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Das Fest der Liebe

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Wieder einmal steht Weihnachten vor der Tür. Und wieder überlegt natürlich alle Welt, was wer plant und wie das perfekte Weihnachtsfest aussehen soll. Ich erinnere mich an einen Werbespot, der vor einiger Zeit im Fernsehen gesendet wurde: Ein älterer Herr verschickt zu Weihnachten seine eigene Todesanzeige und lädt zum Leichenschmaus ein. Tatsächlich versammelt sich daraufhin die ganze Familie im Hause des sonst alleinlebenden und einsamen Seniors, völlig überrascht, dass er gar nicht gestorben ist. Er hatte diesen Trick angewandt, um sicher zu sein, dass sich seine ganze Familie mit Enkeln zum Fest der Liebe bei ihm einfinden würde …

Bei meiner Mutter verhält es sich so: Ihr Sohn lebt mit Kindern ungefähr zwei Minuten Autofahrt von ihr entfernt. Seine Einladungen zum Fest lehnt sie stets freundlich ab, mit der Begründung, es sei ihr zu laut, wenn so viele durcheinandersprechen. Sie hat etwas zu kämpfen mit ihrer Schwerhörigkeit, daher ist es in den vergangenen Jahren immer schon ein Problem gewesen, wenn viele Personen in einem größeren Zimmer gleichzeitig reden. Das Weihnachtsprogramm ihrer jüngeren Tochter – meiner Halbschwester – steht auch schon seit langem fest. Dieses Jahr ist eine Reise in ein 5-Sterne-Traumhotel in eine von Wolkenkratzern geprägte Stadt an der Ostküste der USA gebucht – ein lange gehegter Wunsch, den sie sich nun endlich erfüllen kann, da ihr recht vermögender Vater im vorletzten Jahr verstorben ist und sie ihr Erbe angetreten hat. Also kümmern meine Tochter und ich uns wie eigentlich jedes Jahr um Mami und besuchen sie an Weihnachten in der beschaulichen Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Die beiden Jahre zuvor hatte sie es sogar geschafft, für die Festtage zu uns nach München zu reisen. Diesmal aber sei sie zu schwach und wolle lieber in ihrem Zuhause feiern – ein Wunsch, den meine Tochter und ich ihr gerne erfüllen. Somit steht also auch unser Plan: Meine Tochter und ich reisen zum Fest zu Mutter und Oma. Es soll ein gemütlicher und lukullischer Heiligabend werden, wir haben Fisch und Austern eingekauft, und wir wollen es uns gut gehen lassen. Natürlich habe ich dafür gesorgt, dass es viele kleine Geschenke zum Auspacken gibt, und jede von uns eine kleine Freude hat. Nur ich bekomme diesmal nichts von meiner Mutter geschenkt. Das irritiert mich, und ich finde zunächst keine Erklärung dafür. Aber das Festmahl schmeckt vorzüglich, und meine Mutter sitzt entspannt und zufrieden in ihrem Sessel, überglücklich, dieses Fest mit uns feiern zu können. Für mich bedeutet dies die größte Freude des Weihnachtsfestes.

Erst am späteren Abend traue ich mich, sie zu fragen, warum sie denn nicht einmal eine Kleinigkeit, wie sonst eigentlich jedes Jahr, für mich vorbereitet habe, und sie entgegnet: „Du hast schon meinen ganzen Schmuck bekommen!“

Ich bin perplex über diese Bemerkung. Auch meine Tochter ist erstaunt, die diese Worte nebenbei mitbekommen hat. Ich erwidere etwas irritiert, dass ich überhaupt keinen Schmuck von ihr bekommen hätte, sie irre sich. Ich gebe zu, nach all dem, was ich vorbereitet hatte für diesen besonderen Abend, ist das schon eine ziemliche Ohrfeige. Ich kann mir das einfach nicht erklären. Was ist denn bloß los mit ihr? Auch meiner Tochter fällt ihre aggressive Art auf, die wir beide von ihr bisher nicht kannten und uns auch nicht erklären konnten.

