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ZWEI

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War das nicht wieder typisch? Kaum hatte ich meine Sechstklässler ins Zimmer getrieben und mit dem Ausfragen begonnen, ging die Tür auf und Brandes kam herein. Wenigstens störte er nicht weiter, sondern verzog sich still in die letzte Reihe. Aber am Freitag in der fünften Stunde!

Die Schüler legten im Geiste die Ohren an und waren so brav wie noch nie, meldeten sich eifrig und funktionierten auch, als ich sie etwas in Partnerarbeit aus einem Quellentext heraussuchen ließ. Danach durften sie die Abbildung auf dem Arbeitsblatt ausmalen und fassten schließlich durchaus sinnvoll zusammen, was wir heute gelernt hatten. Tommy lieferte den Abschlusssatz: „Da haben wir´s heute ja ziemlich gut, nicht?“

Ich gab sogar noch die Hausaufgabe vor dem Läuten auf und war sehr zufrieden mit dieser Stunde – das wäre fast noch als Lehrprobe durchgegangen!

„Haben Sie nach der sechsten Stunde noch einen Moment Zeit?“, fragte Brandes, als wir das Zimmer verließen und ich zur Treppe strebte. Ich sah ihn an. „Sie wollen die Stunde heute noch besprechen? Gut, um eins im Lehrerzimmer?“

„Sagen wir Viertel nach – ich glaube, ich brauche einen Nikotinschub.“

„War die Stunde so furchtbar?“ Wehe, er sagte ja!

Er grinste nur und verschwand ans andere Ende des Ganges.

Ich hatte es doch gewusst! Siebel hatte wirklich wenig mit der Zehnten gemacht, aber sicher nicht so wenig, wie die Schüler behaupteten. Immerhin, es fehlten noch zwei Schulaufgaben. Eine konnte ich dieser Falkenstein ja noch abnehmen, mit einem Baby war sie sicher hinreichend beschäftigt, wenn ich da nur an Meike dachte...

Also drückte ich ihnen eine Dramenlektüre aufs Auge – Frühlings Erwachen, wie es in der Zehnten ohnehin üblich war, und begann sofort mit der Einführung in die literarische Charakteristik. Die Schüler winselten um Gnade, aber ich hatte den Termin auf den 6. April festgesetzt und trieb die armen Kinder zur Arbeit an. Sicherheitshalber rief ich die Falkenstein aber an und fragte, ob es ihr recht war, dass ich die Schulaufgabe noch vorzog. Sie war begeistert, wenn sie es auch nicht nötig fand, und bot an, nach Ostern auch einmal Stunden für mich zu übernehmen. Eigentlich klang sie ganz nett, dachte ich, als ich ihr zur Entbindung alles Gute gewünscht und aufgelegt hatte.

Um Viertel nach eins wartete ich im Lehrerzimmer, bis Brandes aus dem Kabuff kam – in einer Wolke aus abgestandenem Rauch. Das störte mich weniger, manchmal rauchte ich schließlich selbst, aber ich hatte Angst, er hätte an der Stunde etwas auszusetzen. Er begann klugerweise damit, dass er Aufbau und Inhalt der Stunde erst einmal lobte. Ich entnte mich ein wenig, blieb aber doch auf der Hut.

„Sie haben die Schüler auch gut im Griff. Ich habe die Klasse zeitweise in Deutsch unterrichtet und weiß, wie unleidlich sie sein können. Nur eins müssen Sie mir erklären – wozu sollten die Schüler diese Abbildung ausmalen?“

„Das mache ich manchmal freitags, als Reminiszenz an die Grundschule. Ich finde es recht günstig, wenn sich Wissenschaft und Kindergartenkram ein bisschen mischen, sozusagen als Entnung und als sinnliche Erfahrung. Außerdem kleben die Kinder diese Bilder in ihr Geschichtsheft. Nicht immer ist es die Alexanderschlacht, wir haben auch schon einen Pharao, die Akropolis, eine Triere und alles Mögliche. Einmal mussten sie die Scherben einer griechischen Vase zusammensetzen und dann bemalen. Da wollten sie alle eine Woche lang Archäologie studieren!“

Ich lachte noch bei der Erinnerung.

Er lächelte knapp und nickte. „Einleuchtend. Und wie haben Sie die kleine – Alicia, nicht? – benotet?“

„Mit einer Zwei. Gut gelernt, fast alles gewusst, aber nicht perfekt. Und bei der Schlussfrage hing sie doch etwas in der Luft...“

„Finden Sie das nicht zu streng?“

Huch? Sonst wurde ich immer wegen zu freundlicher Noten getadelt, deswegen fragte ich nicht gerne vor Publikum aus.

„Nein. Ein Ausfrage-Einser ist bei mir nicht so leicht zu kriegen, das wissen die Schüler und strengen sich entsprechend an. Das war eine Zwei, eindeutig.“

„Sie sind sich Ihrer Sache sehr sicher...“

„Ich mache das seit fünf Jahren – und eine Sechste in Geschichte kriege ich jedes Jahr. Also kann ich ja wohl sagen, dass ich Erfahrung habe!“

„Oh – eine Frau mit Erfahrung!“, flötete Grosser, der hinter uns vorbei strich. Ich drehte mich um und starrte ihn an. Was für ein Idiot! Dann musterte ich ihn von oben bis unten, bevor ich leicht die Nase rümpfte und mich wieder dem Gespräch mit Brandes zuwandte. Dem gelang es leider nicht, sein Amüsement schnell genug zu verbergen.

„Wenn Sie das für lustig hielten, finde ich das bedauerlich“, stellte ich kalt fest. Grosser hatte sich davongemacht, ohne noch etwas ähnlich Witziges von sich zu geben.

