Читать книгу Geschwistergift - Eleonore Christiansen - Страница 5

Eine fair gemeinte Geste

Оглавление

Seit Mittwoch, 23. Februar, ist unsere Mutter nun schon in der Rehabilitation, oder besser gesagt: der Kurzzeitpflege. Man bedenke, Kurzzeitpflege. Das sagt schon das Wort, dass dieser Platz dort auch nicht so lange zur Verfügung steht, wie er möglicherweise gebraucht werden würde. Dort hat sie ein Einzelzimmer, dies zu bekommen war ihr immens wichtig. Sie macht eigentlich immer einen wachen Eindruck – so dass man das Gefühl hat, sie bekommt alles mit, was so um sie herum passiert –, sie ist auch schon wieder etwas energischer geworden. Aber seit ihrem nächtlichen Sturz auf der Toilette im Krankenhaus ist sie zu ihrem Krebsleiden auch noch gehbehindert, und jedes Aufstehen zum Klo muss sich für sie anfühlen wie eine halbe Weltreise. Die Laute und Geräusche der eher mehr leidenden Patientinnen, mit denen sie das Krankenzimmer in der Klinik teilen musste, sind für sie unerträglich. Das Stöhnen und Schnarchen der anderen zwei Bettlägerigen hält sie kaum mehr aus.

Umso erleichterter sind wir alle, als ein Platz in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung für sie gefunden wurde. Was mich sehr wundert, ist die Tatsache, dass sie nicht einmal einen Pflegegrad 1 bei Entlassung aus dem Krankenhaus erhalten hatte, was Voraussetzung ist für die Übernahme der Kosten durch ihre Krankenkasse, zumindest für die Pflegeleistung ihres Aufenthalts.

27. Februar

Die Tage vergehen, meine täglichen Telefonkontakte zur Mutter bleiben. Aber dies sollte sich bald ändern. Nachdem mir klar war, dass sie möglicherweise keine fünf Jahre mehr zu leben hat, habe ich meinem Bruder telefonisch in offener Absicht und mit der Bitte um Verständnis informiert, dass eine Vorsorgevollmacht für die Mutter existiert. Sie hatte mich gebeten, das mit ihr zu unterschreiben – damals, vor rund eineinhalb Jahren schon. Da ging es ihr noch wirklich gut. Sie war fit und lebenslustig, aber dennoch bat sie mich, diese Patientenvollmacht für sie zu übernehmen. Ihren Sohn hat sie nie gebeten, da war die Forderung eher umgekehrt. Er wollte das mit ihr klären. Das hatte sie immer abgelehnt. Sie wollte mich als ihre Bevollmächtigte und hat dies dem Sohn gegenüber aber nie offen gesagt. Dieses ambivalente Verhalten der Mutter sollte uns Kinder später noch in Schwierigkeiten bringen, was zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen konnte.

Ich rufe meinen Bruder an und teile ihm mit, dass ich die Patientenvollmacht für die Mutter habe und, ach ja, sie hätte auch ein Testament verfasst. Es sei amtlich hinterlegt, aber eine Kopie befände sich in ihrem Schreibsekretär in der untersten Schublade.

„Hallo, hallo ...?“

Ich höre keinen Ton am anderen Ende des Telefons, als hätte es meinem Bruder die Sprache verschlagen.

Nach einer Weile des Schweigens sagt mein Bruder: „Wie, sie hat ein Testament gemacht? Warum weiß ich davon nichts? Wieso weißt du das?“ Tja, weil sie mich damals deshalb um Hilfe gebeten hat, will ich ihm entgegnen, aber ich kann mir gerade noch auf die Zunge beißen und verschlucke den gedachten Satz. Ich begreife, wie schockiert mein Bruder ist, und verstehe die Welt nicht mehr. Hat er denn geglaubt, dass sich die Mutter keine Gedanken über die Zeit nach ihrem Tod gemacht hat? Mit 85 Jahren, drei verstrittenen Geschwistern, natürlich hatte sie sich Gedanken gemacht und versucht, alles bestmöglich zu regeln. Dazu gehörten ein notarielles Testament und eine Patientenverfügung.

Das Gespräch ist dann abrupt zu Ende, und mein Bruder sagt: „Da muss ich erstmal die andere Seite hören.“

Die andere Seite – das kann nur die Halbschwester sein. Zu ihr hat mein Bruder im Laufe der letzten Jahre eine bestens funktionierende Allianz aufgebaut – oder auch umgekehrt –, denn zu zweit ist man bekanntlich stärker als allein.

Die Würfel sind also gefallen. In diesem Moment hat sich alles geändert. Zwei gegen eine hieß das Motto ab jetzt, und das hatte bekanntlich schon immer den Anschein des Unfairen.

Ab diesem Tag würde sich alles ändern, nur dass ich es noch nicht wusste.

