlich beruhigt.
»Also, was tun wir heute so den ganzen Tag?«, will Raven wissen, ihre Stimme trieft nur so vor Sarkasmus.
»Ich bin nicht dafür zuständig, für dein Unterhaltungsprogramm zu sorgen. Aber wenn du darauf bestehst, dann hätte ich den einen oder anderen Vorschlag«, füge ich breit grinsend an.
Raven verzieht abfällig das Gesicht, aber in ihre Wangen steigt eine Hitze, die meinen Puls beschleunigt. Ich verstecke meine Reaktion hinter meiner Kaffeetasse, tanke zügig große Schlucke und weiche ihrem Blick aus. Als es an der Tür klopft, bin ich froh, dass mir das einen Grund gibt, die Küche zu verlassen. »Sitzenbleiben«, knurre ich Raven an, als gäbe es irgendeine noch so winzige Möglichkeit, dass sie dieses Knurren als das versteht, was es ist: ein Befehl.
»Will«, begrüße ich meinen Onkel, trete zur Seite und lasse ihn ins Wohnzimmer.
»Für euch.« Will drückt mir eine Tüte mit weiteren Lebensmitteln in die Hand und wirft einen Blick an mir vorbei. »Wo ist sie?« Auf seine Lippen tritt ein vielsagendes Grinsen. Er schiebt sich an mir vorbei, tätschelt Sultans Kopf im Vorbeigehen und bleibt im Türrahmen zur Küche stehen. »Guten Morgen, wie geht es heute? Wie war die Nacht?« Er hüstelt und sieht mich über die Schulter zurück an.
»Du blockierst die Tür«, stoße ich genervt aus, die Papiertüte noch immer in den Armen. Will weicht in die Küche aus und lässt mich an sich vorbei.
»Die Matratze war so … unbequem wie der Gastgeber«, sagt Raven und sieht mich mit wütend funkelnden Augen an. Sie steht vom Tisch auf und stellt ihr Geschirr in die Spüle. Ihr Blick geht nach draußen, wo hinter dem Haus in etwa 500 Metern der Wald beginnt, in dem Sam gerade verschwunden ist.
»Sie macht sich Sorgen um Sam. Der war heute Morgen etwas angespannt«, erwähne ich und beginne damit, die Tüte auszuräumen.
Will brummt düster. Seine Stirn ist in Falten gelegt und er mustert Raven mit einem Blick, der mich nervös macht. Ich kann fühlen, dass sich etwas an Wills Haltung verändert, sich jeder Muskel in seinem Körper anspannt, als wäre er in Alarmbereitschaft. Als er seine Hände zu Fäusten ballt und mir einen Blick zuwirft, der so zornig ist, dass mich ein warnender Schauer durchläuft, werde ich nervös und lege die Packung Frühstücksspeck, die ich eben in den Kühlschrank legen wollte, zurück auf den Tisch. Ich habe Will schon wütend erlebt, aber in seinem Blick liegt viel mehr als Wut. Er ist entsetzt. Etwas stimmt ganz und gar nicht und ich weiß nicht, was es ist.
»Was ist los?«, will ich wissen und runzle verwundert die Stirn. Das Tier in mir fühlt sich so sehr alarmiert, es will sich schützend vor Raven stellen, obwohl Will niemals eine Gefahr für sie sein könnte, solange er das Moonshine nimmt, das Sherwood allen Abtrünnigen aufzwingt. Ich strecke trotzdem meine Nackenmuskeln, meine Finger und Arme und fühle, wie sich Schauer über meinen Rücken wälzen. Der Wolf in mir ist bereit, sich auf Will zu stürzen, um Raven zu retten.
»Komm sofort mit«, brüllt Will mich wütend an.
Ich sehe zu Raven, die sich mit geweitetem Blick zu uns umsieht und runzle die Stirn. »Was soll das, Will? Du musst besser aufpassen, wenn Sherwood mitbekommt, dass du das Moonshine nicht nimmst, wird er dich umbringen.«
»Hier geht es nicht um das verdammte Moonshine. Außerdem nehme ich es und bestehe jeden Test, dem seine Jäger mich unterziehen. Du solltest das wissen«, wirft er mir vor.
Ich bin einer dieser Jäger und ich weiß es besser. Trotzdem mache ich mir Sorgen um Will, denn er wird seine Kleinstadt niemals verlassen. Er liebt sein menschliches Leben, das er sich hier aufgebaut hat, weil es weit weg von den Kriegen ist, die unser Leben beherrscht haben. Sollte er sein Moonshine nicht nehmen und sich nicht regelmäßig auf der Farm melden, um neues zu bekommen und sich überprüfen zu lassen, wird der nächste Jäger, der vorbeikommt, ihn töten. Aber selbst, wenn er aus der Stadt flüchten würde, früher oder später, finden die Jäger jeden flüchtigen Abtrünnigen. Sherwood lässt keine Verletzung der Regeln zu, er will immer über jedes Mitglied des Clans die volle Kontrolle. Über kurz oder lang geben die meisten Abtrünnigen auf und schließen sich der Farm an, weil der Druck, den Sherwood und seine Jäger ausüben, zu groß wird. Weswegen es ohnehin nur noch wenige Abtrünnige gibt, die außerhalb der Farm leben.
Will kneift die Augen zusammen, fährt sich durch die Haare und wendet sich von Raven ab. »Sieh zu, wir müssen reden«, flüstert er wütend. Ich verstehe nicht, was ihn plötzlich so aufgebracht hat.
»Was soll das?«, schreie ich Will draußen vor dem Haus an und lasse die offen stehende Tür hinter ihm nicht aus den Augen.
»Konzentrier dich«, knurrt Will. »Willst du mir erzählen, dass du es nicht mitbekommen hast?«
»Was mitbekommen?« Ich sehe ihn ratlos an.