„Aber nein, Sie missverstehen mich“, versicherte Brandes und biss sich auf die Unterlippe.

„Waren Sie mit der Stunde ansonsten zufrieden?“

„Aber ja, nicht nur ansonsten, sondern rundherum. Sehr zufrieden! Das war´s, ich will Sie nun nicht länger aufhalten. Schönes Wochenende...“ Er erhob sich und begann, seinen Kram einzupacken. Offensichtlich schwächelte er – sonst fand er doch auch immer etwas zu meckern? Na, was ging´s mich an, wenn sein Reformeifer nachließ, umso angenehmer für uns! Ich suchte ebenfalls alles zusammen, räumte mein Fach aus, holte meinen Mantel und verzog mich nach Hause. Heute war wieder Großeinkauf angesagt.

Ich kaufte ein, putzte, wusch und bügelte und hatte am späten Nachmittag meine Wohnung auf Hochglanz poliert. Nur Sofas hatte ich immer noch nicht bestellt. Morgen vielleicht?

Schließlich gab es gar keinen Grund mehr, mich um die Schulaufgabe der 8 b zu drücken. Erstmal alle nur durchlesen... das war eigentlich noch keine Arbeit und ich gewann schon einen ersten Eindruck.

Dieser erste Eindruck war so wie erwartet: Anja hatte schon wieder das falsche Tempus, die, die bis jetzt jede Geschichte missverstanden hatten, waren auch hier zu eher schrägen Einsichten gelangt und die, die die Übungsaufsätze sorgfältig verfasst hatten, hatten auch jetzt gut gearbeitet. Als ich alle einmal gelesen hatte, sortierte ich sie nach Qualität, um besser vergleichen zu können, und beschloss, dass es für heute genug war. Lieber bereitete ich die Stunden der nächsten Woche vor, wenigstens für die Zehnte in Deutsch und die Neunte in Geschichte und Italienisch. Danach plante ich nur noch die nächste Woche durch – ach, der Schulfasching! Na, da musste ich wohl durch. Ich machte mir eine Notiz – Holger fragen, ob man sich da womöglich noch verkleiden musste. Ach was, wozu hatte ich diese Liste bekommen, ich konnte ihn doch sofort anrufen!

Längeres Suchen förderte sie zutage. Holger wohnte gar nicht so weit weg. Ich rief ihn an.

„Ja, ich fürchte, du musst dich verkleiden. MovieWorld ist das Motto...“

„Äh... Du, können wir nicht zusammen als Blues Brothers gehen – oder als Men in Black? Ein dunkles Sakko treibe ich gerade noch auf...“

Holger lachte. „Tolle Idee, das machen wir. Mir ist nämlich auch noch nichts eingefallen. Katja wollte als Vampir kommen, aber das ist mir zu abgedroschen – und Brandes hat nur blöde gelacht. Men in Black ist super, den Film kennen wenigstens alle.“

Beruhigt legte ich auf. Eine verspiegelte Sonnenbrille hatte ich auch noch irgendwo.

Ich lümmelte mich mit der Liste und dem Stadtplan aufs Bett. Erstaunlich viele wohnten weiter draußen, in Moosfeld, Leiching oder Kirchfelden. Dort waren wohl die Immobilien billiger? Wahrscheinlich hatten sie dort diese Standardreihenhäuschen, wie sie seit den Siebzigern überall hingeklatscht wurden. Leiching natürlich war teuer, da musste man schon was geerbt haben. Hier in der Gegend wohnten... Falkenstein, Holger, Bettina, ich, Katja – gut, sie war noch Referendarin, also warum sollte sie nicht in Uninähe wohnen – Brandes, Frau Dr. Möller, die die Praktikanten betreute. Brandes?? Wieso hatte der kein Reihenhäuschen, er sah wirklich so aus! Obwohl, der Bierbauch fehlte noch. Holzner wohnte in Leiching, typisch, die ödeste Gegend, aber sicher wohlanständig... Andererseits, so anständig war er gar nicht. Diese Mischung aus puritanischer Heuchelei und Machotum war unerträglich. Das Machotum sollte wohl süddeutsch-katholische Lebensfreude ausdrücken, aber barock wirkte es nicht, nur widerlich. Und glaubte er wirklich, es zog bei Frauen, wenn man ihnen erzählte, sie seien von Natur aus dümmer als Männer? Die meisten glaubten es ohnehin nicht, und die anderen ärgerten sich auch. Musste ich den gepflegten Freitagabend mit Gedanken an diese Ratte Holzner vertun?

Nein, jetzt würde ich mir die Schaufenster der Polstermöbelläden anschauen, sofort. Es war erst halb sechs, die konnten noch offen haben.

Schon im zweiten Laden sah ich das absolute Traumsofa. Marineblaues Leder, die Füße in Birke und Chrom, elegante Linie – und gar nicht so teuer... Ich sah mich drinnen noch ein bisschen um, aber ein schöneres Sofa gab es dort nicht. Ich lümmelte mich probehalber darauf, in Fernsehhaltung... sehr bequem, ja.... Was sollte es kosten? Ein Zwei- und ein Dreisitzer zusammen etwas über dreitausend Mark; die Verkäuferin nahm meine Bestellung begeistert entgegen; wer machte nicht gerne noch kurz vor Ladenschluss so schönen Umsatz? Sie zeigte mir sogar noch einen dazu passenden kleinen Tisch, ebenfalls Birke mit Chromfüßen. Ich sah ihn mir lange an und nahm ihn dann auch. Liefertermin sollte Samstag, der 25. März sein. Gut, solange konnte ich es noch aushalten, wenn ich seit Oktober ohne Sofas gelebt hatte. Vielleicht sollte ich den alten Ohrensessel von Opa auch in Leder beziehen lassen? Ich erkundigte mich. Die Verkäuferin verwies mich an die Polsterei, wo ich passendes Leder aussuchte, in Royalblau. Morgen wollten sie den Sessel begutachten und mitnehmen...