Ich wollte nur fair und offen sein, und dass er informiert ist und sich keine Sorgen machen muss, dass etwa ein gesetzlicher Vertreter die Patientenvollmacht für die kranke Mutter übernimmt statt wir Geschwister – obwohl die Halbschwester aus zweiter Ehe sich ja komplett herausnehmen wollte aus der Pflege und Fürsorge für die Mutter. Dies hatte sie ja schon verlauten lassen.

Seit diesem Telefongespräch an dem vorletzten Tag des Februars geht mein Bruder nicht mehr an sein Mobiltelefon, wenn ich ihn anrufe, bei Hinterlassung einer Nachricht ruft er nicht zurück. War das Absicht oder Versehen? Was ist da los?, frage ich mich und martere mir am nächsten Tag das Hirn in die eine und andere Richtung. Sollte er wirklich nicht verstanden haben, was ich ihm am Tag zuvor so dringend versucht habe zu erklären?

Ich war nämlich bei einem Rechtsanwalt für Erbrecht gewesen, um mir den mir unverständlichen Vertrag, den die Mutter vor mehr als vier Jahren mit meiner jüngeren Halbschwester unterschrieben hatte, erklären zu lassen. Es war ein Pflichtteilsverzicht, der damals zwischen unserer Mutter und der jüngsten Schwester abgeschlossen wurde. Am Ende hatte die Halbschwester eine nicht unerhebliche Summe Euro geschenkt bekommen. Damit es juristisch gesehen als Schenkung bloß nicht anfechtbar war, hatte sie für ihren so vorab erhaltenen Erbteil monatlich 100 Euro an die Mutter bis zu deren Ableben zu zahlen. Für die Summe, die sie vor Jahren schon erhalten hatte, ein lächerlicher Zins. Und übrig blieb doch noch ein nicht unerheblicher Teil als Schenkung. Das hatte mir der juristische Fachmann mit Hilfe der auf mich kompliziert wirkenden Formeln berechnet. Das Fazit war: Mein Bruder und ich waren die Benachteiligten, so war es von der Halbschwester und der Mutter in diesem Vertrag festgeschrieben. Damals, zwei Jahre später, war meine Mutter zu mir gekommen, um das Ganze rückgängig zu machen. Das war zu der Zeit , als meine jüngere Halbschwester ihren Vater beerbt hatte. Danach war genug Vermögen da, deshalb wagte es meine Mutter, ihr Kind zu fragen, ob es wohl möglich sei, nun auch sie finanziell zu unterstützen. Die Antwort war wohl: „Ich wüsste nicht, warum ich dir das Geld geben sollte, und überhaupt, wann bekäme ich das denn zurück?“ Enttäuscht und fassungslos redete meine Mutter fortan über Monate nicht mehr mit ihrer jüngsten Tochter. Sie wollte den Vertrag aufheben und fragte mich, wie das wohl zu bewältigen wäre. Wir fanden heraus, dass dies nicht mehr möglich war. Möglicherweise war es Kalkül gewesen, dass meine Mutter den Vertrag von Anfang an nicht so gut verstanden hatte. Die Halbschwester hatte mit ihrem ständigen Druck, diesen Vertrag doch endlich zu erstellen, gegenüber der Mutter gesiegt – die hatte endlich ihre Ruhe und nur noch so viel verstanden, dass sie noch ein Testament verfassen sollte, dies wurde ihr dringend angeraten in Ergänzung zu diesem Vertrag ... Dieser Pflichtteilsverzichtsvertrag machte also ein Testament notwendig, das hatte sie verstanden und auch danach gehandelt.

Das alles erzählte ich meinem Bruder – ich appellierte an ihn und hoffte auf sein Verständnis. Wahrscheinlich hatte die Halbschwester wohl vergessen, ihren Bruder über den vollständigen Inhalt dieses Vertrages zu informieren. Nur langsam wurde mir klar, dass er meine Ausführung wohl doch nicht verstanden hatte, zumindest nicht so wie ich meinte, dass er es verstehen sollte. Ich wollte, dass er begreift, wie es zu den Dokumenten gekommen war, was der Auslöser für deren Erstellung war. Doch anstatt zu merken, dass die Halbschwester uns beide übervorteilt hatte, gab er seiner Enttäuschung nach, dass ich von dieser ganzen Sache wusste, und er nicht. Tatsächlich hatte mich meine Mutter immer, oder sagen wir mal meistens – mit Ausnahme der Geschäfte, die sie unter vier Augen mit ihrer jüngsten Tochter ausrichtete – als Beraterin einbezogen. Aber statt mir weiter zuzuhören, entgegnete er nur: „Da muss ich erst mal die andere Seite fragen …“

Die Reaktion „der anderen Seite“ würde ich zu gegebener Zeit erfahren.

Von ihm höre ich in den folgenden Tagen und Wochen nichts mehr. Kein Rückruf, keine Annahme von Telefongesprächen, einfach nichts.

Geschwistergift

Подняться наверх