Will schüttelt den Kopf und reibt sich lachend über seine Wangen. Er sieht zur Haustür und schüttelt noch einmal den Kopf. »Hol Luft«, verlangt er. »Konzentrier dich auf ihren Geruch.«
Raven bleibt im Türrahmen stehen, sie beobachtet uns, ihre Hand liegt auf Sultans Rücken, der seinen Körper vor ihre Beine geschoben hat, um sie nicht aus dem Haus zu lassen. Sein Blick ruht aufmerksam auf mir. Es braucht nur ein Zeichen von mir, und er würde seine Zähne in Ravens Fleisch vergraben, um zu verhindern, dass sie entkommen kann. Trotzdem lasse ich sie nicht aus den Augen, denn sie wird auf keinen Fall dieses Haus verlassen. Nicht, solange ich sie brauche. Nicht, solange ich sie hier bei mir haben will.
»Ich weiß nicht, was du willst. Was ist denn los mit dir? Was macht dich so wütend?«, fahre ich ihn fassungslos an. Gestern Abend war alles noch in Ordnung und plötzlich führt er sich auf, als wäre Raven eine Kriminelle.
Will stöhnt genervt. »Streng dich an. Konzentriere dich darauf, wie sie riecht. Und dann sag mir, dass hier nicht irgendwas verdammt falsch läuft.«
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf nichts anderes, als auf sie. Ich atme ihren Duft ein, der seit vergangener Nacht auch auf meiner Haut klebt, obwohl ich versucht habe, ihn unter der Dusche loszuwerden. Sie riecht noch immer fruchtig-süß, sommerlich, aber die erdige Note, die ich schon vorher schwach bemerkt habe, ist jetzt deutlich stärker hervorgetreten. Sie dominiert ihren ursprünglichen Geruch, überlagert ihn. Es ist diese Note, die an mir zerrt und mir das Gefühl gibt, meinen Verstand zu verlieren, wenn ich sie nicht verschlingen kann. Wenn ich sie nicht sofort besitzen kann.
Ich balle meine Hände, als eine weitere Welle Gefühlschaos mich trifft und sich das Raubtier gegen meinen Willen wirft, um aus seinem Gefängnis ausbrechen zu können. »Was hat das zu bedeuten?«, stoße ich unbeherrscht aus, ohne den Blick von Raven zu nehmen, die mich noch immer fixiert. Selbst von hier aus kann ich sehen, dass sich ihr Brustkorb unter schweren Atemzügen hebt und senkt. Auch sie kämpft gegen einen unsichtbaren Feind an.
»Sie verwandelt sich«, sagt Will mit unterdrückter Stimme. »Sie ist eine von uns, was eigentlich unmöglich sein sollte.«
Ich versuche, mich auf Will zu konzentrieren, aber es fällt mir schwer, mich von Raven zu lösen. All meine Instinkte fordern, sie von Will wegzuschaffen. Mich mit ihr allein irgendwo zu verschanzen und keinen anderen Mann in ihre Nähe zu lassen. Ich sehe Will an, der die Arme vor der Brust verschränkt und eine Augenbraue hochzieht, als er bemerkt, dass jeder Muskel meines Körpers zittert.
»Du hast ein verdammt großes Problem, mein Junge, und du weißt es noch nicht einmal. Aber ich freue mich, dir dabei zusehen zu dürfen, wie du es herausfindest.«
»Dass sie eine Wölfin ist?«, will ich verwirrt wissen.
»Nein, das ist offensichtlich«, antwortet er. »Das meine ich nicht, aber du wirst es früh genug kapieren. Wenn sie die Wandlung überlebt.«
Ich schüttle den Kopf, und ignoriere Wills verwirrende Andeutung. Viel wichtiger ist, wie das alles hier überhaupt passieren kann. »Wie kann sie eine Wölfin sein? Sherwood ist ein Halbblut. Seine Exfrau ist ein Mensch. Wir bekommen keine Kinder mit Menschen. Ein Halbblut kann nur menschliche Kinder zeugen.«
»Haben wir gedacht, aber wir haben auch gedacht, ein Gebissener könnte niemals Alpha sein.« Will zuckt mit den Schultern, aber seiner verstörten Grimasse kann ich deutlich ansehen, dass er so wenig begreift, was hier passiert wie ich. »Ich weiß es nicht, aber das Arschloch hat es geschafft. Seine Tochter ist eine Wölfin.«
»Noch ist sie keine Wölfin. Wenn sie es überlebt, ist sie eine Wölfin«, murmle ich. Ich fühle mich merkwürdig in ihrer Nähe. Will dagegen wirkt völlig entspannt, seit er den ersten Schock überwunden hat. Da ist nur dieses breite Grinsen in seinem Gesicht. »Sie wäre die erste junge Wölfin seit sechzehn Jahren. Die Einzige, die jung genug wäre, um noch Kinder zu bekommen.«
»Die erste seit Ende des Kriegs.« Ich betrachte Raven, die sich noch immer von Sultan zurückhalten lässt. Sie wirkt ein wenig blass heute Morgen, sonst sieht man ihr die Wandlung nicht an. Wenn sie gebissen worden wäre, hätte die Wandlung durch das Gift fast sofort eingesetzt, deswegen überleben nur wenige Menschen. Das Gift hätte einen sauren, eitrigen Geruch verströmt, der aus jeder ihrer Poren gedrungen wäre. Es wäre mir unmöglich gewesen, es nicht zu bemerken. Der Gestank ist für Menschen nicht wahrzunehmen, aber für uns ist er das. Außerdem wäre sie längst tot. Weil der menschliche Körper nur selten die Gewalt einer Wandlung überlebt. Frauen überleben nie.
