Читать книгу Das große Aufräumen - Elisa Scheer - Страница 2
Montag, 07.11.2011
ОглавлениеAls erstes warf sie ihre Schultasche in die Ecke, dann schleuderte sie die Schuhe von den Füßen, tappte auf Strümpfen ins Wohnzimmer und warf sich aufs Sofa. Heulen hätte sie mögen!
So ein Scheißtag aber auch - alles war schief gegangen.
Die Achte hatte gemault, weil sie die Schulaufgabe noch nicht fertig hatte. Die hatte sie in der Woche vor den Herbstferien schreiben lassen, also waren die zwei Wochen noch lange nicht vorbei. Naja, lange – am Mittwoch war Termin. Das würde sie schon noch schaffen, die erste Aufgabe hatte sie ja schon fast durch.
Der Kurs war dünn besucht und unlustig. Alle sagten, die neue Q 11 sei so ein fleißiger Jahrgang, nett und pflichtbewusst. Ihr war das noch nicht so wirklich aufgefallen. Und – Mist, sie hatte die Absenzen nicht aufgeschrieben. Das hatte sie sich doch extra vorgenommen! Ob die das einkalkulierten? Bei der Körner können wir schwänzen, die schreibt uns nicht auf? Und dann fragten sie immer wieder das Gleiche, weil sie nicht zugehört hatten - waren die bei anderen Kollegen genauso?
Die beiden Geographiekurse waren jedenfalls nicht besser als der Mathekurs. Und das Seminar – das hatte sie sich auch nicht selbst ausgesucht, das hatte sie geerbt. Schon bei der Vorstellung hatte es geheißen: „Die Kollegin, die Megacities angeboten hat, hat leider eine Risikoschwangerschaft. Sie müssten das Seminar übernehmen.“ Sie hatte stumm und wenig begeistert genickt, sie wusste ja nicht einmal, wie man so ein Seminar aufziehen sollte. Das wusste sie jetzt eigentlich immer noch nicht so genau.
Und ihre eigene siebte Klasse war heute mal wieder unausstehlich gewesen. Der ewige Hickhack zwischen Tina und Sophia in der letzten Reihe, Rafael, der dauernd laut rülpste, was die anderen Jungs zu Begeisterungsstürmen hinriss, Lukas und Nini, die dauernd krähten Versteh ich nicht!... furchtbar.
Wie machten das die anderen? Vierundzwanzig Wochenstunden, das war ja nicht zu schaffen!
Hatte sie jetzt schon einen Burnout? Kaum angefangen, schon fix und alle? Wieso wirkten die anderen so munter? Die hatten doch auch nicht weniger zu tun – eher mehr? Die schreckliche Wintrich zum Beispiel, die hatte immerhin zwanzig Stunden und war obendrein Mitarbeiterin in der Schulleitung. Oder die Suttner als Herrin der Oberstufe. Na, wahrscheinlich hatten die einfach schon mehr Übung.
Und bestimmt eine tolle Putzfrau. Missmutig sah Maja sich um.
Scheußlich. Sie wohnte jetzt seit neun Wochen hier, und die Wohnung war einfach entsetzlich. Die Lage ging, ein Stück hinter der Uni, sie konnte sogar zu Fuß zur Schule gehen.
Was hatte sie denn auch erwartet?
Onkel Karl-Heinz hatte die Wohnung neu gekauft, irgendwann in den Achtzigern. Dann war er gestorben, Mama hatte die Bude geerbt und sie vermietet. Immerhin hatten diese superordentlichen Spießer das senffarbene Bad weiß kacheln lassen. Wenigstens etwas.
Leider hatten sie sich nicht an Onkel Karl-Heinz´ grausigen Tapeten gestört. Im Wohnzimmer zum Beispiel senfgelb, geprägt, schimmernd – unglaublich: Wer stellte so etwas her? Dazu passend goldgelber, stark abgenutzter Teppichboden.
Und jetzt musste sie hier vegetieren. Zu allem Unglück das auch noch.
In dieser goldenen Hölle. Fehlten bloß noch goldene Fronten in der Küche – aber die war einfach aus Kiefernholz.
Sie schloss die Augen: am besten ein Schläfchen! Dann riss sie die Augen wieder auf. Nein, für so was hatte sie keine Zeit, sie war schließlich total im Stress.
Die Schulaufgabe!
Der Beitrag für die Fachsitzung!
Die Aufstellung für die Wintrich!
Der Unterricht für morgen!
Klamotten für morgen!
Ihre Haare, ihre Augenbrauen, ihre Haut, ihre Speckröllchen. Ihre Fingernägel. Ihr – überhaupt alles!