Ich genoss das Gefühl der Selbstzufriedenheit. Endlich hatte ich wieder Ziele – die Schule war ja schon zur Routine geworden. Aber könnte ich auch zufrieden sein, wenn nichts voranging, weil gar nichts vorangehen musste? Konnte ich auch Stillstand genießen? Oder war ich schon zwanghaft auf Arbeiten, Putzen, Einrichten, Weiterkommen fixiert? Ich wusste es nicht, ich wusste nur, dass ich im Moment durchaus glücklich war... Das Schlafzimmer sollte ich mir für das nächste Wochenende aufheben, überlegte ich. Nicht alle Projekte gleich verschwenden!

Am Wochenende war ich grimmig entschlossen, meine Familienpflichten zu erfüllen. Zuerst rief ich Silke an, die verkatert und müde wirkte und ziemlich kurz angebunden war. Ob sie mich irgendwann später zurückrufen könnte? Ich grinste. Hatte sie wieder einen draufgemacht! Und das Gegrummel im Hintergrund war wohl der neueste Herr ihres Herzens – obwohl, bis an ihr Herz kamen die Kerle meist gar nicht...

Meike war wenigstens schon wach, Kunststück, mit drei kleinen Kindern. Sie jammerte wieder herum, behauptete aber, sie hätte ein Kilo abgenommen, gewaschene Haare und die Wohnung sei ziemlich ordentlich, naja, teilweise... Und Robbi sei nicht mehr ganz so kurz angebunden zu ihr. Ob ich vorbeikommen wollte? Wollte ich nicht. Die Schulaufgabe lag noch herum, und ich hatte noch nicht annähernd alles vorbereitet. Immer noch besser, als Windeln in die Maschine zu stecken und Meikes Küche zu putzen!

Meine Eltern waren ebenfalls nicht zum Ratschen aufgelegt. Das hatte ich aber vorher gewusst und den Anruf extra auf diese Zeit gelegt. So konnten sie mich nicht mit ihren Sorgen nerven und ich hatte meine Pflicht trotzdem erfüllt. Samstagmittags gingen sie immer wandern; also ermahnten sie mich nur, schön fleißig zu sein, rasch befördert zu werden – als ob das von mir abhinge! – und mich schön warm anzuziehen. Ich gelobte alles, wie es einer braven Tochter zukam, behauptete, Silke und Meike gehe es glänzend und legte erleichtert wieder auf.

Danach wandte ich mich mit mäßiger Begeisterung wieder der Schulaufgabe zu. Wenn ich fünf Stück korrigiert hätte, dürfte ich die Stunden für den Geschichtsgrundkurs vorbereiten... Mit solchen Tricks hangelte ich mich durch das Wochenende, bis am Sonntagnachmittag endlich alles vorbereitet und ein Großteil der Schulaufgabe korrigiert war. Außerdem hing alles wieder gebügelt im Schrank. Einen neuen Schrank brauchte ich dringend, der alte war so überfüllt, dass das Bügeln eigentlich Zeitverschwendung war.

Ich ging schön lange spazieren, als ich alles fertig hatte, danach stellte ich mich wieder ratlos vor den Spiegel. Was sollte ich mit diesen Haaren nur anfangen? Probeweise löste ich den langen Zopf und bürstete die schwarze Flut, bis sie knisterte. Schon schön, ja – aber so unpraktisch! Und offen tragen wollte ich sie auch nicht, ich sah damit aus wie diese Schnepfen auf den Umschlägen billiger Liebesromane, wenn die auch keine ausgeleierten Sweatshirts trugen, sondern rüschenumsäumte Mieder oder gar nichts...

Ich bürstete die Haare so zurecht, dass eine normalerweise verdeckte Strähne auf der Seite übrig blieb, dann schnitt ich diese Strähne frech zehn Zentimeter über der Kopfhaut ab, feuchtete den Rest an und wartete etwas. Sie lockte sich – keine Wellen, richtige Locken! Einen richtigen kurzen Lockenkopf hätte ich gerne, dachte ich. Ich nahm mir vor, die ganze Mähne am Freitagnachmittag abzuschneiden und mit der neuen Frisur auf das Faschingsfest zu gehen. Gut würde ich aussehen! Wozu eigentlich? Um Schüler zu beeindrucken? Kollegen? Wen denn? Nein, einfach nur, um mich an meinem neuen Aussehen zu freuen! Und sollte es schief gehen, blieb am Samstag immer noch Zeit für einen Friseurbesuch.

Am Montagabend hatte ich die Schulaufgabe fertig und schaffte es, so müde ich war, auch noch, die Bemerkungen darunter zu schreiben und eine Liste mit Stilblüten zu tippen. Um halb zwölf taumelte ich befriedigt ins Bett.