»Vielleicht wurde sie doch gebissen«, werfe ich trotzdem ein, obwohl ich weiß, wie absurd das ist. Ich ringe um eine Erklärung, denn Raven dürfte gar nicht existieren. Meine Mutter war eine der letzten auf diesem Kontinent und schon seit ein paar Jahren zu alt, um Kinder zu bekommen. Ich kenne nur noch Bobbys Frau, die schon weit über 100 Jahre alt ist. Die Vollblutwölfe sind schon seit einer Weile dazu verurteilt, auszusterben, weil wir keine Kinder mehr bekommen können ohne unsere Gefährtinnen. In ein paar Jahrzehnten, wenn die letzte Generation, zu der Sam und ich zählen, verstorben ist, wird es nur noch Gebissene geben.
»Hast du sie gebissen?«, hakt Will nach und zieht eine Braue hoch. Er drängt mich weiter auf den Sheriffwagen zu und bringt so mehr Abstand zwischen uns und Raven. Offensichtlich will er nicht, dass sie uns weiter zuhören kann.
»Habe ich nicht. Außerdem wäre sie dann schon tot.« Ich stoße ratlos die Luft aus. »Das hätte sie nicht überlebt. Manche Männer schaffen es. Aber Frauen? Du weißt selbst, dass das so gut wie nie vorkommt. Ich kenne keine einzige Frau, die das überlebt hat. Sie muss so geboren sein«, überlege ich, obwohl ich es selbst nicht glauben kann. »Vielleicht hat Sherwoods Ex geschafft, was wir immer für unmöglich gehalten haben«, spekuliere ich. Hinter meinen Schläfen hämmert es. Ich kann mich kaum konzentrieren, weil ich nur daran denken kann, Raven weg von Will zu bringen. Das Tier in mir zerrt an seinen Ketten und will Raven unbedingt beschützen. Dabei ist Will keine Gefahr für sie.
»Vielleicht hat er seine Frau gebissen und sie hat tatsächlich überlebt. Es soll schon passiert sein, dass eine menschliche Frau stark genug war. Und wenn sie stark genug war, den Biss zu überleben, dann vielleicht auch, um ein Kind zu bekommen.« Wills Zweifel ist deutlich in seiner Stimme zu hören. Will schüttelt entschieden den Kopf und sieht zu Raven, die sich mit einer Hand am Türrahmen festhält und winkt frustriert ab. »Warum interessiert uns das überhaupt, wie es dazu kam, dass die Frau dort eine Wölfin ist? Der Punkt ist, sie ist eine. Und du warst der einzige Wolf, der ihr nah genug kam, um die Wandlung auszulösen.«
Ich schüttle entschieden den Kopf und knurre Will an. »Ich war nicht der Einzige. Sam und du. Wir kommen alle infrage.«
Will knurrt zurück. »Keiner war ihr so nah wie du. Diese Sache musst du durchziehen. Allein. Sam ist zu jung und ich will damit nichts zu tun haben. Nie wieder«, fügt Will an und sieht mich ernst an. Will hat vor 16 Jahren im letzten Kampf seine Gefährtin verloren, seither ist er als Abtrünniger unterwegs. Er hat sich vom Rudel losgesagt, den Clan verlassen und alles, was unser Leben betrifft, hinter sich gelassen. Er hat es in der Nähe von Wölfen nicht mehr ausgehalten. »Du wirst dich darum kümmern müssen«, stößt Will aus und löst sich von mir in dem Augenblick, in dem Sam aus dem Wald tritt.
Ich starre ihn hilflos an. Wie kann er glauben, dass ich das schaffe? Ich hab es kaum bei Sam geschafft, zuzusehen, wie er um sein Überleben kämpft. Bei Raven kommt dazu, dass der Wolf in mir sich zu Raven hingezogen fühlt. Zumindest verstehe ich jetzt, warum ich ihr von Anfang an kaum widerstehen konnte. Warum mich alles zu ihr hingezogen hat. Mein Tier hat es schon vor Tagen gewusst, ich habe nur nicht zugehört.
Sam schlüpft in sein Shirt und mustert uns verwirrt, während er die Straße überquert. »Warum steht ihr hier draußen? Ist was passiert?«, will er wissen. Sein Blick geht von mir zu Will und vorsichtig zu Raven, die noch immer mit Sultan im Türrahmen steht und uns anstarrt, als wisse sie nicht, ob sie uns lieber zerreißen oder einen neuen Fluchtversuch wagen soll.
»Du kommst erstmal mit zu mir«, sagt Will knapp und wirft mir einen warnenden Blick zu, als ich protestierend Luft hole. Er umgreift meinen Oberarm, zieht mich ein Stück von Sam weg und sieht mich ernst an. »Du kannst Sam das nicht antun. Er hat zugesehen, wie seine Mutter umgebracht wurde. Willst du ihn jetzt zusehen lassen, wie diese Frau während ihrer Wandlung draufgeht? Er hat seinen Wolf nicht unter Kontrolle, weil seine Wandlung erst ein paar Monate her ist. Wenn er unter dem Stress zusammenbricht, wie willst du auf beide aufpassen?«, stößt er flüsternd aus.
Ich lache bitter auf. Sam hat seinen Wolf nicht unter Kontrolle, weil er ihn nicht akzeptiert. Deswegen hat er auch das Moonshine genommen. Ein weiterer Protest gegen Sherwood, mit dem er ihm zeigen wollte, wie wenig er in ihm seinen Vater sieht. Ein Protest, der so viel Schmerz ausgelöst hat und mich manchmal noch immer wütend auf ihn macht. Ich schiebe den Gedanken schnell von mir. Ich darf nicht vergessen, dass Sam noch ein Kind ist. Er hat einen Fehler begangen und wir alle haben bitter dafür bezahlt. Aber er ist auch mein Bruder.