Es war am Vormittag schon losgegangen, als wir den Weihnachtsbaum aufstellen wollten, was ich immer gerne übernahm. Dieses Jahr fiel es mir besonders schwer, da ich erkältet war. Das war aber noch nicht das Schlimmste. Vielmehr wunderten wir uns über die Diskussionen, die wir aushielten, wo – um den Baum aufstellen zu können – welcher Schrank und Stuhl nun umgeräumt werden sollte. Entsetzliche Keiferei der Mutter und die störrische Art, darauf zu bestehen, wie etwas genau zu geschehen habe, sonst mache sie es alleine …

Und zuvor, am Vormittag des 24.12., kam noch ein Fleurop-Bote in den Garten – in dem Moment, als der Weihnachtsbaumstumpf beschlagen werden sollte, stand er im Vorgarten. Er brachte ein üppiges Weihnachtsstrauß-Bouquet aus Tannenzweigen und winterlichen Blumen mit riesigen Weihnachtskugeln. Freudestrahlend hielt mir die Mutter diesen Strauß vor die Nase und zeigte mir, wie sehr sie sich gerade freute. Auf mich wirkte das, als sei ihr der Weihnachtskugelstrauß wichtiger als ihr Weihnachtsbesuch, also meine Tochter und ich, die wir uns gerade mit dem Weihnachtbaum quälten. Der Weihnachtstrauß kam von der Halbschwester, die schon im Hotel in den USA weilte. Ich schmiss das Hackebeil auf den Rasen und machte kurzentschlossen erst einmal Pause, ging herein und schnupfte mir meine triefende Nase. Dann kam die Mutter an und fragte, ob der Nachbar den Rest erledigen solle? Ich stimmte dankbar zu, mir war launig. Am ersten Weihnachtstag verabschiedet sich meine Tochter wegen eines beruflichen Engagements wie geplant. Nach dem gemeinsamen Frühstück bringe ich sie zum Bahnhof. Die folgenden Festtage verbringen meine Mutter und ich allein, am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertages hat sich mein Bruder mit Familie zum Tee angesagt. Ich bereite alles vor für die Teegesellschaft, den selbstgebackenen Kuchen meiner Mutter, die Kekse, alles ist fertig für den gemütlichen Nachmittag. Zwei Stunden sind sie zu fünft da. Wie immer enthält sich meine Mutter der Konversation, sie sitzt eigentlich nur da und schaut zu.

Wahrscheinlich versteht sie wieder nichts, dachte ich bei mir. Ein Hörgerät will sie nicht, das scheitert an ihrer Eitelkeit. Dann lieber vereinsamen und allein leben, so muss man auch mit niemanden reden. Meine Mutter trägt ein gewisses Maß an Eitelkeit in sich. Und über Hörgeräte, die man überhaupt nicht sieht im Ohr, will sie schon gar nie etwas wissen, sie kann richtig bockig werden, sobald dieses Thema angeschnitten wird.

Nach zwei Stunden wird der Nachmittagstee aufgehoben, die Geschenke sind ausgepackt, und alle verschwinden wieder.

Meiner Mutter hat der Weihnachtstee sehr gut gefallen, das ist die Hauptsache. Der familiäre Teil des Festes ist somit abgeschlossen.

Ich reise drei Tage später wieder nach München, da ich Silvester zusammen mit meiner Tochter auf einer Party in München verbringen will.

Bis zu meiner Abreise in den Urlaub telefoniere ich täglich mit meiner Mutter, wie gewöhnlich rufen wir uns zur Teezeit an, meist ist es 17 Uhr. Diese Angewohnheit hat sie sich in den vielen Jahren ihres Lebens in England angeeignet, und diese – zurück in der Heimat – auch so beibehalten. Die Gespräche sind ein wichtiger Bestandteil ihres Tages. Sonst hat sie kaum noch Kontakt zu Bekannten, Freunden oder der Familie meines Bruders vor Ort. Sehr viel zu reden gibt es nicht bei den täglichen Klönstunden, aber sie beobachtet die Vögel vor ihrem Wintergarten und erzählt über eine Besuchskatze, die täglich Futter von ihr einfordere. Im Lauf ihres Lebens sind drei ihrer eigenen Katzen an Altersschwäche gestorben , da ist so eine Besuchskatze schon etwas Auflockerndes im Tagesablauf einer älteren Dame.

Als ich nach den anderen frage, also dem Rest der Familie, meinem Bruder und seiner Frau und deren drei Kindern sowie meiner Halbschwester, sagt sie mir: „Seit dem Weihnachtstee habe ich nichts mehr von denen gehört.“

Sie erzählt mir von einem Unfall. Jemand sei ihr vor der Arztpraxis in ihr Auto gefahren, obwohl sie noch auf dem Parkplatz stand. Die Polizei wäre dagewesen, doch sie hätte auf eine Anzeige verzichtet, da die Unfallverursacherin sofort ihre Schuld eingestanden hätte. Gut, denke ich mir, dann wird die Sache schon ihren Lauf nehmen. In den kommenden Wochen sollte sich noch herausstellen, wie überfordert die Mutter mit der Erledigung dieses Versicherungsfalls bereits zu diesem Zeitpunkt war.