Am Dienstag verzichtete ich darauf, in der ersten Stunde den Referendar in der 11 c zu besuchen, er sollte die Klasse erst einmal in Ruhe kennen lernen. Noten, Stoffübersicht und kleine Hinweise zu einzelnen Schülern hatte ich ihm schon in der Vorwoche ins Fach gelegt. Ich kam nach der dritten Stunde etwas verfrüht ins Lehrerzimmer zurück, weil meine 9 a rechtzeitig zur Physikschulaufgabe aufbrechen wollte. Wahrscheinlich standen sie nur die ganze Pause hindurch sinnlos vor dem Prüfungssaal herum, aber wenn sie es nicht anders haben wollten? Als ich die Tür aufschloss, hörte ich gerade noch, wie Holzner sagte: „Geben Sie sich keine Mühe, das hat doch sowieso keinen Sinn!“

Wen nervte er denn jetzt schon wieder? Ach, Katja, die Referendarin! Und was bitte sollte keinen Sinn haben? Holzner genierte sich so wenig, dass ich ruhig in der Nähe stehen bleiben und so tun konnte, als wollte ich auch etwas kopieren. Stimmte sogar, die Stilblütenliste für die fünfte Stunde. Ich wühlte also in meiner Tasche herum, als könnte ich die richtige Mappe nicht finden, und spitzte die Ohren. Katja hatte nicht geantwortet, und Holzner fuhr fort: „Sie eignen sich einfach nicht für diesen Beruf, Sie haben keinen Draht zu den Schülern, sehen Sie es doch ein!“

Katja kopierte verbissen weiter, aber ich sah ihrem Rücken an, dass sie sich nur mühsam beherrschte. Wie kam er dazu, einer Referendarin, die ihre Sache ziemlich gut machte, so einen Müll zu erzählen? Ich beschloss, mich einzumischen. „Ist ja wie Kafkas Vater“, kommentierte ich.

„Was?“ Er sah mich verwirrt an. Ich winkte gelangweilt ab – Witze konnte man nicht erklären. Katja grinste leicht verzerrt.

„Ich finde, du kommst prima mit den Schülern zurecht“, sagte ich dann, „das hab ich doch beim Wandertag und auch bei den Unterrichtsbesuchen gesehen!“ Katja war verblüfft, denn ich hatte sie nie im Unterricht besucht, aber sie spielte mit. Holzner hatte ja ohnehin keine Ahnung, wer hier wen betreute.

„Und deine Arbeitsblätter und Projekte sind ausgezeichnet, finde ich, daraus kann man direkt noch was lernen. Ich bin dir auch sehr dankbar, dass du am Freitag eine Aufsicht übernimmst. Hast du Lust, nach der sechsten Stunde mit mir was essen zu gehen? Vielleicht kommen Bettina und Holger auch noch mit...“

Ihre Augen glänzten dankbar. Holger schien ihr ohnehin ganz gut zu gefallen. „Gerne, ja.“ Ihre Stimme war ganz leise.

„Prima, dann treffen wir uns hier um eins. Und lass dir von niemandem etwas Negatives einreden, ja? Miesmacher gibt es leider überall...“

Ich warf Holzner einen mörderischen Blick zu und verzichtete vorerst auf das Kopieren. Holzner leider auch, er kam sofort hinter mir her. „Ich muss um eine Erklärung bitten! Das war eine Unverschämtheit!“

Ich blieb stehen und sah ihn an. „Wenn Sie mit den Schülern umgehen wie eben mit Frau Reichard, haben Sie Ihren Beruf total verfehlt. Mehr Erklärung gibt es nicht.“

Ich ließ ihn stehen und verzog mich ins Kabuff. Jetzt war eine Zigarette nötig, und Holzner war ein fanatischer Nichtraucher. Dafür kam Brandes hinter mir her. Na gut, eindeutig das kleinere Übel!

Er gab mir Feuer und fragte: „Was war denn los?“ Ich winkte ab. „Holzner hat Frau Reichard erzählt, sie könnte ihren Beruf gleich aufgeben, sie hätte keinen Draht zu den Schülern.“

Er sah mich konsterniert an. „Unsinn!“

„Ich hab´s doch selbst gehört!“

„Nein, ich meine, Holzner redet Unsinn. Vor allem, weil Frau Reichard ihre Sache gut macht. Ich habe zwei ihrer Deutschstunden gesehen, sehr anerkennenswert. Manche Kollegen sind schon etwas exzentrisch...“

Er zuckte resigniert die Schultern unter dem verbeulten Leinensakko. Angezogen war er immer, als hole er sich die Klamotten aus Altkleidersäcken. „Sie sind recht kess für Ihr Alter, einen gestandenen Oberstudienrat so anzupfeifen...“

Ich grinste verlegen. „Naja, nur bei Holzner. Ich habe das Gefühl, mit ihm wird es immer schlimmer.“

Brandes überlegte. „Das kann ich nicht so beurteilen. Ich bin ja selber erst seit einem halben Jahr hier. War er früher weniger von sich eingenommen?“

„Das nicht, aber der Ton war nicht so aggressiv, und er hat sich nicht jede Woche einen neuen Feind gemacht. Diese Mischung aus Frömmlertum und Frauenfeindschaft macht mich rasend.“

Brandes antwortete nicht, sondern drückte seine Zigarette aus, lächelte kurz und verschwand wieder aus dem Kabuff. Na gut, ich musste auch noch dringend kopieren!

Bettina und Holger gingen mit Katja und mir noch ins Salads & More, und mit vereinten Kräften überzeugten wir Katja davon, dass sie Holzners dumme Sprüche nicht ernst nehmen dürfe. „Holzner kann einen guten Lehrer nicht einmal erkennen, wenn er ihn in die Nase beißt. Er ist doch selbst total unfähig, und es wird immer ärger“, argumentierte ich.

„Und was den Draht zu den Schülern betrifft – ich höre nur Beschwerden über ihn“, ergänzte Holger und warf Katja einen beschützenden Blick zu. Na, vielleicht wurde das noch ganz nend?