»Was ist denn hier los?«, will Sam ungeduldig wissen.
Ich sehe Raven an, die versucht, sich an Sultan vorbeizuschieben. »Bleib!«, warne ich sie eindringlich und untermauere meinen Befehl mit einem dunklen Knurren. »Bei dir ist er nicht sicher genug«, werfe ich ein. Will lebt in einer Kleinstadt etwa 30 Meilen von hier. Sherwoods Jäger kennen seinen Wohnort, weil sie ihn, wie alle Abtrünnigen, regelmäßig kontrollieren.
»Ich will wissen, was hier los ist«, verlangt auch Raven harsch.
»Ich erklär dir gleich alles«, antworte ich ihr und wende mich Sam zu. Ich ignoriere das sich wild aufbäumende Monster in mir, das immer lauter tobt, je länger der Sheriff sich in Ravens Nähe aufhält. »Will hat recht, du gehst besser mit ihm. Die nächsten Tage willst du nicht hier sein.«
Sam schnappt nach Luft. »Aber was ist denn los?« Er versteht es genauso wenig wie ich. Das hier ist für uns völlig neu. Und trotzdem muss ich mich dem stellen, denn was Raven gerade passiert, ist meine Schuld. Und wenn keiner von uns sich dem stellt, dann sind ihre Überlebenschancen bei null. Ich muss es also versuchen.
»Ich erklär dir alles«, sagt Will. »Verschwinden wir hier«, knurrt er Sam an und öffnet die Tür des Autos für meinen Bruder. »Mach dir keine Sorgen um ihn, ich verstecke ihn, bis du diese Sache hier hinter dich gebracht hast.«
Die Sonne brennt heiß auf mein Gesicht und blendet mich, weswegen ich die beiden Männer nur schemenhaft sehen kann. Aber an den wütenden Worten, die sie sich zubrüllen, erkenne ich, dass sich ihr Streit um mich dreht. Nur verstehe ich nicht, was sie sagen. Ich höre die Worte, jede geknurrte Silbe, aber ich verstehe ihren Inhalt nicht. Wandlung? Wölfin? Geboren? Gebissen? Worüber reden sie da? Ich reibe mir über die hämmernde Stirn und versuche, den Schwindel in meinem Kopf durch bloßes Blinzeln zu bekämpfen. Aber er lässt sich nicht vertreiben. Genauso wenig wie der Schweiß, der mir aus sämtlichen Poren dringt. Es sind nur wenige Minuten vergangen, aber ich fühle mich noch deutlich schlechter als vor dem Frühstück. Das letzte Mal habe ich mich so gefühlt, als ich eine Lungenentzündung hatte und Doktor Irvine mich für ein paar Tage in einem der Betten in seiner Praxis behalten hatte. Die Praxis von Doc Irvine war das, was einer Klinik in Black Falls am nächsten kam. Das nächste Krankenhaus war über eine Stunde entfernt. Wenn ich nur krank genug bin, wird Ice mich dann zu einem Arzt bringen? Wahrscheinlich habe ich nur eine Sommergrippe, aber er müsste doch dafür sorgen, dass ich Hilfe bekomme.
Ich schiebe meine Hand in Sultans Fell, als könnte er mir Kraft spenden. Aber das kann er natürlich nicht, weswegen ich mich mit der anderen Hand am Türrahmen festhalte. Wahrscheinlich sollte ich mich drinnen auf das Sofa setzen. Noch besser sollte ich verlangen, dass Ice mich zu einem Arzt fährt. Und wenn ich reingehe, könnte ich meine einzige Chance zur Flucht verpassen. Die beiden sind so versunken in ihrem Gespräch, vielleicht könnte ich es in meinen Pick-up schaffen, den Ersatzschlüssel hinter der Sonnenblende hervorholen und losfahren, bevor sie mich aufhalten können. Ich müsste das Risiko eingehen, dass Sultan sich in mir verbeißt, aber wenn ich mich gedanklich mit dem Schmerz abfinde, wäre ich vorbereitet und könnte ihn ignorieren. Oder ich versuche, Sultan ins Haus zu drängen. Immer ein kleines Stückchen. Solange, bis ich die Tür vor seiner Nase zuwerfen kann. Wenn meine Beine sich nur nicht anfühlen würden wie Wackelpudding.
Ich mache eine winzige Bewegung, löse mich nur wenige Zentimeter vom Türrahmen, aber Ice bemerkt es sofort. Sein Blick richtet sich auf mich und er befiehlt mir mit grollendem Ton, zu bleiben. Seine Stimme streift über meine Haut und löst ein merkwürdiges Gefühl in meinem Nacken aus. Als würden sich meine Haare aufstellen. Meine Muskeln erstarren und sträuben sich, sich weiter zu bewegen. Sultan drückt seine Schnauze gegen meinen Oberschenkel und blockiert meinen Fluchtversuch zusätzlich. Zornig über mich selbst, stütze ich mich wieder gegen den Rahmen.
In diesem Augenblick kommt Sam auf der anderen Seite der Straße aus dem Wald. Er zieht sich sein Shirt über den Kopf und mustert Ice und Will verwundert. Sam sieht gar nicht aus, als wäre er gelaufen. Da ist kein Glanz auf seiner Stirn, sein Gesicht ist nicht gerötet und er atmet auch nicht hastig.
Was auch immer gesagt wird, geht in dem Rauschen in meinen Ohren unter, das von einem erneuten Schwindelanfall ausgelöst wird. Ich schließe die Augen, aber das war ein Fehler, denn als ich sie wieder öffne, dreht sich die Welt noch schlimmer. Ich kämpfe, bis ich wieder klar sehen kann. Es müssen Sekunden vergangen sein, denn als ich aufsehe, steigt Sam gerade in das Auto des Sheriffs und Ice kommt mit angestrengter Miene die wenigen Stufen zur Veranda hoch.
