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Patientin wider Willen

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10. Februar

Bei einem unserer täglich zelebrierten Telefongespräche sage ich ihr, dass ich ihren Hausarzt anrufen und einen Besuch bei ihr zu Hause veranlassen werde.

Daraufhin geht alles sehr schnell. Da meine Schwägerin in der Hausarztpraxis arbeitet, kann diese nach meinem alarmierenden Anruf gleich eine Einweisung ins Krankenhaus bei ihrem Chef veranlassen.

Kaum zehn Tage nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub wird die Mutter ins Krankenhaus eingeliefert. Hätte ich diese Entwicklung nicht aus der Ferne wahrgenommen, hätte es wohl noch einige Zeit dauern können, bis eines ihrer dort lebenden Kinder oder Enkel nach ihr geschaut hätten. Nun ist aber mein Bruder doch zur Stelle und fährt sie ins Krankenhaus, packt vorher noch einige Utensilien für sie zusammen, denn unsere Mutter ist nicht mehr in der Lage, dies zu tun.

Wie nur musste die Arme sich die letzten Tage in ihrer Wohnung herumgeschleppt haben? Wahrscheinlich hat sie apathisch in ihrem Lieblingssessel gesessen und den Vögeln beim Fressen zugeschaut. Niemand war da, um mal nach ihr zu schauen. Ja, der Nachbar von oben kam mal und fragte. Es gab eine Vereinbarung zwischen meiner Mutter und den Bewohnern der Wohnung, die über ihrer Wohnung lag. Sollte man bis 9:45 Uhr nichts von ihr hören (Toilettenspülung, Öffnen der schleifenden Wintergartentüre etc.), dann würden die Nachbarn von oben mal nach unten gehen und nach ihr schauen. Aus diesem Grund steckte der Schlüssel ständig von außen an ihrer Wohnungstür, was mir schon immer ein Dorn im Auge war. Außerdem konnten die Nachbarn ja auch nicht immer schauen, sie musste ja ab und zu auch Besorgungen machen ... Aber es sollte noch mehr Anlass zur Unruhe geben.

Am Tag der Einlieferung ins Klinikum durch meinen auf den Plan gerufenen Bruder arbeite ich, und es ist aufgrund meines Urlaubs einiges liegen geblieben. Daher werde ich je nach Auskunft des Arztes entscheiden, wann ich zu Besuch zu meiner Mutter in die 600 Kilometer weiter nördlich gelegene Klinik fahren werde. Fürs Erste ist sie versorgt, ein Telefon am Krankenbett ist auch schnell installiert.

Es stehe ein operativer Eingriff an, so viel sei klar, danach könne man mehr sagen, lassen mir die Ärzte der Klinik ausrichten. Ich warte ungeduldig bis zum nächsten Nachmittag, um endlich mit dem behandelnden Arzt sprechen zu können. Schließlich erreiche ich den diensthabenden Arzt telefonisch. Doch entgegen meiner Erwartung bekomme ich dann nichts Konkretes zu hören, es sollten am nächsten Tag erst noch genauere Untersuchungen folgen. Definitiv habe es mit der Galle zu tun, dies wäre schon an ihrer gelben Hautfarbe zu erkennen, lautet die erste Diagnose. Man müsse den Eingriff am nächsten Tag abwarten. Nun hieß es noch mal warten, und das wieder bis zum Nachmittag – quälende Stunden die zu überbrücken waren, die Mutter und sich selbst bei Laune haltend.

Ich hole über das Internet alle erdenkliche Information ein. Was tun wenn nun doch nicht alles in Ordnung ist, was tun, wenn es irgendwie doch ein schlimmster anzunehmender Fall ist? Was tun, wenn es ein Tumor, ein bösartiger Krebs ist?

Spontan entscheide ich mich, zu ihr zu fahren, allerdings mit der Bahn. Die Entfernung im Winter bei Eis und Glätte und mit den Sorgen um die Gesundheit der Mutter im Kopf sind keine guten Reisebegleiter. Ich will kein Risiko eingehen.

Ich kam am Dienstag an – drei Tage später wollten wir unsere kleine Reise in ihr Heimatdorf antreten, so ist es geplant.

Wie traurig mich das alles macht.