Bettina erzählte, wie Holzner ihr kürzlich erklärt hatte, sie sei für ihre Fächer als Frau nicht geeignet, und da musste Katja dann doch endlich lachen. „Außerdem hat Holzner gar nichts zu sagen, die Chefin hasst ihn nämlich wie die Pest. Wenn er über dich meckert, kann das deine Beurteilung nur verbessern!“, versprach Holger.

„Übrigens kann Brandes ihn anscheinend auch nicht besonders leiden“, ergänzte ich.

„Ich weiß, warum“, warf Bettina ein, „Brandes hat doch die 11 a in Französisch - die hatte Holzner letztes Jahr, und er hat ihnen anscheinend überhaupt nichts beigebracht. Ich hab mal gehört, wie die sich gestritten haben...“

„Brandes streitet? Ich denke, der ist immer so obercool?“, wunderte ich mich.

„Ja, er war auch mehr eisig und verächtlich, Holzner hat rumgebrüllt, bis Brandes gesagt hat, dieses niveaulose Geplärre hört er sich nicht länger an.“ Ich grinste vor mich hin. Nicht schlecht, das war Holzner zu gönnen.

„Wir sollten ihm tatsächlich was antun, nur was?“

Katja lachte. „Machen wir eine Stoffsammlung, wie bei der Erörterung!“

Holger sah sie verliebt an, Bettina und ich versuchten mühsam, ernst zu bleiben: Süß waren die beiden!

„Abonnieren wir ihm irgendein Pornoheft – an die Schuladresse!“

„Lassen wir seine Schulaufgaben verschwinden!“

„Holger, du spinnst, das geht zu weit.“

„Werfen wir ihm irgendetwas Stinkendes in sein Fach.“

„Zucker in den Tank.“

„Ich könnte auch in seinen Tank pinkeln.“

„Genau – und alle Schüler hängen aus dem Fenster und schauen zu, ja?“

„Okay“, gab Holger zu, „das ist wohl doch keine so gute Idee.“

„Anonyme Zettel mit Terminänderungen in seinem Fach.“

„Schade, dass die Schulaufgabenpläne schon fertig sind“, überlegte ich, „wir könnten die Termine sonst so verteilen, dass er nie einen freien Tag für ein Ex findet. Dann bekäme er auch Ärger...“

„Oder wir reden alle nicht mehr mit ihm, schauen ihn nur noch angeekelt an...“

„Oder wir machen uns in Hörweite über Männer lustig, du weißt schon, Männer und Technik, das Kind im Manne...“, schlug Bettina vor. „Von allem etwas... Lässt er nicht immer diese hässliche kackbraune Tasche herumstehen? Ich denke da an ein Stückchen Hering...“, überlegte ich versonnen und lächelte glücklich vor mich hin.

„Wir sind gemein“, schwächelte Katja plötzlich.

„Wir haben nicht angefangen! Wir verteidigen nur uns und die Schüler – das ist die totale Notwehr! Aber ich kann es verstehen, wenn du dich lieber raushältst. Nur schweigen musst du können!“

„Klar, ich kann ihn doch auch nicht leiden“, versuchte Katja Holger zu besänftigen und er lächelte sie versöhnt an.

Bettina und ich verzogen uns, sie musste Emma abholen und ich hatte noch einiges zu arbeiten, morgen wollte ich die 9 a mit einem netten kleinen Ex in Italienisch überraschen. Hoffentlich war Katja überhaupt noch Single – nicht, dass Holger hier vergeblich Gefühle investierte, der Arme.

Endlich wieder Freitag! Um eins war ich rechtschaffen müde, nach immerhin sechs Stunden Unterricht, aber ich hatte es doch geschafft, während der großen Pause unauffällig ein kleines Stückchen geräucherten Hering in Holzners offene Angebertasche fallen zu lassen, während ich angeblich in den Zeitschriftenstapeln auf dem Fensterbrett hinter seinem Platz etwas suchte. Danach entsorgte ich schleunigst das verräterische Stückchen Alufolie und schrubbte mir die fischigen Finger. Noch war der Hering frisch gewesen; ich grinste vergnügt, als ich mir vorstellte, wie er erst am Montag duften würde, falls der alte Faulpelz das ganze Wochenende hindurch seine Tasche nicht öffnete. Ich drehte versonnen die kurze Strähne auf dem Hinterkopf um den Finger, als ich meinen Mantel angezogen hatte. Heute Abend mit Lockenkopf...

In der großen Halle arbeiteten die Schüler der Oberstufe schon wie die Besessenen, schleppten Boxen herum und schlossen die Beleuchtung an, während die kleineren von der Deko-Gruppe die Kulissen malten. Ich trat zu einem der DJs für heute Abend. „Und denkt dran, die Musik nicht zu cool – je mehr man mitgrölen kann, desto besser ist die Stimmung!“

Fabian nickte. „Und was stellen Sie sich so vor, Frau Korff?“

Ich überlegte. „We Will Rock You - Völlig LosgelöstSkandal im Sperrbezirk, solche Sachen eben. Nicht nur, aber das zieht immer. Um Mitternacht Marmor, Stein und Eisen bricht und um eins Country Road, Take Me Home.“

Er lachte. „Gut, das haben wir alles irgendwo. Sie kommen doch auch? Wer macht noch Aufsicht?“

„Frau Reichard, Herr Dr. Brandes, Herr März. Müsste reichen, oder?“

„Klar. Wer ist Frau Reichard?“

„Die Referendarin, die große Blonde. Hast du sicher schon mal gesehen.“

„In der Kollegstufe kriegen wir die doch nie zu sehen. Ich werde heute Abend aufpassen. Hübsch?“

„Sehr, du alter Angeber.“

Ich winkte ihm vergnügt zu, bevor ich den Ausgang zum Parkplatz ansteuerte. Fabian war ein netter Kerl aus meinem Geschichtsgrundkurs, aber so unwiderstehlich war er nun auch nicht. Für eine Referendarin, die bestimmt sieben Jahre älter war, reichten der Lausbubencharme und die großen braunen Augen sicher nicht aus. Die wirkten ja schon nicht, wenn er sich vor der Ausfrage drücken wollte!