»Rein mit dir«, sagt er streng.
Ich will mich weigern, aber er packt meinen Oberarm und zwingt mich unnachgiebig in das Haus zurück.
»Warum ist Sam weggefahren?«, bringe ich atemlos hervor.
Ice wirft die Tür hinter uns zu. Sultan trottet zufrieden in die Küche und legt sich auf die alten weißen Fliesen. Ihm ist wohl auch zu warm heute. »Wir müssen reden.«
»Über was?«, will ich wissen.
Ice drängt mich auf das Sofa zu. Ich will mich dagegen wehren, dass er mich herumschubst, als wäre ich ein lästiger alter Sack, aber ich fühle mich zu schwach, um zu streiten, also lasse ich mich auf die Sitzfläche fallen, versuche aber mein Bestes, Ice nicht bemerken zu lassen, dass etwas nicht mit mir stimmt. Im günstigsten Fall habe ich irgendwas, das mich töten wird. Dann kann Ice mich nicht länger gefangen halten. Ich muss fast grinsen bei der Vorstellung. Andererseits: Würde ich in seiner Gefangenschaft sterben, würde mein Vater Ice und Sam wahrscheinlich erst recht töten wollen. Auch wenn es nicht so sein sollte, aber der Gedanke, Ice könnte etwas zustoßen, stört mich. Ich setze ein möglichst provozierendes Lächeln auf. »Also?«
Ice setzt sich neben mich. Kurz darauf überlegt er es sich anders, geht durch den Raum und nimmt von der Kommode in der Ecke eine Flasche Bourbon. Er gießt sich ein Glas ein, dreht sich zu mir und fragt mich mit einer hochgezogenen Augenbraue stumm, ob ich auch was möchte.
»Um diese Zeit?«, fahre ich ihn entrüstet an.
»Glaub mir, du wirst das hier gleich sehr dringend haben wollen«, stellt er klar.
»Nein, danke«, sage ich und verdrehe die Augen. Habe ich überhaupt schon jemals harten Alkohol getrunken? Solche Drinks erinnern mich zu sehr an meine Mutter. Und ich will auf keinen Fall so enden wie sie. »Also? Was hast du mir zu sagen?«, will ich ungeduldig wissen.
Ich fühle mich gereizt, nur weil Ice dort mit einem Glas Bourbon in der Hand steht. Ich weiß nicht, warum mich der Anblick so wütend macht, dass ich innerlich zittere. Eigentlich sollte es mir egal sein, was er seiner Leber antut. Aber es ist mir nicht egal. Ich fixiere das Glas in seinen Händen und verfolge, wie er es an seine Lippen hebt und auf einen Zug ausleert. Und das zu sehen, lässt meine Wut auf die Größe eines Heißluftballons anwachsen. Ich balle meine Hände und drücke die Nägel so fest in meine Handflächen, dass es schmerzt. So habe ich nicht einmal empfunden, wenn meine Mutter betrunken unseren Trailer vollgekotzt hat.
Ice schenkt sich noch einmal ein, bevor er zurückkommt und sich neben mich setzt. Er stellt das Glas vor uns auf den Tisch, lehnt sich mit der Seite gegen die Rücklehne und mustert mich einen Augenblick. »Wie fühlst du dich?«
»Als ob dich das interessiert?«, fauche ich.
»Du bist wütend«, erklärt er mit einem Zupfen um seine Mundwinkel, das kaum zu erkennen war, weil es so schnell wieder verschwand. Ich habe es nur gesehen, weil ich auf seinen Mund gestarrt habe. Noch immer enttäuscht von der Tatsache, dass er eben Alkohol getrunken hat. Noch weit vor Mittag. Enttäuscht ist nicht das richtige Wort. Mein Puls rast vor Wut. Ich möchte ihn packen und ihm gewaltvoll erklären, wie falsch es ist, sich zu betrinken. Was ist nur los mit mir? Ich versuche, diese Wut mit einem tiefen Atemzug abzuschütteln, weil mir klar ist, dass ich völlig überzogen reagiere.
»Woher willst du das wissen?«
Jetzt lacht er höhnisch auf und beugt sich etwas mehr in meine Richtung. »Weil ich es rieche. Und ich bin auch wütend. Unkontrollierbar wütend. So sehr, dass es mich zerreißt, deswegen brauche ich das hier«, sagt er und hebt mir sein Glas entgegen.
Ich stoße ein abfälliges Schnauben aus. Was er dort sagt, könnte auch aus dem Mund meiner Mutter stammen. Ich kenne alle Ausreden wieso sie jetzt dieses Glas Whiskey braucht. Oder diesen Druck Heroin. »Verarsch mich nicht. Ich schlage vor, du lässt diese Spielereien und sagst mir, was du sagen wolltest. Was ist mit Sam? Wieso ist er eben weggefahren? Brauchst du mich nicht mehr? Wirst du mich jetzt töten?«, rattere ich einen Großteil der Fragen herunter, die meinen Schädel malträtieren. Es ist komisch, aber alles scheint Karussell zu fahren in meinem Kopf. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie versinken in einem Chaos. Überlagert von der Finsternis, die sich immer mehr in den Vordergrund drängt, als wolle sie mich verschlingen. Als hätte sie vor, mich auszulöschen. So mächtig hat die Dunkelheit in mir sich noch nie angefühlt.
Ice lehnt sich wieder zurück und presst die Lippen aufeinander. »Im Moment bist du die größere Gefahr.« Er zieht eine Braue hoch, als warte er auf meine Reaktion. Was auch immer er erwartet hatte, dass ich ihn auslache, war es nicht. Ice zieht auch die zweite Augenbraue hoch, als ich mir die Tränen aus den Augen wische und den Kopf schüttle.