Vom Bahnhof geht es direkt in Krankenhaus. Ich besorge noch einen kleinen Blumenstrauß und eile dann von der Auskunft des Klinikums direkt in ihr Krankenzimmer. Einerseits freue ich mich, sie zu sehen, andererseits bin ich erschüttert über ihr Aussehen, sie ist abgemagert, eingefallen und extrem gelb im Gesicht! Erschreckend – vor nur rund sechs Wochen an Weihnachten sah sie noch wesentlich besser aus. Wie ich sie da sehe, ist mir sofort klar, dass ich unsere gemeinsame Reise in ihren Heimatort definitiv absagen muss. Ihr Gesundheitszustand lässt das nicht zu. Daraus würde nichts – wie schade, sie und auch ich, wir beide hatten uns so darauf gefreut.

Ich umarme und herze sie. Sie fühlt sich genau so abgemagert an, wie sie aussieht. Traurig dieser Anblick – ich muss mit den Tränen kämpfen, will sie nicht zulassen. „Mami, was machst du denn für Sachen“, kommt es verlegen aus mir heraus. „Ach ja, erwidert sie, es geht mir schon besser als vor einigen Tagen. Die päppeln mich hier schon wieder auf.“ Kein Klagen und kein Meckern, ich denke, sie ist einfach froh, versorgt zu sein. Dennoch bemerkt meine Mutter die sich rötenden Augen bei mir, sie kennt mich gut genug. Wir erzählen über dies und das, ich kündige ihr an, dass auch mein Bruder gleich zu Besuch kommen werde, was sie sehr freut. Sie berichtet mir von diversen Besuchen, unter anderem vom Nachbarn und von ihrem Mieter, der die Wohnung über ihr bewohnt und ihr die Tageszeitung gebracht hat. Soweit fühlt sie sich recht gut versorgt, und mittlerweile ist ihr schon nicht mehr ganz so übel. Das beruhigt sie einigermaßen.

So vergeht der Nachmittag. Später kommt mein Bruder wie angekündigt, und nachdem sie mittlerweile einen recht müden Eindruck macht, fahren wir gemeinsam zu meinem Bruder nach Hause.

Wir sind beide sehr besorgt um sie und können uns in die neue Situation noch gar nicht so recht einfinden. Unsere Mutter ist möglicherweise sterbenskrank – so das schlimmste Szenario –, und wir sind mitten drin in der Diskussion, was passiert, wenn sie wirklich einen Tumor hat? Wenn sie ein Pflegefall wird?

„Was kommt da alles auf uns Geschwister zu?“, denke ich laut nach.

„Was kommt alles auf uns beide zu?“, korrigiert mein Bruder mich.

„Warum?“, frage ich ihn verwundert. „Wir sind doch zu dritt?“

„Nein“, entgegnet er, „unsere Schwester ist raus aus der Sache.“

„Aber wieso denkst du das denn?“, frage ich wie aus der Pistole geschossen.

„Na die hat doch da ein Arrangement mit Mutter getroffen, danach informierte sie mich, dass die Pflege unserer Mutter nur dich und mich betrifft.“

„Das wüsste ich aber – wieso sollte das denn so sein?“

Das kommt mir befremdlich vor, dennoch hätte ich meiner Halbschwester derartige Gedanken schon zugetraut.

Sie hatte immer nur das Ziel, mit dem Tag des Ablebens der Mutter und der erforderlichen Sorge davor möglichst nichts zu tun haben zu müssen, daher auch der Vertrag, den sie mit der Mutter abgeschlossen hat. Möglicherweise hatte sie von der Mutter wenig Liebe oder Beachtung in ihren Kindertagen bekommen, aus welchen Gründen auch immer ... Natürlich kann sich so etwas in späteren Jahren auswirken – etwa nach dem Motto: Du hast dich nicht um mich gekümmert, als ich klein war und dich so dringend gebraucht hätte, jetzt habe ich auch keine Zeit für dich. Mich beschleicht der Gedanke, dass an dieser Kausalität etwas dran sein könnte. Das würde auch das Handeln meiner Schwester zu den Weihnachtsfesten der letzten Jahre erklären: Meine Mutter war abwesend, als ich sie gebraucht hätte, jetzt bin ich es auch. So oder so ähnlich.

Doch nach meinem Empfinden trifft das nicht zu, unsere Mutter hat sich gerade um die Halbschwester sehr intensiv gekümmert und gesorgt, als es bitter nötig war – damals, als unsere Mutter nach ihrer dritten Scheidung Hals über Kopf Deutschland den Rücken kehrte und nach England auswanderte. Meinen Bruder hatte es damals schon beruflich in eine andere Stadt gezogen, ich war dabei, mich in Süddeutschland zu etablieren. Zurück blieb ihre jüngste Tochter; gerade Anfang zwanzig, ohne Schulabschluss oder Ausbildung und – mittelos und zerstritten mit ihrem Vater.