Als ich alle Einkäufe verstaut und die Wohnung notdürftig geputzt hatte, legte ich mir meinen Men in Black – Anzug heraus, dazu Sonnenbrille und Hut, und schritt dann mit der Nagelschere vor dem Badezimmerspiegel zur Tat. Zuerst flocht ich mir die Haare zu zwei dicken Zöpfen, um sie hinterher aufheben zu können, dann säbelte ich beide Zöpfe brutal ab. Seltsam sah ich aus – und schief war es auch! Ich band die Zöpfe auch am oberen Ende zu und räumte sie beiseite, nachdem ich sie etwas wehmütig betrachtet hatte – es hatte fast zehn Jahre gedauert, bis sie so lange geworden waren...

Dann wusch ich mir entschlossen die Haare. Als ich sie frottiert hatte und wieder in den Spiegel sah, kringelten sie sich sehr viel versprechend, aber sie waren immer noch ein bisschen zu lang und reichlich ungleichmäßig. Ich stutzte hier und da etwas nach und verstreute überall dünne feuchte Strähnchen im Bad, bis ich zufrieden war. Sollte ich mir einen Scheitel ziehen? Oder alles vom Wirbel auf dem Kopf nach außen kämmen und mir einen Pony schneiden? Ja, das könnte gut aussehen, fand ich und schnitt wieder tapfer drauf los.

Das Schönste daran war, fand ich, dass ich die Haare an der Luft trocknen lassen konnte, wenn ich wollte – und dass ich mit dem Haarewaschen nun in fünf Minuten fertig war. Warum hatte ich das nicht schon viel früher gemacht? Sobald ich die verstreuten Haare aufgesaugt und das Bad wieder sauber gemacht hatte, begutachtete ich mich sehr zufrieden im Spiegel, auch von hinten, sobald ich den Handspiegel auf dem Nachttisch gefunden hatte. Ziemlich gerade, ja – und durch die Locken sah man Unregelmäßigkeiten hoffentlich ohnehin nicht.

Die Augenbrauen könnte ich mir auch noch dünner zupfen, beschloss ich und griff sofort zur Pinzette.

Hinterher gönnte ich mir noch eine belebende Maske und fand mich schließlich richtig schön. Naja, schön – aber ich sah nicht schlecht aus, jünger, nicht mehr so spießig, weniger lehrerinnenhaft. Ich kicherte vor mich hin. Zum Teufel, ich war doch Lehrerin! Wollte ich wie eine Schülerin aussehen? Viertel nach fünf... um acht musste ich in der Schule sein. Und ob ich schön war, war völlig egal, es war wahrscheinlich stockdunkel, abgesehen von den Mädchenklos, die ich gelegentlich zu filzen hatte.

Ich aalte mich eine halbe Stunde im Schaumbad, dann warf ich mich in die bereitgelegte Kluft und grub sogar noch eine schwarze Krawatte aus. Mit Sonnenbrille fand ich mich recht gelungen. Make-up brauchte ich nicht, nur etwas hellen Puder.

Immer noch reichlich Zeit... Ich verzog mich an meinen Schreibtisch, schlug eine To-do-Liste in meinem Terminplaner auf und dachte nach. Was wollte ich im Leben noch erreichen? Ein Ziel pro Jahr wäre nicht schlecht... Ich wollte irgendwann einmal befördert werden. Gut, aber das würde noch mindestens zehn Jahre dauern, half mir jetzt also eher wenig.

Ich wollte nach New Orleans reisen, aber nicht in diesem Jahr – und nicht alleine.

Kam ich der Sache damit näher? Wollte ich doch einen Mann? Ich kaute am Bleistift und starrte ins Leere. Nein, wollte ich nicht. Die machten nur Arbeit und waren lästig, und man fühlte sich immer so ausgenutzt – wenn ich bloß an Neil dachte! Alles war gut so, wie es war.

War es nicht. Niemand liebte mich – und ich liebte auch niemanden. Ich mochte meine Schwestern und meine Freunde, naja, meine Eltern manchmal auch, aber ich liebte niemanden. Machte mich das stärker oder nur einsamer? Ich wusste es nicht... War Liebe eine Notwendigkeit oder nur emotionale Erpressung?

Halb sieben. Ich beschloss, langsam zur Schule zu wandern und den Aufbau ein bisschen zu überwachen. Holger war sicher auch schon da und half mit. Bis ich meine Taschen mit Schlüsseln und Kleingeld gefüllt, einen Mantel angezogen und die richtigen, vor allem bequemen Schuhe gefunden hatte, war es ohnehin schon fast sieben.

Ich bummelte gemütlich durch das Waldburgviertel Richtung Uni und dann die Floriansgasse entlang. Als ich vor der Schule stand, hörte ich schon ein lang gezogenes Heulen und grinste leicht vor mich hin. Wohl das übliche Problem?

Ich verzog mich erst einmal ungesehen ins Lehrerzimmer, um meinen Mantel loszuwerden, dann betrat ich die große Halle. Sie war hinreißend dekoriert, in der Ecke stand eine – natürlich alkoholfreie – Bar und an der Decke drehte sich bereits die unvermeidliche Discokugel. Ich erspähte zu meinem Missvergnügen auch schon die ebenso unvermeidliche Nebelmaschine. Das Zeug stank immer zum Gotterbarmen, aber es gehörte wohl einfach dazu.

