Читать книгу Tot im Wohnwagen - Elisa Scheer - Страница 3
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ОглавлениеVerdammt, schon fast acht Uhr! Nele eilte die Fontaneallee entlang, die immer noch wie eine Mondlandschaft wirkte. Kriegten die Bauträger die letzte Rate nicht erst, wenn die Außenanlagen fertig waren? Brauchten die das Geld nicht? Alles war voller Schutthaufen und schon wieder halb bewachsener Erdhügel, dazwischen standen Baumaschinen, die man anscheinend vergessen hatte. Weit und breit war kein Bauarbeiter zu sehen.
Na, vielleicht wurden die erst tätig, wenn sie selbst im Bürgerzentrum Selling saß, und hörten auf, bevor sie nach Hause kam.
Sie eilte weiter und ärgerte sich sofort wieder: Die Fontaneallee war immer noch komplett zugeparkt und zwar mit ältlichen Wohnwagen. Konnten die Besitzer die blöden rostigen Dinger nicht auf ihrem eigenen Grundstück bunkern? Oder noch besser gleich auf den Schrottplatz bringen, wo die meisten ja sowieso hingehörten? Jedenfalls sahen sie so aus.
Immerhin, da vorne war die Bushaltestelle – und der Siebener fuhr gerade weg, Mist! Bloß wegen dieser schrecklichen Straße!
Nein, das war dann doch unfair, sie hatte einfach getrödelt, obwohl sie heute doch vor acht noch die Unterlagen für den ersten Termin fertigmachen wollte. Gut, die Frau kam um halb neun, das schaffte sie noch locker, so lange fuhr der Bus auch wieder nicht zum Bürgerzentrum in der Kölner Straße.
Aber hier stank es, eindeutig. So ähnlich wie alter Leberkäse, fand sie. Wahrscheinlich hatte jemand seine Brotzeit schon vor Tagen in der Sonne vergessen und jetzt wurde sie zügig wieder lebendig.
Igitt… sie lief etwas schneller, denn der nächste Bus tauchte schon in der Ferne auf.
Immerhin fuhren die Busse hier im Fünfminutentakt, sehr lobenswert. Aber die Buslinie war auch die einzige Verbindung zur Stadt – über die Rabenbrücke, durch Henting und die MiniCity und dann nach Selling. Woanders wollten die Birkenrieder wahrscheinlich sowieso nicht hin – und in die City kam man von Selling aus mit praktisch jedem Bus.
Da konnte man sich eigentlich nicht beklagen, überlegte sie, durch die angelaufenen Scheiben nach draußen starrend, ohne viel wahrzunehmen.
Überhaupt, wenn man von den stinkenden und Platz raubenden Wohnwagen einmal absah, wohnte sie schön. Ihre neue Wohnung war zwar nicht ganz billig, aber sehr geschickt geschnitten und durch die Smart-Home-Elemente ausgesprochen praktisch.
Die doofe Urschel Rosa behauptete ja, elektronische Geräte seien Stromverschwendung… Als ob für Papierbücher nicht jede Menge Bäume sterben würden – und zu einer Buchhandlung kam man von Birkenried aus auch nicht ohne Verkehrsmittel, also kamen der Bus oder der Lieferwagen dazu. Digital – kein Gramm Sprit! Wenn man Rosa so etwas vorrechnete, fing sie regelmäßig zu heulen an und rannte dann aus dem Zimmer.
In Wahrheit konnte sie bloß nicht mit einem Computer umgehen – dieses Geächze und Geseufze, wenn sie einen Fallbericht tippen und Gott behüte an der richtigen Stelle abspeichern musste! Die arme Tanja, die mit ihr in einem Zimmer saß, musste dann meistens einspringen.
Als der Bus in die Kölner Straße einbog, schreckte sie nun doch aus ihren Gedanken hoch und schlängelte sich zur Tür durch. Puh! Busfahren war eigentlich kein Spaß, aber mit dem Rad war es von Birkenried aus einfach zu weit – und die Straßen auf diesem Weg hatten keine Radwege. Und mit dem Auto? Wo bitte sollte man hier in Selling parken? Vom Carbon Footprint ganz zu schweigen…
Immerhin war sie früh genug gekommen, um diesen Sanierungsplan noch einmal durchzugehen: Die hoch verschuldete Jenny Meusel war offenbar den online-Casinos verfallen und tröstete sich mit Shopping über ihre desolate Situation hinweg; sie mussten heute zusammentragen, wem alles sie wieviel schuldete, wieviel sie tilgen konnte und wie sie sich das Spielen und das Shoppen abgewöhnen konnte. Verdeckte das irgendwelche anderen Probleme? Partnerschaft? Beruf? Eltern oder Geschwister? War sie wohl schon so süchtig, dass sie eine echte Therapie brauchte?