Der innige Kontakt zu meiner Halbschwester war schon seit den letzten fünf Jahren abgebrochen. Keiner aus der Familie konnte mir klar sagen, warum. Nicht einmal meine Mutter, die sich doch auch gern schon das eine oder andere Mal entweder absichtlich oder unabsichtlich verquatschte. Angeblich sei sie neidisch auf mich, hörte ich hier und da mal. Worauf denn?, denke ich mir. Auf meine Ehe, die ich beendete? Meinen stressigen Job? Oder meine Selbstständigkeit? Oder meine hübsche und talentierte deutschafrikanische Tochter? Was meiner Ansicht der einzige in Frage kommende Grund hätte sein können. Mitleid bekommst du geschenkt, Neid muss man sich erarbeiten ... Ich fand nicht, dass man auf mich neidisch sein kann, und somit war diese Argumentation für mich nicht nachvollziehbar. Alles Unsinn, beendete ich diesen Gedankengang. Wahrscheinlich sind da andere Dinge im Spiel. Doch welche?, fragte ich mich oft genug, denn der Zustand machte mich bald traurig, nachdem die erste Verletzung über den Abbruch des Kontakts meiner Halbschwester zu mir bei mir abgeklungen war.

Ich bedauere, dass wir als Geschwister keinen guten Kontakt zueinander haben. Dies wirkt sich auch auf unsere Mutter aus. Sie ist wirklich betrübt darüber. Wenn wir uns zu ihren Geburtstagen treffen und meine Halbschwester anrollt, mache ich immer einen großen Bogen um sie. Ich will nicht im gleichen Raum sein wie sie. Ich will diese negative Energie, die nach meinem Empfinden an ihr haftet, nicht empfangen. Sie ist mir mit den Jahren so fremd geworden, dass ich mich selbst wundere, über wen meine Mutter da manchmal erzählt, wenn sie von ihrer anderen Tochter spricht, was mich generell auch nicht interessiert, aber das interessiert wiederum meine Mutter nicht. Im Übrigen war es ja meine Halbschwester, die den Kontakt zu mir schon seit Jahren abgebrochen hatte, sie wird sicherlich ihre Gründe gehabt haben, die mir aber seit jeher verborgen geblieben sind.

Nach dem lieben Empfang im Hause meines Bruders und der Einladung meiner kränkelnden Schwägerin auf eine Tasse Tee, gehe ich anschließend ein paar Straßen weiter zum Haus der Mutter. Zu Fuß mit meinem Rollköfferchen dauert das circa zwölf Minuten. Mein Bruder hätte mich auch gefahren, aber mir tut ein Spaziergang gut, auch wenn es kalt ist und der Wind mir meine Haare um die Ohren weht.

Was mir weniger gut tut, ist die Ankunft in der Wohnung meiner Mutter, ohne dass sie anwesend ist. Mich überkommt ein mulmiges Gefühl. Ich bekomme Angst. Sie wirkte ziemlich kraftlos in ihrem Bett im Krankenhaus. Was nur, wenn es ihr schlechter ginge? Was nur, wenn sie länger im Krankenhaus bleiben müsste? Ich versuche mich abzulenken, indem ich mit meinen ehemaligen und langjährigen Schulfreundinnen telefoniere. Aber allein und ohne meine Mutter in ihrer Wohnung zu übernachten, ist schon ein sehr beklemmendes Gefühl. Ich habe keinen Appetit, eine Tasse Tee zum Abend reicht mir als Abendessen.

Nachdem ich in dieser ersten Nacht kaum ein Auge zugetan habe, rufe ich gleich morgens in der Früh im Krankenhaus an, um zu erfahren, wann ich den behandelnden Arzt sprechen könne. Am späten Vormittag, heißt es, also packe ich gleich einige Dinge ein, die meine Mutter in der Klinik braucht, zum Beispiel das Nachthemd, was ich ihr zum vorletzten Weihnachtsfest geschenkt habe, und leihe mir für die weiteren Fahrten ihr kleines Auto aus. So mache ich das immer, wenn ich mit der Bahn zu ihr zu Besuch komme.