Alles war Mist. Und sie war selbst schuld. Eindeutig.
Sie stand auf und streckte sich. Halb sechs… hatte sie so lange in der Schule herumgehangen? Unlustig schlurfte sie ins Arbeitszimmer, wo sich auf dem Schreibtisch (den sie schon hatte, seitdem sie ins Gymnasium gekommen war, und das war jetzt siebzehn Jahre her) Papiere, Ordner, Mappen, Bücher, ihr Notenbüchlein und alles Mögliche andere türmte.
Wie sollte man da denn arbeiten? Musste sie aber. Wo war jetzt die Schulaufgabe der 8 b?
Sie setzte sich, nachdem sie zwei Mappen, eine Formelsammlung, eine leere Bäckertüte und zwei Kugelschreiber vom Schreibtischstuhl entfernt hatte. Gründlich suchen war angesagt!
Sie stapelte alles einigermaßen stabil auf, warf die Bäckertüte (und mehrere weitere, die unter dem Krempel auftauchten) ins Altpapier und fand ganz unten schließlich die Schulaufgabe. Sogar mit Notenliste und halber Musterlösung – offenbar hatte sie mal ganz solide angefangen.
Der Blick auf die Notenliste verriet ihr noch mehr: angefangen ja – aber offenbar schnell wieder aufgehört. Sie hatte gerade bei zehn Leutchen die erste Aufgabe geschafft.
Also, weiter machen!
Was hätten die gleich wieder rechnen sollen? Auf welche Rechenschritte wollte sie Punkte geben? Sie studierte die Musterlösung und begann dann, nach dem Rotstift zu graben. Ah, hier!
Einer der Stapel neigte sich und fiel schließlich vom Tisch.
Maja war schon halb aufgestanden, aber dann beschloss sie, erst einmal ordentlich zu korrigieren.
Fünf weitere schaffte sie, dann machte sich tiefe Lustlosigkeit breit. Sie starrte einige Minuten in die Luft, dann stand sie doch auf und sammelte die heruntergefallenen Zettel wieder auf. Als sie sich, den Stapel in der Hand, wieder aufrichtete, erstarrte sie: Was war das denn – letzte Mahnung? Wieso hatte sie das zwar geöffnet, aber offensichtlich den Inhalt nicht zur Kenntnis genommen? Sollte sie das jetzt nicht schnell bezahlen?
Aber dazu brauchte sie ihr Handy, überlegte sie, wegen der TANs. Und wo das nun wieder steckte… Nein, noch fünfmal Aufgabe eins! Was, schon Viertel nach sechs? Ihr Magen knurrte.
Na, wenigstens zwei.
Nach Nummer siebzehn stellte sie sich auf die Waage. Mit etwas Herumrutschen, stärkerer Belastung links und Luftanhalten kam sie auf 88,6 Kilo. Heftig. Sie benutzte die Toilette und versuchte es noch einmal. Immerhin waren das doch bestimmt, na, zweihundert Gramm Flüssigkeit gewesen? Jetzt wog sie exakt 89 Kilo. So ein Blödsinn aber auch. Und die braune Cordhose saß verdammt stramm. Im Spiegel fand sie sich furchtbar. Aber ihr Magen knurrte trotzdem.
Na gut, noch zwei.
Neunzehn. In der Küche fanden sich eine halbe Tüte Kartoffelchips, die eklige Sorte, die so penetrant nach künstlichem Käsearoma schmeckte, eine steinharte Semmel, die sie vergessen hatte einzufrieren (letzte Woche oder so), ein Joghurt von Mitte Oktober, zwei matschige Bananen, eine Tafel Schokolade, weiß mit Crisp (lecker fettig) und eine Tütensuppe. Spargel mit Croutons. Von 2008! Die musste ja dann schon mit umgezogen sein – und da war sie schon überaltert gewesen. Toll.
Sie schüttete die Chips auf einen Teller und kehrte ins Arbeitszimmer zurück.
Wieder zwei.
Moment – hatte sie die Steigung vorhin bepunktet? Ja, hatte sie. Gut, jetzt waren es einundzwanzig. Noch sieben!
Nach jedem Exemplar aß sie eine Handvoll Chips und schüttelte sich. Wieso hatte sie nicht die mit Chili gekauft? Um halb acht war sie mit der ersten Aufgabe fertig - in dem Tempo schaffte sie das Ding bis Mittwoch nie.
Wenn sie gewusst hätte, wie viel Stress so ein Lehrerdasein mit sich brachte… und dabei hieß es, Mathe und Geographie seien noch am harmlosesten!