Musik hörte ich freilich keine, das hatte ich auch nicht erwartet. Dafür entdeckte ich im Halbdunkel mehrere Gestalten, die halb unter der Anlage kauerten und fleißig schraubten und verkabelten. Einer rappelte sich auf und trabte an mir vorbei.

„Wenn wir das nicht bald hinkriegen, müssen wir das Fest absagen“, unkte er.

„Ach, Tim – das sagst du doch jedes Mal, und es hat immer Musik gegeben. Kopf hoch!“

Er grinste schief und eilte davon. An der Bar fand ich auch Holger, der den Spezi probierte, als sei das ein besonderes Rezept. Zusammen sahen wir wirklich schräg aus. Holger musterte mich ein wenig ratlos, aber er kam nicht darauf, was anders war. Von der Wallemähne zum Tituskopf – aber Männer sahen so etwas eben nicht, sie spürten nur ein dumpfes Unbehagen, weil etwas sich verändert hatte. Ich lächelte vor mich hin und schlenderte ein bisschen herum, half hier und da bei den letzten Dekorationen, schloss den Putzraum auf und wieder zu, fragte nach dem Erfolg des Vorverkaufs und instruierte die kräftigen Kerle von der Security-Gruppe, worauf beim Filzen zu achten war und welche uns allen bekannten Gestalten heute Abend Hausverbot hatten. Sie nickten etwas gelangweilt. Als ich allerdings verlangte, beschlagnahmter Alkohol müsse sofort vernichtet werden, trat ein Funkeln in ihre Augen.

„Der wird ins Klo gekippt, nicht in eure Leber entsorgt, klar?“

„Klar doch...“

Nicht sehr glaubhaft. „Wehe, von euch ist nachher einer besoffen!“

„Aber nein, was denken Sie denn von uns!“ Treuherzige Blicke.

„Genau das ist ja das Problem!“, feixte ich, bevor ich weiterging.

Natürlich war die Anlage um drei Minuten vor acht funktionstüchtig und legte in grauenhafter Lautstärke los, grauenhaft deshalb, weil mir die Musik nicht gefiel, die sie spielten. Gute Sachen mussten natürlich so laut sein…

Schnell füllte sich die Halle mit trinkenden, tanzenden und knutschenden Gästen, bis es so voll war, dass man das Fest getrost als Erfolg bezeichnen konnte. Ich jagte einige Mädchen aus dem Klo zum Rauchen ins Freie und ließ mir eine Mineralwasserflasche zeigen. „Nur Wasser – gegen den Durst“, flötete Nadine aus der 10 a, als sie mir die Flasche hinhielt.

„Ach, gib doch mal her...“ Ich schraubte die Flasche auf und schnupperte. Ziemlich lecker - und recht hochprozentig. Dann befeuchtete ich meinen Zeigefinger damit, kostete und nickte anerkennend.

„Guter Stoff. Stolychnaja?“

Nadine schaute halb entgeistert und halb verlegen und nickte. Sie konnte sich denken, was nun passierte, und es war wirklich schade darum: Ich leerte die Flasche ins Waschbecken und spülte nach. „Welche Verschwendung... Warum versucht ihr das immer wieder? Damit hättet ihr es doch woanders richtig gemütlich haben können.“

Betrübt zogen sie ab und ich sah ihnen kopfschüttelnd nach. Was war so toll daran, in der Schule zu saufen? Das Tabu, mit dem der Ort belegt war? War das eine Mutprobe? Ich wanderte weiter, hörte eine Zeitlang der Musik zu, grölte bei Völlig losgelöst begeistert mit – Fabian hatte meine Ratschläge befolgt! – und traf dann Holger wieder an der Bar.

„Na?“

„Drei Raucherinnen auf dem Klo, eine getarnte Flasche Wodka. Und bei dir?“

„Kleine Schlägerei vor der Tür – ungebetene Gäste – und ein paar dubiose Pillen. Die Betreffenden sind schon auf dem Heimweg, oder sie lungern draußen herum.“

Katja, als Dracula ziemlich überzeugend, gesellte sich zu uns, sie hatte zwei Bier konfisziert und einen Tollpatsch gezwungen, seinen verschütteten Fruchtcocktail selbst wieder aufzuwischen. Ich schaute beim Einlass vorbei, der fest in der Hand meines Deutschgrundkurses war – gestandene Kerle, wirklich. Nur ihre Lektüren hatten sie selten dabei. Die Ausbeute der Securities war bescheiden – zwei Taschenmesser, ein ziemlich dünner Schlagring und eine Flasche Jägermeister.

„Mir scheint, die Gegend wird zahm“, kommentierte ich nach einem Blick in die Kiste.

„Beschreien Sie´s nicht“, grinste Wolfi, und Brandes, der gerade vorbeikam, schaute etwas konsterniert drein. „Geht es hier immer so zu?“

„Nein, sonst ist eindeutig mehr los“, erklärte Wolfi ihm mit todernster Miene und ich musste kichern. Brandes sah mich an. „Waren Sie beim Friseur?“

„Nein, ich habe eine eigene Schere.“ Er schaute zwar etwas dumm drein, aber er war als Zorro nicht schlecht verkleidet. Unter dem Sombrero würde ihm freilich im Laufe des Abends noch schön warm werden. Als ich mich gerade abwenden wollte, um wieder einmal die Toiletten zu inspizieren, gab es Unruhe an der Tür: Die Securities hielten den schönen Ricky fest. Ich ging zur Tür. „Hallo, Richard. Sie wissen doch, dass Sie hier Hausverbot haben? Versuchen Sie´s im Jugendhaus, dort ist heute auch eine Fete, sogar mit Bier... Hier geht leider gar nichts.“

Ricky tobte noch ein bisschen, fand uns korinthenkackerisch und nachtragend – bloß weil er letztes Jahr ein bisschen gedealt hatte und deshalb geflogen war – und verzog sich dann murrend wieder. Kaum war er weg, kam Holger im Laufschritt an und zerrte einen Jungen hinter sich her, den er den Securities in die Arme schubste.