Heute geht es ihr etwas besser, stelle ich unmittelbar nach dem Eintreten in ihr Zimmer fest. Ihre Gesichtsfarbe ist weniger gelb, und sie spricht etwas flüssiger als am Tag zuvor. Endlich, nach einer Stunde Besuchszeit kommt auch der behandelnde Arzt. Er steht links neben dem Krankenbett am Fußende, ich auf der gegenüberliegenden Seite ihres Bettes, und wir hören nun, was er nach den erfolgten Eingriffen und den ihr gelegten Stands versucht, uns mitzuteilen:

„Wir haben die Gallengänge ihrer Mutter mit Hilfe der eingesetzten Stands wieder freilegen können, und ihrer Mutter geht es auch schon wieder etwas besser deswegen. Allerdings werden wir das wiederholen müssen, etwa alle drei Monate. Leider hat sich auch noch ein anderer Verdacht bestätigt. Der Grund, warum die Gallengänge so verengt waren, ist ein Tumor.“

Er spricht gleich weiter, aber bei mir löst dieses Wort einen inneren Aufschrei aus, den ich nicht herausschreien kann, da ich schon wieder weiter zuhören muss, denn es folgt noch mehr.

„Ein bösartiger Tumor“, ergänzt der Mann in seinem weißen Kittel, und mir schießen die Tränen in die Augen. Nein, jetzt bloß nicht heulen in Gegenwart des Doktors, dachte ich. Meine Mutter ist ganz ruhig und hört, was der Arzt weiter empfiehlt.

„Nun ja, man kann das heute ganz gut in den Griff bekommen, indem die Gallengänge alle drei Monate neu freigemacht werden. Um den 17. Mai sollten wir schon mal einen neuen Termin machen, um diesen Eingriff erneut vorzunehmen.“

„Ach der Termin passt gut“, wirft meine Mutter gleich ein, „am 23. Mai habe ich Geburtstag, da sind meine Kinder dann sicher da und können mich in die Klinik bringen.“

Ich frage, was denn zusätzlich zu machen sei?

„Zunächst wächst so ein Tumor bei älteren Herrschaften nicht so schnell wie bei einer jüngeren Person“, höre ich den Arzt sagen, „und ergänzend kann man mit Bestrahlungen oder Chemotherapie behandeln, letzteres würde ich ihrer Mutter in ihrem jetzigen labilen Zustand jedoch nicht anraten.“

Das war’s. So schnell geht das. So schnell ist die den Tod bringende Krankheit ausgesprochen, denke ich.

Schon schickt sich der Arzt an, wieder zu gehen.

Und Tschüss.

„Wenn Sie Fragen haben, wissen sie ja, wo sie mich erreichen ...“

„Ja – ja ich weiß“, stammle ich.

Der Gott in Weiß verlässt das Krankenzimmer, und ich stehe da, baff und vermutlich kreidebleich und höre meine Mutter sagen: „Nun, dann müssen wir das halt so nehmen, wie es ist, dann habe ich jetzt eben einen Tumor.“

Ich stehe da, zuerst wie angewurzelt, dann nehme ich meine Mutter in den Arm, so gut es geht, und frage, ob sie Schmerzen habe. Nein, habe sie nicht.

Im weiteren Verlauf des Besuchs verschlägt mir dieses harte Urteil „Gallengangkarzinom“ erst einmal den Atem. Da muss es doch etwas geben, es kann doch nicht sein, dass es so zu Ende gehen soll mit meiner geliebten Mutter, die sich mit ihren nun 85 Jahren schon gegen so viele Krankheiten besonders in den letzten zehn Jahren behauptet hatte. Und nun soll so ein Gallengangtumor ihr Ende bedeuten? Und wann überhaupt soll das sein?

In der Verzweiflung habe ich vergessen in Erfahrung zu bringen, wie schlimm es denn um die Mutter steht. Wie viel Zeit bleibt ihr noch? Auf die Idee, danach zu fragen, bin ich in diesem niederschmetternden Moment nicht gekommen, aber ich hätte es sowieso nie in Anwesenheit meiner Mutter getan ...