»Das ist wirklich witzig«, stoße ich atemlos aus. »Aber wie könnte ich Sam gefährlich werden? Ich habe noch niemals jemandem wehgetan, außer dir, als ich dich geohrfeigt habe. Und sind wir doch ehrlich, du hast es verdient.«
Ice seufzt genervt. Er reibt sich über die Wangen, als wäre ich der anstrengendste Mensch, mit dem er es jemals zu tun hatte. Vielleicht hat er recht und ich verstehe nicht, was er von mir will, weil ich ihn nicht verstehen will oder einfach zu dumm bin. Aber vielleicht versteht er auch viel weniger, denn wenn er alle Seiten betrachten würde, dann sitze ich in diesem Moment nur hier neben ihm, weil er es so wollte. Und es ist einfach undenkbar, dass ich jemals eine Gefahr für Sam sein könnte. Ich mag ihn zufälligerweise lieber als seinen Bruder. Sam hat mir nie etwas getan, und doch ist er wie ich oft allein und auf sich gestellt.
»Sieh mich an«, stößt Ice genervt aus.
Ich wische mir die Tränen vom Gesicht, hole tief Luft und schlucke die Wut herunter, die mich dazu gebracht hat, über Ice zu lachen. Er sieht so ernst aus, dass ich das Gefühl bekomme, er sagt die Wahrheit. Zumindest glaubt er ganz fest daran. Und das erschüttert mich. »Also gut, vielleicht sagst du mir einfach, was hier los ist.«
»Du fühlst dich krank, als würden deine Organe kochen, deine Knochen zermahlen werden und deine Gefühle völlig außer Kontrolle geraten.« Er atmet noch einmal tief ein und wirkt dabei, als würde er mich in sich einsaugen. Sein Blick gleitet über meinen Körper und wirkt besorgt. »Es geht dir nicht gut, und du weißt nicht warum.«
Ich nicke ergeben, weil ich mir sicher bin, dass es sich nicht lohnen würde, zu lügen. Er kennt die Wahrheit längst. In meinem Hinterkopf warnt mich eine leise Stimme, ich sollte jetzt beginnen wegzulaufen. Denn was auch immer Ice mir gleich sagen wird, es wird alles verändern. Ich sehe es an dem Mitleid in seinem Gesicht. Ich sehe ihn an und fühle mich, als könnte er mir gleich eröffnen, dass ich am Untergang der Zivilisation schuld bin. »Was kannst du schon über mich wissen?«, zische ich ihm in einem letzten Versuch, mich zu retten, entgegen.
Ice presst die Lippen fest aufeinander. Sein Blick geht für Sekunden an mir vorbei. Die Stille zwischen uns breitet sich aus, es ist so leise, gäbe es in diesem Haus Termiten, dann könnte ich sie wahrscheinlich in den Wänden hören. »Du wirst dich verwandeln«, stößt er mit heiserer Stimme aus. Erst jetzt sieht er mich wieder an.
Ich unterdrücke das Lachen, das sich schon wieder meine Kehle hocharbeiten will. Mir gegenüber sitzt ein Mann, der behauptet, ich würde mich verwandeln. »In was? Eine bessere Hausfrau, schlaue Studentin, das nächste Topmodel?«
Gereizt knurrt Ice mich an. »Ich weiß, du versuchst immer hinter irgendwelchen Sprüchen zu verstecken, dass du Angst hast, aber wie wäre es, wenn du für ein paar Minuten den Mund hältst und mir einfach zuhörst?«
Ich möchte Ice am liebsten erwürgen, stattdessen tue ich, was er verlangt hat und verschränke abwehrend die Arme vor der Brust. Ich tue das auch, weil ich mich zu schwach fühle, um weiter zu kämpfen.
»Wahrscheinlich wirst du kein Wort von dem glauben, was ich dir gleich sagen werde. Aber bevor du aufspringst und wegläufst, weil du mich für verrückt erklärst, behalte einfach im Hinterkopf, dass ich es dir gleich beweisen werde. Also hör mir erst zu und warte ab.« Ice wirft dem Glas Bourbon auf dem Tisch einen kurzen Blick zu. »Trink es aus, bitte«, sagt er. Er klingt so eindringlich, dass ich nur eine Sekunde lang zögere, bevor ich das Glas nehme und es mit zitternden Fingern an meine Lippen führe. Ich dränge meine Zweifel zurück und lasse den Schock meine Handlung übernehmen.
»Warum tue ich das?«, frage ich ihn, bevor ich vorsichtig an der scharfen Flüssigkeit nippe.
»Weil es hilft, einen Teil von dir in Schach zu halten. Ruhigzustellen. Ich hab den Bourbon eben getrunken, damit ich es besser in deiner Nähe aushalte. Trink«, befiehlt er mir.
Alles ist total verwirrend und irre. Und ich habe das Gefühl, wir werden nicht weiterkommen, wenn ich nicht nachgebe. Mein Instinkt sagt mir aber, dass wir das müssen. Wir müssen weiterkommen, dieses Gespräch voranbringen, weil etwas Wichtiges gerade in diesem kleinen Farmhaus passiert. Auch wenn es mir völlig zuwider ist, ich ergebe mich. Auch weil ich mich zu schwach fühle, um weiter zu kämpfen. Ich trinke das Glas mit großen Schlucken, ohne meiner Kehle oder meiner Zunge Zeit zu geben, den Bourbon zu fühlen. Ich schlucke einfach weiter, bis das Glas leer ist und sich in meinem Magen Hitze ausbreitet. Erst als es leer ist, erlaube ich mir zu husten und nach Luft zu schnappen. Ich verziehe das Gesicht und lasse mir von Ice den Tumbler abnehmen. Keuchend schnappe ich nach Luft und blinzle gegen die Tränen an. Aber fast sofort fühle ich, wie diese unbändige Wut in mir zurückgedrängt wird, bis nur noch eine kleine Flamme tief in mir zuckt. »Okay«, bringe ich rau hervor.