Ich realisiere allmählich, dass ich im Januar in die Sommersonne fliegen würde und hoffe, meine Geschwister vor Ort würden sich in den kommenden drei Wochen bei meiner Mutter melden, damit sie nicht so allein sein würde.

Mein Urlaub – am 10. Januar ist es so weit. Das Abschalten und die Wärme der Tropen tun mir gut, und acht Tage nach meinem Abflug habe ich das unbedingte Verlangen, mal wieder mit meiner Mutter zu telefonieren.

Ich muss wissen, wie es ihr geht.

Also rufe ich sie von meiner Urlaubsinsel Mauritius aus an. Inzwischen habe ich mich auch von den Strapazen des Weihnachtsfestes erholt, die aggressive Art meiner Mutter immer wieder versucht zu hinterfragen, die Sache mit dem Schmuck, den ich bekommen haben sollte, aber faktisch nicht bekommen hatte. Das Verhalten meiner Mutter habe ich nun schon etwas verdrängt und Abstand gewonnen. Ich habe es genau acht Tage ausgehalten, sie nicht anzurufen. Aber nun meldet sich mein schlechtes Gewissen, und ich rufe sie unter einer raschelnden Palme auf einem Sonnenstuhl liegend und gegen den tiefblauen Himmel schauend an.

Nach meinem „Hallo Mami, wie geht’s denn so?“, höre ich, wie glücklich sie sei, dass sie von mir höre.

Es gehe ihr so weit gut, sie tue nicht viel, der Januar sei kalt, und die Katze komme täglich vorbei und hole sich ihr Futter ab.

Ich schildere ihr einige Urlaubseindrücke und lasse sie wissen, wann ich wieder zurück sein würde – in circa zehn Tagen gegen Ende Januar. Ich versichere ihr, ich würde mich dann sofort bei ihr melden. Sonst habe sie von niemandem gehört. Wie traurig, dachte ich mir ... Weder in der Adventszeit noch nach Weihnachten kommt jemand auf die Idee, einfach mal bei der kränkelnden Omi und Mutter auf eine Tasse Tee und eine kleine Unterhaltung vorbeizuschauen. So viel Ignoranz macht mich wütend.

29. Januar

Ich lande wieder im kalten und verschneiten München. Noch in der S-Bahn auf dem Weg nach Hause rufe ich meine Mutter an. Sie ist so unglaublich erleichtert zu wissen, dass ich wieder zurück bin. Ab nun kann sie sich sicher sein, dass sie jemanden zum Reden hat, jemanden, der sie aus ihrer Einsamkeit für die Dauer des Telefongesprächs erlöst.

Wir schmieden Pläne für einen Besuch in ihrem Heimatort, ich organisiere eine Übernachtung in einer Pension dort, und sie freut sich, etwas unternehmen zu können. Von nun an rufe ich sie wieder täglich an und unterhalte sie zur Teestunde.

Nach ungefähr einer Woche höre ich es schon an ihrer Stimme: Es geht ihr schlecht. Sie klagt über Benommenheit, Übelkeit, den Kreislauf, der nicht mitspielt, Appetitlosigkeit. Bei meinem letzten Besuch zu Weihnachten hatte ich schon bemerkt, dass sie kaum mehr aß und sie sich auch mit dem Kochen für sich selbst nicht mehr bemühte. Sie aß einfach nichts oder nur sehr wenig. Immer wieder plagten sie Durchfall und Darmprobleme.

Ihr Arzt kann ihr auch nicht helfen. Spreche ich sie darauf an, versichert sie mir, sie esse gesund und koche sich auch etwas. Ich weiß, dass es nicht so sein kann, da reichte an Weihnachten ein Blick in ihren Kühlschrank.

Am folgenden Tag geht es ihr immer noch schlecht. Ich bin rund 600 Kilometer von ihr entfernt und in Alarmbereitschaft. Meinen Tipp, es doch mal mit einem Magen- und Darmmedikament, von dem ich wusste, dass sie es zu Hause hatte, zu versuchen, nimmt sie dankend an. Am nächsten Tag geht es ihr auch wieder etwas besser, sagt sie, doch in den darauffolgenden Tagen klingt sie malade und spricht auch mit sehr schwacher Stimme am Telefon. Meine Geschwister haben sich immer noch nicht bei ihr gemeldet, geschweige denn sie besucht.

Ich muss handeln.

Geschwistergift

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