Mürrisch sah sie sich um. Das Arbeitszimmer war das reinste Chaos. Kunststück, wann hätte sie es denn herrichten sollen? Seit dem ersten Schultag war sie nur am Rödeln wie ein Hamster im Rad!
Na, meistens jedenfalls. In den Ferien hatte sie sich erst einmal ordentlich ausschlafen müssen. Und gegen den Fernsehentzug ankämpfen. Und diese wüsten Krimis lesen, bei denen der Kommissar in jedem Band mit einer anderen Verdächtigen ins Bett stieg… war das nicht eigentlich verboten? Konnte ihr aber auch egal sein.
Aber das Arbeitszimmer war einfach schrecklich. Onkel Karl-Heinz war offensichtlich farbenblind gewesen – beige Struktur mit braunen und grünen Schlieren, als hätte jemand Gemüsepampe an die Wände geschmiert!
Davor stand ihr wackliges Regal aus München, dem der Umzug überhaupt nicht bekommen war. Ja, wenn sie das Stützkreuz wieder gefunden hätte! Die Fächer waren bis obenhin vollgestopft mit Ordnern, dem Krempel aus dem Referendariat, losen Zetteln, Schulbüchern, Stiften, CDs, USB-Sticks, diversen Krimis, die hier eigentlich nichts zu suchen hatten… und alles, was nicht mehr ins Regal gepasst hatte, türmte sich auf den beiden Umzugskisten daneben.
Wahrscheinlich war in den Kisten lauter total wichtiges Zeug, aber wie sollte sie das feststellen? Wenn sie die Kisten auspackte, lag hier noch mehr herum und die Unordnung wurde bloß noch größer. Verdammt, es sah ja überall so aus! Im Kleiderschrank stapelten sich die Klamotten, von denen allerdings ein guter Teil teuflisch eng saß. Eigentlich trug sie immer die gleichen paar Sachen… Hatte die Wintrich sie heute etwas befremdet gemustert? Bloß weil sie dieses Sweatshirt zum dritten Mal getragen hatte? Hätte sie sich ein Schild umhängen sollen „Ich hab aber ein frisches T-Shirt drunter“?
Die Wintrich nervte sowieso. Wie konnte man so perfekt sein? Bei fast einsachtzig wog die bestimmt bloß sechzig Kilo. Immer in Bleistiftröcken oder schmalen Hosen, immer in schicken Blazern, darunter bessere T-Shirts oder Blusen, immer in schönen geputzten Schuhen, immer ordentlich frisiert und dezent geschminkt… und die Schüler beteten sie an und hatten auch ein kleines bisschen Angst vor ihr – beneidenswert. Außerdem war die Frau kaum über dreißig und saß schon in der Schulleitung… ob die was mit dem Chef hatte?
Aber da gab´s ja auch diesen Schönling, der sie freitags abholte und offenbar bei der Konkurrenz in Mönchberg arbeitete… nein. Sie konnte die Wintrich zwar so wenig leiden wie die Suttner oder die Herzberger (diese Bande von Streberinnen!), aber integer war sie bestimmt. Und mit dem Chef hatte keine was, für so etwas hatte sie eigentlich einen ganz guten Blick.
Die Suttner hatte sie heute auch noch angeschnauzt. Bloß weil sie diese Liste nicht fristgerecht abgegeben hatte! Gut, sie hatte auch noch ein paar andere schwach angeredet – aber die hatten daraufhin betreten die Listen zutage gefördert und ihr in die Hand gedrückt – und sie selbst? Sie fand das blöde Ding eben nicht mehr, was sollte man denn da machen!
„Himmel, sag´s halt gleich, dann kriegst du einfach eine neue! Glaubst du, Totstellen hilft? Ich hab auch schon was verloren, dann besorgt man sich das Ding eben nochmal!“ Und dazu ein Blick, als sei Maja noch in der Unterstufe.
Ganz Unrecht hatte sie da leider nicht.
So konnte es nicht weiter gehen.
Die einzige, die genauso hilflos strampelte wie sie, war Claudia Merz, die Neue mit Deutsch und Geschichte. Und über die hatten sich am Freitag die Herzberger und die Suttner in Majas Hörweite unterhalten und gesagt: „Die Frau ist nicht überlastet, die ist einfach miserabel organisiert.“
Traf das auf sie auch zu? Musste sie sich auch besser organisieren?
Wahrscheinlich ja. Verdammt, jetzt war es zehn nach acht – und saß hier und tat sich ziellos leid. So wurde das doch nie was.