»Zuerst solltest du wissen, weder Will noch ich können uns erklären, wie das passiert sein kann. Das ist also etwas, das du deinen Vater fragen solltest.« Ice betrachtet seine geballten Fäuste. Er atmet schwer ein und aus und schweigt eine Weile. »Als ich mich in deine Nähe begeben habe, habe ich etwas in dir aufgeweckt. Da gab es schon immer eine dunkle Seite in dir. Etwas, das dir das Gefühl gegeben hat, anders zu sein als die Menschen um dich herum.« Er mustert mich fragend, als wolle er sichergehen, dass er recht hat, also nicke ich.
»Diese dunkle Seite, das ist deine Wölfin. Wölfe sind Rudeltiere. Sie hat in dir auf den Tag gelauert, an dem du auf einen anderen Wolf triffst und alt genug für deine Wandlung bist. Wäre ich nicht nach Black Falls gekommen, wärst du wahrscheinlich bis an dein Lebensende ein Mensch geblieben. Dein Vater wusste, was du bist. Deswegen hat er dich seit Jahren nicht mehr besucht. Und deswegen hat sein Vize nur noch aus der Ferne nach dir gesehen«, erklärt Ice. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er jedes Wort glaubt, das er ausspricht. Aber ich glaube ihm nicht. Trotzdem nicke ich und versuche, nicht in Gelächter auszubrechen. Ich versuche wirklich ernsthaft ihm zu folgen und so zu tun, als würde ich ihn nicht für völlig irre halten.
Aber ich kann ihm nicht glauben, denn ich verstehe noch immer nichts. Ich schüttle verwirrt den Kopf und reibe über meine Wangen. Ich versuche gedanklich seine Worte zu sortieren und ihnen eine Bedeutung zu verleihen, aber ich scheitere an der Sinnfreiheit seiner Aussage. »Also diese Wölfin ist eine Metapher. Du willst mir etwas sagen, aber ich kapier nicht, was. Wieso redest du nicht einfach Klartext. Wofür steht diese Wölfin? Für welche dunkle Seite in mir? Bin ich eine Psychopathin?« Was Ice da redet ergibt für mich so wenig Sinn wie der Müll, den der amerikanische Präsident in den Nachrichten so gerne von sich gibt.
»Das sind keine Lügen, keine Metapher, und du weißt es. Du spürst es unter deiner Haut. Seit ich dich entführt habe noch mehr als jemals zuvor. Es kribbelt überall. Dein Herz fühlt sich an, als wollte es aus deiner Brust springen und rennen. Immer schneller und schneller, bis du völlig außer Kraft bist.« Plötzlich ist Ice mir ganz nah. Er legt seine Hand an meinen Hals, berührt mit dem Daumen meinen Puls. Ein Hitzeschauer wühlt sich durch meinen Körper und löst ein Prickeln zwischen meinen Schenkeln aus. »Und wenn ich dich berühre, hast du das Gefühl, zu verbrennen. Und du kannst nicht genug bekommen. Das Gefühl, mir nahe sein zu wollen, verschlingt dich.«
»Das bildest du dir ein«, spucke ich ihm wütend entgegen. Ich will nicht, dass wahr ist, was er sagt. Ich will ihm nicht nah sein wollen. Aber er hat recht, alles in mir sehnt sich nach ihm.
Ice grinst nervös. Er presst seine geballten Fäuste gegen seine Oberschenkel und atmet zitternd ein. In seinem Gesicht arbeiten die Muskeln und verhärten sich. Er wirkt, als kämpfe er mit sich oder gegen etwas. »Ich wusste, dass das nicht einfach wird. Die meisten von uns wachsen im Rudel auf, sie wissen ihr ganzes Leben lang, wer sie sind. Außer die Gebissenen, die erfahren es so wie du. Ohne Vorbereitung. Und ehrlich, ich bin in so was nicht gut«, windet Ice sich. Er steht auf und sieht auf mich runter. Ich starre ihn noch immer verständnislos an. Wahrscheinlich sehe ich so aus wie ich mich fühle. Als hätte mir jemand das Hirn ausgesaugt und ein Vakuum hinterlassen. »So wird das nicht funktionieren. Ich mache es für uns beide etwas einfacher. Nur lauf nicht weg, Süße. Du würdest nicht weit kommen, weil mein Tier dich niemals gehen lassen würde. Bleib einfach da sitzen und verhalte dich ruhig«, erklärt er stammelnd und fährt sich nervös durch die Haare. Sein Blick gleitet besorgt über mich, und für endlose Sekunden starrt er mich einfach nur an, als wäre er nicht sicher, ob er tun soll, was er vorhat. Aber dann hat er es plötzlich eilig, als wolle er seinen Plan so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er reißt sich das Shirt vom Körper und wirft es neben mich auf das Sofa. Und er zieht seine Ringe von seinen Fingern und legt sie auf den Tisch. Vielleicht hätte ich den Bourbon doch nicht trinken dürfen. Zieht er sich schon wieder vor mir aus?
»Was tust du?«, stoße ich verzweifelt aus, kann aber meinen Blick nicht von seinem muskulösen Oberkörper fortbewegen.