Kurz darauf kommt auch mein Bruder zu Besuch, und wir setzen ihn in Kenntnis. Ich kann keine besondere Reaktion bei ihm ausmachen. Er wirkte kühl und gefasst auf mich. Ob er schon begriffen hatte, was diese Diagnose bedeutet? Kaum sind einige Minuten vergangen, kommt der Arzt nochmal herein zu uns. Vielleicht hat er meinen Bruder kommen sehen? Wir sprechen nicht viel – über was auch – nach dieser Schicksalsnachricht? Über was will man sich im Anschluss an eine solch niederschmetternde Nachricht unterhalten? Alles erscheint plötzlich so sinnlos und leer. Sämtliche gefassten Pläne laufen ins Leere, es ist als würde es einem den Boden unter den Füßen wegreißen. Für die unausgesprochene Information über den nahenden Tod der eigenen Mutter gibt es keinen Trost, gar nichts, niemand und nichts kann diesen Schmerz lindern. Meiner Mutter, da war ich mir zunächst sicher, war der Umfang und das Ausmaß dieses Berichts in dieser Stunde nicht so gegenwärtig, oder vielleicht doch? Hatte sie eine Ahnung? Natürlich, wir werden alle sterben, ja … aber wann? Vermutlich ist es generell sowieso das Beste, dass wir nicht wissen, wann es so weit ist, nicht auszudenken, was passieren würde, wenn auch gesunde Menschen ihr Sterbedatum wüssten ...

Nun, da der Arzt noch einmal zu uns ins Patientenzimmer gekommen war, konnte ich ja vielleicht vorsichtig fragen, wie die Lebensqualität für unsere Mutter eingeschätzt werden konnte ...

„Nun ja“, fängt der Hochgewachsene im weißen Kittel an, sichtlich erleichtert, dass wir alle versuchen, die Fassung zu bewahren, „generell kann man das nur schwer voraussagen, aber ich habe schon eine 68-jährige Patientin behandelt, die hat mit der dreimonatigen Behandlung ihrer Stands noch fünf Jahre leben können, und den Umständen entsprechend in relativ guter Lebensqualität.“

Ich atme tief ein. Meine Mutter sagt nichts, mein Bruder ist kreidebleich. Meine Halbschwester hat von alldem sowieso noch nichts mitbekommen. In meinem Hirn fängt es an zu rattern. Ich bin jetzt seit einer Woche nach ihrer Einlieferung da und höre von einem zweiten Eingriff, der am kommenden Montag stattfinden sollte. Das war kein Abstand von drei Monaten mehr, so wie der Arzt es uns mitgeteilt hatte, das waren lediglich zehn Tage, die zwischen dem ersten und dem zweiten operativen Eingriff lagen. Zehn Tage, dabei sollte der Intervall ursprünglich drei Monate betragen. Entweder war das Ärzteteam nur übergründlich oder der Eingriff war bitter notwendig, weil die Stands, die meiner Mutter für den Abtransport der Gallenflüssigkeit gelegt worden waren, bereits wieder verstopft waren. Wenn es so wäre, dann ist der Zustand unserer Mutter also ziemlich ernst und ihre Lebensuhr sehr nahe dem Ende. Mir erschaudert bei dem Gedanken in der Sekunde, in der ich ihn gefasst habe. Bitte, alle Engel dieses Universums, lasst das nicht zu – so im gleichen Atemzug mein Stoßgebet gen Himmel.

Ich besuche meine Mutter in den folgenden Tagen täglich einmal morgens und nachmittags und fahre dann am Wochenende wieder zurück nach München. Ich habe einen Termin bei der Agentur für Arbeit, denn zu allem Unglück hatte ich vor einigen Monaten auch noch meinen geliebten langjährigen Job verloren und hatte jetzt Pflichtanwesenheit bei einer Minijobmesse.

Bei ihr zu Hause riegle ich alles ab, wobei ich vorher noch den auffällig herumliegenden Schmuck meiner Mutter wegräume, damit es die Einbrecher nicht so leicht haben , sage ich mir. Den Wohnungsschlüssel stecke ich nicht mehr in den Zählerkasten im Hausflur, das ist mir zu gefährlich. Dafür hätte meine Mutter für ihre alten Biedermeiermöbel und sonstige Wertsachen gar keine Hausratversicherung abschließen müssen. Das werfe ich ihr ständig vor, Versicherungen zahlen nämlich nicht bei offener Wohnungstür. Das finde ich wirklich leichtsinnig. Da mir mein Bruder angeboten hat, mich zum Bahnhof zu fahren, worüber ich sehr dankbar bin, übergebe ich ihm den Wohnungsschlüssel und bitte ihn, gut auf Mutters Sachen aufzupassen. Natürlich bleibe ich mit Mami telefonisch in Verbindung, auch mit meinem Bruder. Ich rufe sie an, so wie ich das immer gemacht habe, mein Bruder besucht sie täglich, bringt ihr frisch gewaschene Wäsche mit und was sie sonst wünscht. Die Enkelin schaut auch mal vorbei. Die Schwägerin ist selbst unerklärlich krank und kann ihren Job als Arzthelferin momentan nicht ausüben. Sie ist schon seit Weihnachten, also mehr als sechs Wochen, krank, bisher weiß man nicht, was der Frau meines Bruders fehlt. Wir erfahren, dass unsere Mutter nach nur wenigen Tagen Aufenthalt in der Klinik „austherapiert“ sein würde, die „Fallpauschale“, wie es im Jargon der Krankenhausangestellten heißt, seit dann abgearbeitet. Doch bevor es so weit ist, gibt es noch einen Zwischenfall. Bei einem meiner Anrufe werde ich nicht weitergestellt zum Telefon am Krankenbett meiner Mutter. Ich solle später nochmal anrufen, ließ die Krankenschwester verlauten.