Das glaubte Nele eigentlich nicht. Sie fuhr ihren Rechner hoch und stellte gleichzeitig mit der anderen Hand ihre Tasche ab: Handy, Brotzeit, Trinkflasche, Taschentücher, Geld und Einkaufsbeutel.
Sonja, die sich gerade am Schreibtisch gegenüber ähnlich einrichtete, grinste ihr zu. „Morgen. Wieder die totale Selbstversorgerin?“
„Morgen. Klar. Schau, was soll ich hier denn sonst machen? In diesem fiesen Snackautomaten ist alles wer weiß wie alt und außerdem in Haufen von Plastik eingewickelt. Und auch Mehrwegflaschen“ – sie nickte in Richtung von Sonjas zwei Schorleflaschen – „verbrauchen Plastik und sind nicht unbegrenzt wiederverwendbar.“
„Hast ja Recht, du Ökotussi, aber ich mag kein Leitungswasser. Das schmeckt nach nix und trotzdem unangenehm.“
„Früchtetee? Oder grüner Tee? Der soll auch noch wahnsinnig gesund sein.“
Sonja schüttelte sich und setzte sich hin. „Schon gut. Ich hasse bloß Tee. In jeder Form. Kaffee mag ich auch nicht, aber irgendwas muss ich ja trinken.“
Nele winkte ab, diese Diskussion führten sie nicht zum ersten Mal.
„Wir haben beide um halb einen Termin - gehst du in den Ausweichraum oder soll ich?“, fragte sie also, statt weitere Getränkevorschläge zu machen.
„Ich geh schon, ich brauche keinen Rechnerzugriff. Wer kommt bei dir?“
„Junge Frau, überschuldet. Und bei dir?“
„Ratloser alleinerziehender Vater. Vielleicht hole ich jemanden von der Familientherapie dazu. Was meinst du, haben immer schon so viele Leute ihr Leben nicht in den Griff gekriegt – oder sind das die modernen Zeiten?“
„Moderne Zeiten“, vermutete Nele, während sie die Mappe mit den Klientendaten und ihren Vorschlägen kontrollierte, „ich glaube, die Leute werden mittlerweile zu nachsichtig erzogen. Keinerlei Stressresistenz, keinerlei Fähigkeit, Lustgewinn aufzuschieben.“
„Was?“
„Alles, was sie wollen, muss sofort geschehen – auch wenn sie es sich überhaupt nicht leisten können.“
„So geht´s mir aber auch“, bekannte Sonja.
Nele hatte schon den Mund geöffnet, um durchdachten Konsum zu predigen, als es klopfte und Jenny Meusel hereinschaute.
Sonja verzog sich und Nele richtete sich mit Frau Meusel in der Besprechungsecke ein, wo es gemütlicher war. Dort besprachen sie zuerst die Zahlen – ihr Gehalt, ihre Verpflichtungen, das Budget, das sie (quasi als Hausaufgabe) entworfen hatte, und analysierten dann die Diskrepanzen.
„Das muss alles ab jetzt anders werden!“, verkündete Frau Meusel pathetisch.