Er lacht und öffnet seine Hose. »Was du gleich sehen wirst, wird dich entweder so schockieren, dass du nur noch hier wegwillst. Oder es wird dich beeindrucken und vor Staunen umhauen. Ich hoffe, dass es das Letzte sein wird. Oder dein Verstand wird kollabieren und nichts mehr von der Frau übrig lassen, die vor mir sitzt und mir mit ihrem frechen Mundwerk so viel Freude bereitet.«
»Ich hab deinen Schwanz schon gesehen, du hast ihn mir schon unter die Nase gerieben. Und mein Verstand funktioniert noch gut, denke ich«, füge ich protestierend an. »Und zur Hölle, was auch immer du hier denkst, was hier läuft, ich werde nicht mit dir schlafen. Also zieh dich wieder an.«
Ice grinst nur dreckig. Er streift seine Hose runter und tritt ein Stück zurück in Richtung der Haustür, und als er jetzt zu mir sieht, scheint es, als würde das Eisblau seiner Augen von innen heraus beleuchtet, ähnlich wie bei einer Katze. Was unmöglich ist. Es muss am Bourbon liegen. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf mein leeres Glas. Ich wusste, das Zeug zu trinken war ein Fehler. Aber als ich Ice wieder ansehe, leuchten seine Augen noch immer. Ich schnappe nach Luft und will gerade etwas sagen, als seine Knochen beginnen, sich unter seiner Haut zu verschieben. Ich höre sie brechen, sehe, wie er sich krümmt, aber ich traue meinen Augen nicht, also blinzle ich wie wild. Trotzdem verschwindet Ice nicht. Das Knacken seiner Knochen hallt in mir nach und lässt mich erschaudern. Ich reibe mir über die Arme, aber sonst bin ich nicht in der Lage, zu fühlen, zu verstehen oder auch nur zu denken. Was ich sehe, kann nicht real sein.
Er geht auf alle viere runter, streckt sich, beugt sich, knurrt und stößt ein lautes, hohes Jaulen aus. Aus den Poren seiner Haut dringen schwarze Haare, sie stellen sich erst auf, dann legen sie sich über seine Haut, bis Ice komplett mit schwarzem Fell bedeckt ist. Ich springe hektisch von dem Sofa auf und stolpere so weit weg, wie es mir in dem kleinen Wohnzimmer möglich ist. Dabei falle ich beinahe über meine weichen Knie. Mein Mund klappt fassungslos auf und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
»Das passiert nicht. Das liegt am Alkohol«, flüstere ich.
Ice antwortet mit einem Bellen, das klingt, als würde er lachen. Seine Finger werden länger, strecken sich über den Boden. Auch sein Gesicht schiebt sich nach vorne, und noch immer höre ich Knochen knacken und Muskeln reißen. Sultan taucht neben Ice auf und schmiegt seinen Kopf an seine Seite. Aus Ice Fingerspitzen und seinen Fußzehen wachsen Krallen, die leise über den Holzboden kratzen. Nach dem nächsten Jaulen steht ein nachtschwarzer Wolf mit leuchtenden blauen Augen vor mir. Dieser Wolf ist mindestens zwei Köpfe größer als Sultan, der ihm die Schnauze leckt, als würde er sich dem größeren und stärkeren Tier unterwerfen.
»Das meintest du also mit Wolf«, stoße ich hysterisch kichernd aus. Ich drücke mich panisch gegen die Wand hinter mir und versuche, mich an ihr entlang zum Fenster zu schieben. Ice hat recht, mein Verstand ist eben dabei, zu kollabieren. Mir muss nur gelingen, es zu öffnen und raus auf die Veranda zu steigen. Mein Gehirn sagt mir, dass es unmöglich ist, dem Wolf zu entkommen. Aber ich muss es zumindest versuchen. Auf die Veranda, ins Auto und weg hier, lege ich mir im Kopf zurecht. Ich lege meine Hand an den Fensterrahmen und will ihn nach oben drücken. Aber der Wolf ist schneller bei mir. Mit einem großen Satz springt er quer durch den Raum und über das Sofa und baut sich mit einem Knurren, das sich durch jede Zelle meines Körpers arbeitet, vor mir auf.
Da steht ein Wolf vor mir. Seine Augen sind unverwandt und drohend auf mich gerichtet, seine Zähne sind gefletscht und angsteinflößend groß. Auf seinem Rücken hat sich das Fell aufgestellt und bildet einen Kamm. Und er knurrt. Sein Atem bläst über mein Gesicht. Seine Schnauze ist nur Zentimeter von meiner Nase entfernt. Wie kann so was überhaupt funktionieren? Das hier kann nicht wahr sein. Unmöglich. Aber in mir drin regt sich etwas. Es ist die Dunkelheit. Sie bewegt sich in meinem Kopf. Diese Leere, die ich schon immer gefühlt habe. Plötzlich fühlt sie sich ganz warm an.
Das Knurren des Wolfs wird noch aggressiver, als ich mich nicht vom Fenster wegbewege, obwohl der Wolf versucht, mich rückwärts wegzudrängen. Sein gewaltiger Kopf drückt sich gegen meinen Oberkörper und dirigiert mich zurück auf die andere Seite des Zimmers. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu tun, was der Wolf verlangt. Erst als ich stehe, wo er mich haben will, erlaubt der Wolf es sich, sich vor meine Füße zu legen. Aber er lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Ich hole zitternd Luft. Vor meinen Augen flimmert es. Vielleicht aufgrund der Angst, die in meinen Knochen sitzt. Oder wegen meiner Schwäche, die ich noch immer in meinen Muskeln spüre. Ich stütze mich auf der kleinen Kommode ab und versuche, meine Nerven zu beruhigen. Aber angesichts der letzten Minuten wird mir das wohl nie wieder gelingen. Vielleicht stehe ich unter Drogen. Etwas muss im Bourbon gewesen sein. Mein Puls rast. Meine Hände zittern. Das Flimmern wird immer stärker. Ich bekomme einfach nicht genug Sauerstoff in meine Lunge.