„Um Himmels Willen, was ist passiert?“, frage ich alarmiert. „Nichts Schlimmes“, sagt die Schwester am anderen Ende der Leitung.

Was hat die denn für eine Ahnung, wie schlimm auf einmal alles sein kann, dachte ich. Wieder einmal war ein späterer Anruf erforderlich, um Genaueres zu erfahren. Verdammt nochmal, wissen die da eigentlich, wie quälend diese Minuten und Stunden des Wartens sind?

Also warte ich die Zeit ab, um dann schließlich Folgendes zu erfahren: „Ihre Mutter ist in der Nacht beim Toilettengang gestürzt und hat sich das Wadenbein und den großen Zeh gebrochen.“

Oh nein, denke ich, das jetzt auch noch. „Wann kann ich sie sprechen?“, frage ich.

„Im Moment ist sie noch im Keller“ – wer um Himmels Willen hat sich denn diese tolle Bezeichnung für die OP-Etage einfallen lassen –, „aber in einer Stunde müsste sie im Zimmer wieder erreichbar sein“, sagt die diensthabende Krankenschwester.

Meine Güte, konnte das Personal nicht besser auf die Patienten aufpassen? Das muss doch möglich sein. Naja ich würde schon erfahren, wie das passiert ist. Eigentlich sollte sie übermorgen entlassen werden ... Sie wäre austherapiert nach dem zweiten Eingriff. Was immer das auch heißen mag. Heute, nachdem alle Krankenhäuser nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen geführt werden, sollte es wohl eher heißen: Wir können kein Geld mehr an Ihrer Mutter verdienen. Wir können hier jetzt nichts mehr tun für ihre Mutter. Ihre Mutter muss hier weg, wir brauchen das Bett, um neues Geld damit zu verdienen. Gespart hatte man sich noch: Packen Sie Ihre Mutter und sehen Sie, wo sie bleiben kann. Ach ja, da gibt es ja noch den Sozialmedizinischen Dienst in den Krankenhäusern. Die kümmern sich. Die werde ich dann mal in die Pflicht nehmen denke ich. In mir ist alles wirr, ich habe Mühe, meine Gedanken zu sortieren und bin höchst besorgt, wie es denn nun weitergehen soll mit der Mami.

Endlich am Nachmittag erreiche ich sie am Telefon.

„Hast du Schmerzen?“, ist meine dringlichste Frage.

„Nein, es geht schon. Der Fuß ist sehr geschwollen und wird jetzt noch dicker, die haben das geröntgt, aber mehr weiß ich noch nicht.“

„Ach das tut mir sehr leid, Mami, aber wie konnte das passieren? Du klingelst doch immer, wenn du aufstehen musst, oder?“

„Ja natürlich“, antwortete sie. „Zwei Krankenschwestern haben mich zur Toilette begleitet, und als ich zum Waschbecken ging, wurde mir schwarz vor Augen und ich bin zusammengesackt.“

„Oh nein, Mami!“, rufe ich ins Telefon. „Und da war niemand von den beiden Schwestern, die dich hätten halten können?!“

„Nein“, antwortet sie mir, „die haben draußen gestanden und gewartet.“

In mir kocht und brodelt es, Wut steigt in mir hoch. Da ist es den Schwestern wichtiger, auf dem Flur zu ratschen, als ihrer Arbeit nachzugehen. Wozu waren die denn dabei gewesen? Wozu das Klingeln nach Hilfe? Ich bin wütend und habe schon die Unfallmeldung mit Schmerzensgeldforderungen meiner Mutter im Kopf.

Geschwistergift

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