„Nein, bitte kein neues Leben von heute auf morgen!“, wandte Nele routiniert ein. „Das funktioniert nicht.“
„Ach, warum denn nicht? Ich meine, so kann ich doch auch nicht weitermachen? Ich meine, ich trau mich ja schon gar nicht mehr an den Geldautomaten!“
„Es ist besser, sich auf einzelne konkrete Aspekte zu konzentrieren. Haben Sie denn etwas, was Sie verkaufen könnten?“
Frau Meusel überlegte. „Naja, ich hab mal ein potthässliches Silberbesteck von meiner Patin bekommen. Ich meine, echt ist es und für sechs Personen, aber so grausig verschnörkelt.“
„Und natürlich schwarz angelaufen, wenn man es nicht benutzt? Das kommt mir bekannt vor. Besteht die Gefahr, dass ihre Patin sich nach dem Besteck erkundigt?“
„Keine Gefahr, sie war bei meiner Taufe schon steinalt und ist gestorben, als ich elf war.“
Nele empfahl einen anerkannt fairen Gold- und Silber-Ankauf. „Dann hätten Sie ein wenig Bargeld. Aber ganz wichtig – melden Sie sich sofort bei diesen Online-Casinos ab. Wenn Sie unbedingt spielen wollen, laden sie sich eine Gratis-Puzzle-App auf den Rechner. Bitte, schreiben Sie sich das auf! Sozusagen als To-do-Liste.“
Ihr Gegenüber grinste und holte ihr Handy aus der Tasche. „Abmelden tu ich mich sofort!“ Sie klickte eine Zeitlang herum und sah dann lobheischend auf: „Erledigt!“
„Sehr gut – aber nicht wieder anmelden!“
„Ich bin doch nicht blöd! Da fällt mir ein, ich hab auch noch ein silbernes Teeservice, also Tablett, Kanne, Zuckerdose, Milchkännchen. Brauche ich nie!“
„Wenn Sie sicher sind? Nicht, dass Sie es hinterher bereuen!“
„Bestimmt nicht. Wo könnte ich noch sparen, was meinen Sie?“
Nele überlegte. „Nichts kaufen, was Sie nicht wirklich brauchen. Brauchen, nicht haben wollen – das ist ein Unterschied!“
„Schwierig…“
„Sie kommen doch nächste Woche wieder, nicht wahr? Müssen Sie bis dahin überhaupt etwas einkaufen?“
„Was zum Beispiel?“
„Neues Duschgel, Brot, Butter…“
„Wasser…“
„Wozu? Leistungswasser ist von der Qualität her meist besser und kostet so gut wie gar nichts.“
„Eigentlich eine gute Idee – ich meine, da müsste ich ja auch nichts schleppen. Duschgel hab ich noch reichlich … und eigentlich noch genug zu essen. Bis zum Wochenende brauche ich gar nichts, glaube ich.“
„Dann versuchen Sie es ruhig. Einen Vorteil hätte das obendrein, wenn Sie Ihre Vorräte verbrauchen: Sie können den Kühlschrank gleich abtauen und gründlich putzen. Machen wir es so: Sie gehen auf jeden Fall zum Silberankauf und dann zahlen Sie die Hälfte des Erlöses auf ihr Girokonto ein. Ausgeben werden Sie möglichst nichts. Müssten Sie bis nächsten Mittwoch nicht auch schon wieder Gehalt bekommen? Dann wären Sie immerhin gut tausend Euro von Ihrem Dispo-Limit entfernt. Ein erster Schritt…“
„Das klingt doch schon ganz gut, meinen Sie nicht, Frau Garbrecht?“
„Geht so. Frau Meusel, dann sind Sie immer noch rund zweieinhalbtausend in den Miesen. Wissen Sie, wieviel Zinsen Sie da zahlen? Im Schnitt sind es zehn Prozent.“
Frau Meusel senkte verzagt den Kopf und Nele klärte sie auf: „Zweihundertfünfzig im Jahr sind über zwanzig Euro jeden Monat, die Sie bloß der Bank in den Rachen werfen. Nein, vom Dispo müssen Sie schnell runter. Frau Meusel, mal ganz ehrlich: Wofür geben Sie noch zu viel Geld aus? Das Online-Casino war es doch nicht alleine, oder?“
„Naja… manchmal fühle ich mich so mutlos…“ Die Stimme verklang in Gemurmel.