Auf zur zweiten Aufgabe! Was hatte sie gewollt? Den Schnittpunkt der beiden Geraden. Ansatz, zwei Rechenschritte, Ergebnis, Punkt in der Skizze markieren – nein, in der Angabe gab es sechs Bewertungseinheiten, also drei Rechenschritte. Gut, dann los. Fünf Stück, danach einen Hauch Aufräumen!
Die fünf gingen so schnell, dass Maja gleich noch zwei anhängte. Prima, das erste Viertel! Und jetzt?
Sie brauchte eine anständige Regalwand, aber nicht heute. Und weiß gestrichene Wände, aber nicht heute. Sie sah sich sinnend um. Die einzige tadellose Stellfläche war das tiefe Fensterbrett aus hellbraunem Travertin. Tief genug, um die Fenster zu kippen und trotzdem Bücher in zwei Reihen davor aufzustapeln.
Also klappte sie die erste Kiste auf und guckte hinein. Ach – weitere Schulbücher? Sie nahm sie heraus und sortierte sie nach „total unwichtig“ und „weniger wichtig“ in zwei Stapel hintereinander. Danach mehrere Ordner – die Protokolle von Schulrecht, Schulpsychologie und Staatsbürgerkunde, zweimal Uni-Vorlesungen, dreimal Uni-Übungen… das war wirklich etwas für die zweite Reihe! Sie stellte die Ordner an der gegenüberliegenden leeren Wand nebeneinander auf, holte alle anderen Ordner aus dem überquellenden Regal und platzierte sie daneben - und faltete schließlich die leere Kiste zusammen und warf sie in den Flur. Sah schon etwas besser aus, fand sie. Sie hatte riesige Lust, jetzt weiter zu machen, aber die Schulaufgabe war dringender.
Okay, die nächsten sieben!
Die dauerten auch nur eine Viertelstunde – jetzt war es neun. Sie öffnete die nächste Kiste und stöhnte auf. Kopien! Die Kopien für die erste und die zweite Zulassungsarbeit! Brauchte sie das denn jemals wieder? Sie hatte gar keine Lust, den Mist durchzusehen, ob davon noch irgendwas verwendbar war.
Bestimmt nicht. Beide Themen hatten mit dem aktuellen Lehrplan eher wenig zu tun – und wenn sie wirklich einmal darüber stolpern würde, dann hatte sie ja immer noch die Arbeiten selbst. Sie fand einen geeigneten Korb, zog die Heftstreifen aus den Kopien und legte alles umgekehrt in den Korb: Schmierpapier bis 2020! Unter den Stapeln förderte sie mehrere Dosen zutage, in denen es klapperte.
Ach nein – Büroklammern, ein abgebrochenes Lineal, Stifte, Kugelschreiberminen, Patronen (aber zu welchem Füller sollten die denn passen?), Buntstifte, die sachte vor sich hin bröselten… Sie kippte fast alles in den Müll und trug die Dosen in die Küche – bei Gelegenheit gehörten sie in die Spülmaschine.
Die leere Kiste kam zur ersten in den Flur.
Halb zehn.
Nummer 15 bis 21 – viertel vor zehn.
Danach reichte es ihr. Sie lief noch einmal alle Zimmer ab – Wohnzimmer: Chaos, Arbeitszimmer: Chaos mit einer winzigen Schneise darin, Schlafzimmer: bäh. Viertes Zimmer: Gerümpel – und keine Ahnung, was das einmal werden sollte. Die Küche sah grausig aus, das Bad war nicht viel besser. Und geputzt hatte sie schon länger nicht mehr, man sah´s.
Sie zog sich aus, kniff sich missmutig in den Hüftspeck und die Bauchfalten, beschloss, sich erst morgen früh zu wiegen, schrubbte sich das Gesicht, putzte die Zähne, cremte sich ein – warum hatte sie eigentlich so viele angebrochene Cremetuben und –töpfchen? – und schlüpfte in ein nicht wirklich frisches Nachthemd. Morgen musste sie dringend auch mal Wäsche waschen. Morgen hatte sie aber bis Viertel nach vier Unterricht, fiel ihr ein, als sie das Licht ausknipste. Da kam sie auch wieder zu nichts. Und was wollte sie morgen im Unterricht machen? Mathe 10, Mathe 7, Geo 12, Seminar Geo. Da hatte sie diesen Basistext über die Charakteristika einer Megacity, damit waren die Teilnehmerinnen beschäftigt. Immerhin – aber eng wurde es morgen bestimmt wieder. Verdammter Mist.