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„Ihre Mutter will Sie nicht mehr sprechen“

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28. Februar

Plötzlich lehnt auch meine Mutter den telefonischen Kontakt zu mir ab. Als ich ihr verspreche, ich werde mich am nächsten Tag wieder bei ihr melden, sagt sie mir: „Fahr du mal schön in deinen Skiurlaub.“

Das klingt so komisch und unlieb und kalt und nach Abschied – es wundert mich schon, so kenne ich sie nicht.

Sie erwähnt auch ihre Weißgolduhr, die sie mal wieder tragen möchte im Krankenhaus, um so richtig anzugeben ... Diese Bemerkung finde ich blöd, sie klingt so eingeflüstert und ganz und gar nicht nach meiner Mutter. Im Klinikum kommt sie weg, dort wird doch mitunter gestohlen, so denke ich mir und wundere mich.

1. März

Seit heute nun weigert sich meine Mutter, Telefonate von mir anzunehmen. Ich rede mit der Hausleiterin der Kurzzeitpflegeeinrichtung. Man könne sich das nicht erklären, zumal es sonst völlig anders war. Es gibt auch keine Begründung. Die Antwort ist einfach NEIN, und keiner weiß warum. Sehr merkwürdig kommt mir das vor. Am Abend sitze ich in München in meiner Wohnung und bin fix und fertig. Warum will meine Mutter nicht mehr mit mir reden? Ich verstehe das nicht. In meiner Not rufe ich das erste Mal in meinem Leben die Notfallseelsorge an. Fast eine Stunde hört mir eine liebe beruhigende Frauenstimme zu und zeigt Verständnis für meine Situation. Ich verstehe die Welt trotzdem nicht mehr. Vielleicht sollte ich wirklich an meinen lang ersehnten Skiurlaub denken und mich seelisch und auch körperlich darauf einrichten. In sportlicher Hinsicht hatte ich in den Wochen zuvor schon etwas getan, Skigymnastik etc. Aber so richtig freuen kann ich mich nicht darauf. Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob die Mutter gut versorgt sei, ob es ihr den Umständen entsprechend gut geht und wie die ganze Sache weitergehen soll. Was, wenn sie die Kurzzeitpflege in Kürze wieder verlassen muss? So, wie ich sie jetzt einschätzte, würde sie nicht allein zu Hause bleiben können. Das alles sind quälende Gedanken, die meine Urlaubsfreude erheblich beeinträchtigen.

Die Reaktion meiner Mutter macht mich misstrauisch, und deshalb nehme ich mir vor, nach meinem Urlaub den Pflegebericht aus der Kurzzeitpflegeeinrichtung anzufordern.

2. März

Wieder habe ich versucht, meine Mutter telefonisch zu erreichen, und wieder habe ich mir anhören müssen, sie wolle mich nicht sprechen. Wieder erfahre ich nicht den Grund dafür, und wieder muss ich mich mit der Auskunft des Pflegepersonals über den Zustand meine Mutter zufriedengeben. Vermutlich sind mein Bruder und die Halbschwester zu genau diesem Zeitpunkt bei ihr. Als ich ihn anrufe, nimmt er den Anruf nicht an und lässt stattdessen die automatisierte SMS los „Ich kann gerade nicht sprechen.“ Daraufhin ich: „Lieber Bruder, ich mache mir Sorgen um Mami, kann sie seit 2 Tagen telefonisch nicht erreichen. Bitte ruf mich zurück, wenn Du kannst. Danke. Liebe Grüße“

Nach dieser Erfahrung gebe ich auf, sie anzurufen.

3. März

Am nächsten Tag beginnt der Skiurlaub mit meinen Freunden, auf den ich mich schon so lange gefreut oder es zumindest versucht habe. Aber eigentlich kann ich mich nicht wirklich freuen. Ich bin unruhig. Irgendetwas läuft da im Norden ab, und ich weiß nicht, was es ist. So viele Gedanken kreisen in meinem Hirn, aber es hilft nichts, ich muss irgendwie abschalten, und in den Bergen klappt das eigentlich immer sehr gut. Dennoch – richtige Urlaubsfreude fühlt sich anders an.

4. März

Heute nun fahre ich mit meinen Freunden in den Skiurlaub, und es folgen einige Tage, in denen ich versuche, alles komplett auszublenden, mich zu erholen und abzuschalten. Oberflächlich gelingt mir das, aber in mir brodelt es.

10. März

Als ich gerade mit meinen Freunden auf der Alm beim Glühwein sitze, erreicht mich ein Anruf aus der Kurzzeitpflegeeinrichtung, es ist die Vertretungsleitung. Es ginge um den Aufenthalt ihrer Mutter, lässt sie verlauten. Der Pflegevertrag sehe das Aufenthaltsende bis zum 14. März vor. Das sei in vier Tagen, und man frage sich, was denn dann mit der Patientin passieren solle, oder um es direkt auszudrücken: Wo soll sie dann hin? Was dann?, ist die Frage. Es sei bis jetzt nichts ausgemacht,“ sagt die Pflegedienstleitung zu mir. „Ach so, da haben meine Geschwister nichts ausgemacht“, stammele ich am Telefon unsicher.

Das sieht den Geschwistern ähnlich, komisch das kann ich nicht nachvollziehen, sie sind doch dort vor Ort, dann können sie doch abklären, was nach der Kurzzeitpflege passiert, idealerweise schon während des Aufenthalts, damit keine Lücken in der Versorgung entstehen. Gedanklich schüttele ich den Kopf und versuche mich wieder zu fassen und eine Antwort zu finden.

„Ich versuche, meinen Bruder zu erreichen“, verspreche ich, immer noch perplex, und vereinbare mit der Pflegerin einen Rückruf, sobald ich meinen Bruder telefonisch erreicht haben würde.

Ich probiere es anschließend mehrfach bei ihm, doch er geht wieder nicht an sein Telefon, weshalb ich eine Nachricht auf seiner Voice Mail hinterlasse. Ich beschließe, ihm außerdem eine SMS zu schreiben: „Lieber Bruder, ich kann dich nicht erreichen, das Pflegeheim hat angerufen. Für unsere Mutter sind Entscheidungen zu treffen, die ich mit Dir besprechen muss. Bitte melde Dich bei mir. Liebe Grüße an alle.“

Es kommt spontan keine Antwort, und meine Freunde schlagen vor, die nächste Abfahrt zu nehmen. Später dann am Abend, als wir schon wieder in der Ferienwohnung sitzen, kommt die Antwort meines Bruders: „Die Entscheidungen trifft Mutter selbst.“

Das hat gesessen, wie eine Ohrfeige fühlt sich das an. Kein Gruß, kein gar nichts. Nur diese wenigen Worte. Damit beschließe ich allein, dass meine Mutter wohl noch einige Tage in der Kurzzeitpflege bleiben sollte, denn etwas Anderes war ja nicht organisiert, und Absprachen gab es offensichtlich auch nicht. Ich hatte schon einmal versucht, eine 24-Stunden-Pflegekraft anzufragen, da werde ich weitermachen, wenn ich vom Skifahren zurück bin. Allerdings ist mir wohlbewusst, dass meine Mutter sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder nach Hause in ihr Haus in ihre schöne Wohnung zurückzukehren.

Geschwistergift

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