Nele wusste Bescheid. „Und dann müssen Sie sich etwas gönnen? In der Altstadt?“
„Ja – woher wissen Sie das? Ich meine, das ist doch total idiotisch?“
„So geht es vielen. Man spricht auch von Frustkäufen. Oder können Sie immer brauchen, was Sie sich gekauft haben?“
„Ach nein. Manches habe ich noch nicht einmal ausgepackt. Wenn ich bloß das Geld hätte, das ich dafür rausgeworfen habe…“
„Was haben Sie denn bevorzugt gekauft?“
„Naja… Kosmetik, zum Beispiel.“ Sie grinste kurz. „Man glaubt ja immer, dass man davon viel schöner wird, nicht?“
„Die Lügen der Werbung, da haben Sie schon Recht. Können Sie den Kram peu à peu verbrauchen, um nichts Neues kaufen zu müssen?“
„Naja, ich hab mindestens drei Wunderwimperntuschen, alle noch zugeklebt, und zwei angebrochene.“
„Ich fürchte, verkaufen kann man das nicht mehr, aber vielleicht freuen sie sich bei der Tafel? Auch Bedürftige brauchen ja vielleicht mal etwas Make-up…“
Frau Meusel kritzelte auf ihren Block. „Bis zum nächsten Mal sortiere ich das alles danach, wo es hinkann, Tafel, Flohmarkt, Vorratsschrank.“
„Das ist eine sehr nützliche Idee. Sie machen wirklich Fortschritte, Frau Meusel!“
„Es geht nur alles so langsam… wie machen Sie das, Frau Garbrecht? Ich meine, wie schützen Sie sich vor Frustkäufen?“
Nele überlegte kurz. „Ich kaufe grundsätzlich nichts, das nicht Bio oder in zuviel Plastik verpackt ist – und keine billigen Klamotten, die garantiert auf Kosten von Natur und schlecht bezahlten Näherinnen in Asien zusammengetackert worden sind. Unglaublich, was da alles nicht mehr in Frage kommt! Und darüber hinaus bin ich Minimalistin – weniger Kram, mehr Lebensqualität, eine herrlich leere Wohnung.“
„Das klingt ja toll. Sollte ich mir dazu Bücher kaufen, was meinen Sie?“
„Frau Meusel! Was meinen Sie selbst?“
Jenny Meusel lächelte beschämt. „Nichts kaufen, erstmal im Netz schauen?“
„Spart auf jeden Fall Geld. Also, welche drei To do-Aufgaben packen Sie jetzt bis nächste Woche an?“
Jenny Meusel blätterte. „Ich hätte viel mehr!“
„Bitte die drei wichtigsten! Mehr ist für eine Woche im Allgemeinen zu viel.“
„Hm… Silber verkaufen als erstes. Krempel sortieren und schon mal schauen, was zur Tafel kann. Also, Originalverpacktes. Und als drittes… wenn ich was kaufen will, schauen, ob es total bio und ohne Plastik ist und ob ich es überhaupt dringend brauche?“
„Das klingt sehr vernünftig. Man hat festgestellt, dass man, wenn man solche Verhaltensweisen einige Wochen lang trainiert, sie wirklich verinnerlichen kann.“
Sie erhob sich und verabschiedete Jenny Meusel, die halb getröstet, halb voller Tatendrang wirkte. Dann sah sie ihr nach: Ob das schon etwas brachte? Das bisschen Coaching? So einfach konnte es schließlich nicht sein. Mal sehen, was sie nächste Woche zu berichten hatte.
Sonja saß noch im Ausweichraum, also nutzte sie schnell die Gelegenheit und überlegte, ob sie noch einmal beim Ordnungsamt anrufen sollte, um denen wieder zu erzählen, dass in einem dieser schrottreifen Wohnwagen irgendetwas verrottete und es dementsprechend in der Fontaneallee ekelerregend stank, von Tag zu Tag mehr. Beim letzten Mal hatte man nur gelangweilt nach ihrem Namen gefragt und versprochen, bei Gelegenheit dort einmal nach dem Rechten zu sehen. Geschehen war offenbar gar nichts.
Sonja kam zurück. „Puh, dieser Vater! Die Kleine tyrannisiert ihn total. Die probiert doch, wie weit sie gehen kann, und stößt nie an ein Hindernis. Ich hab ihn echt zur Erziehungsberatung weitervermittelt, die Renate hatte gerade noch einen Termin frei.“
„Wahrscheinlich denkt er, das arme mutterlose Kind braucht besonders viel Liebe.“
„Richtig. Aber keine Grenzen setzen – das ist doch keine Liebe, sondern Weicheiverhalten!“
„Ganz genau. Wir haben doch auch nicht alles gedurft, oder? Hat uns gar nichts geschadet. Huch – hab ich das jetzt eben wirklich gesagt? Ich werde alt!“
Sonja kicherte. „Was glaubst du, wie oft ich schon Elternsprech abgesondert habe. Ab dreißig ist das unvermeidlich.“