„Werft ihn raus, der wollte hier eine Prügelei anfangen.“

Sie gehorchten nur zu gerne. Der Sicherheitsdienst war heute nender als im Kino! Zwei hielten den Übeltäter fest - ach, einer vom Mariengymnasium! - einer nahm ihm die Garderobenmarke ab, drückte ihm dann seine Jacke in die Hand und drängte ihn energisch zur Tür hinaus.

„Das kann ja noch heiter werden“, murmelte Brandes leicht verzagt. Offenbar war schon zu alt für so etwas.

„Keine Sorge“, versuchte ich ihn aufzumuntern, „um halb zehn geht´s im Jugendhaus richtig los, dann kommen die ganz harten Kerle gar nicht erst hierher. Das Schlimmste dürfte vorbei sein. Ich schaue mal wieder in die Halle.“

In der Halle war die Musik durchwachsen, aber es wurde eifrig getanzt. Ich wanderte herum, unterhielt mich mit einigen Schülern, soweit das bei diesem Lärm möglich war, schaute in das völlig leere Mädchenklo – der Wodka kreiste nun wohl woanders? – und hörte wieder der Musik zu. Da – Skandal im Sperrbezirk! Ich grölte leidenschaftlich mit -

...und draußen vor der großen Stadt

stehn die Nutten sich die Füße platt....

Der DJ fuhr beim Refrain die Lautstärke so zurück, dass man hören konnte, mit welcher Freude die Schüler sangen. Das konnten sie auswendig – Rilkegedichte nicht! Na, mir ging´s ähnlich, wenn ich ehrlich war. Beim letzten Refrain sah ich mich um und mein Blick fiel auf Brandes, der mich fassungslos anstarrte. Kannte er das Lied nicht oder war etwas passiert? Ich drängte mich zu ihm durch und nutzte die Pause vor dem nächsten Stück, um ihn zu fragen.

„Nein, was soll passiert sein?“

„Sie haben so verstört geschaut, ich dachte, unten gibt´s vielleicht Ärger?“

„Nein. Aber was Sie für Texte kennen!“

„Je größer der Schmarrn, desto leichter bleibt er hängen! Das war doch vor Jahren der absolute Hit, und wir alle haben die Nummer 32 16 8 angerufen, erfolglos natürlich, Sie wissen ja, unter 32 16 8/ ist Konjunktur die ganze Nacht – nein?“

„Dunkel, ja.“

„Na, später gibt´s hoffentlich noch Marmor, Stein und Eisen bricht und zum Schluss Country Road. Ich hab dem DJ geraten, ab und zu ein Grölstück einzubauen, das fördert die Stimmung.“

„Gute Idee“, antwortete er schwach und verzog sich. Offenbar hielt er mich für eine Irre, die mitten in der Halle stand und Songtexte mitgrölte. Alter Spießer, das musste er doch auch alles kennen? Oder war er dafür zu alt? Egal, ich hatte genug zu tun. Ab halb elf schoben wir alle, die nicht nachweisen konnten, dass sie mindestens 16 waren, unerbittlich zum Ausgang, dafür kamen nun einige Exschüler aus alter Anhänglichkeit. Mit denen konnte man sich nett unterhalten, über Zivildienst, Studium und Privatleben. Erstaunlich, wieviele plötzlich nach dem Abitur doch ihr Herz für den Lehrerberuf entdeckten!

Nun wurde es richtig gemütlich. Tatsächlich gab es noch Grölgelegenheiten und schnelle und langsame Tänze in wilder Mischung. Ich schrak richtig zusammen, als Fabian Country Road auflegte und alle melancholisch mitsangen. Das war unwiderruflich das letzte Stück (Viertel nach eins schon!), und die Anlage wurde mit einem ausdrucksvollen Heulton heruntergefahren. Die Gäste holten ihre Mäntel wieder ab und Holger schaltete die grelle Deckenbeleuchtung ein. Ich sperrte den Putzraum auf und stellte Besen, Staubsauger, Müllsäcke und Wischmop vor die Tür. Die Veranstalter hatten noch eine harte Stunde vor sich, bis die Halle wieder aussah wie immer, und der arme Holger musste sie dabei beaufsichtigen. Ich wünschte ihm mitleidig eine gute Nacht und schöne freie Tage, holte meinen Mantel und verschwand schleunigst. Katja schloss sich mir an, und wir plauderten noch gemütlich bis zu ihrer Wohnung, dann bog ich ab und trabte nach Hause. Fünf freie Tage! Gut, ich hatte einiges zu arbeiten und meine Steuererklärung zu machen, aber trotzdem... Herrlich! Und in diesen fünf Tagen würde ich mich nicht mit der albernen Zielliste befassen, die noch auf meinem Schreibtisch lag, sondern nach dem optimalen Schlafzimmer suchen und vielleicht nach einigen Klamotten, die besser als meine braven Kostüme zu meiner neuen frechen Frisur passten.

Ein anstrengender Sommer

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