Читать книгу Tot im Wohnwagen - Elisa Scheer - Страница 4
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ОглавлениеGegen fünf war sie für heute fertig und schaukelte gemütlich im Bus Richtung Birkenried, wobei sie über die Ratschläge nachdachte, die sie Jenny Meusel und noch zwei weiteren mäßig verschuldeten jungen Frauen erteilt hatte. Beziehungsweise diese Verhaltensweisen mehr oder weniger aus ihnen herausgekitzelt hatte. Doch, das funktionierte – wenn sie es verinnerlichten. Sie selbst hatte doch in dieser Woche auch erst – naja – zwölf Euro oder so ausgegeben – wozu auch mehr? Sie brauchte nichts, zu essen war noch genug im Haus, Wasser kam aus dem Hahn, den guten grünen Tee hatte sie auch noch – und ihre angenehm kleine Wohnung verhinderte doch ohnehin, dass sie zuviel Krempel ansammelte. Am schlimmsten waren sogenannte Deko-Artikel! Ab und zu schlenderte sie zum Spaß durch ein Möbelhaus, das sehr günstig im Nordwesten von Birkenried lag und wohl immer noch hauptsächlich von den neu Zuziehenden lebte. Was es da an Dekokram gab! Goldene Buddhas, geschnitzte Kästlein, Vasen, Kunstblumen, glitzernde Kissen, Püppchen, die auf den Regalkanten sitzen sollten – von Oster- und Weihnachtskram ganz zu schweigen. Furchtbares Zeug, das sah doch nur überladen und unordentlich aus!
Ihr kam solcher Tinnef jedenfalls nicht ins Haus. Ob Jenny Meusel sich an ihre ersten Schritte hielt? Der Versuchung widerstehen konnte? So einfach war es eben nicht, eingefahrene Verhaltensweisen zu ändern… die übrigen „Klienten“ heute waren vergleichsweise harmlos oder wenigstens unproblematisch – mit der Bank bereits im Reinen, bei der Familienberatung angemeldet, fest entschlossen, das Jobangebot von der Arbeitsagentur anzunehmen… na, auch bei denen konnte noch alles Mögliche schief gehen.
Aber oft klappte es ja auch, und das machte diesen Beruf so erfreulich. Wenn man nur einmal pro Monat jemanden aus einer Krise herausholen konnte, hatte man doch schon etwas Vernünftiges erreicht? Der Bus schnurrte über die Rabenbrücke (warum hieß die eigentlich nicht Zollinger oder Birkenrieder Brücke?) und Nele lächelte selbstzufrieden vor sich hin. Dann nahm sie sich wieder zusammen, denn eine Heilige war sie schließlich nicht und Malte mit seiner Fahrradwerkstatt war ein mindestens genauso nützlicher Bürger. Merle eines Tages, wenn sie mit dem Studium fertig war, bestimmt auch. Immerhin schien ja ihr grässlicher Pseudoschwiegervater aufgehört zu haben, ihr auf die Nerven zu fallen. Als ob Merle nicht imstande sei, Klein-Emma aufzuziehen! Mama half ihr, Nele selbst sprang auch gelegentlich ein, und Emma entwickelte sich prächtig, sie konnte mit ihren neun Monaten schon beinahe laufen und brabbelte (zugegeben noch unverständlich) vor sich hin. Vier Zähnchen hatte sie auch schon, was hatte der alte Huther also eigentlich zu meckern gehabt? Immerhin schien er sich mittlerweile beruhigt zu habe; vielleicht hatte ihm seine Frau auch endlich den Mund verboten. Angela Huther war wirklich ganz vernünftig.
Fontaneallee.
Nach einigen Schritten schnupperte sie angewidert: Dieser gammelige Geruch war tatsächlich noch stärker geworden, da musste jemand in einem dieser Schrottwohnwagen vor Wochen mindestens ein Kilo Hackfleisch – ungekühlt – vergessen haben. Ekelhaft. Sie sollte wirklich das Ordnungsamt informieren – oder wer auch immer für sowas zuständig war. Sich nur ärgern nutzte schließlich auch nichts!
Das tat sie auch als erstes, als sie nach Hause kam. Gut, nach dem zufriedenen Blick über die karge Ordentlichkeit allenthalben – wer wenig besaß, konnte eben leicht Ordnung halten!
Im Ordnungsamt zeigten sie wenig Interesse – sie solle eben die Polizei anrufen, wenn sie ein Verbrechen vermute. Geduldig wiederholte sie, dass es nicht um ein Verbrechen, sondern nur um einen unglaublichen Gestank gehe, vielleicht sei das sogar gesundheitsschädlich: Wer sei denn dann zuständig?
Der Typ am anderen Ende der Leitung schnaufte belästigt und riet zur Feuerwehr.
Nele schnaufte auch. „Wetten, die sagen, dafür ist das Ordnungsamt zuständig? Arbeitet in dieser Stadt eigentlich überhaupt jemand etwas?“
Natürlich wurde daraufhin der Hörer aufgeknallt.
„Blöder Arsch“, murmelte Nele und versuchte es bei der Feuerwehr, nicht ohne zu erzählen, dass dieser Tipp von einem stinkfaulen Mitarbeiter im Ordnungsamt stamme.
„Das kennen wir schon“, wurde sie beruhigt. „Wir schauen da mal vorbei, versprochen.“
Nele gab Namen und Adresse an und bedankte sich recht herzlich. Vielleicht ging ja jetzt bald einmal etwas voran, man konnte an diesen Schrottmobilen kaum noch vorbeigehen, ohne ohnmächtig werden!
Und jetzt?
Sie kochte sich ihr Lieblingsessen, Vollkornspaghetti mit Gemüsesauce (Tomatenmark, Gewürze, Olivenöl, Paprikaschnipsel in grün und rot, rote Bohnen und ein bisschen Mais). Etwas gehobelten Parmesan darüber… sie setzte sich an ihren kleinen Tisch und speiste zufrieden; hinterher gab es noch einen wunderbar sauren grünen Apfel. Sie trug Geschirr und Apfelbutzen zur Küchenzeile, rülpste satt und spülte schnell ab, dann warf sie sich mit dem Handy aufs Bettsofa und rief ihre Schwester an.
Merle freute sich, sie zu hören, und erwähnte umgehend eine dringend zu schreibende Seminararbeit und eine sehr unruhige Emma. Das funktionierte auch sofort: „Soll ich vorbeikommen und ein bisschen auf Emma aufpassen?“
„Das wäre toll! Mama ist auch beschäftigt – und Papa ist mit Emma immer ein bisschen ungeschickt.“
Also machte Nele sich wieder auf, noch einmal zurück über die Leiß, jetzt aber in das etwas bürgerlichere Mönchberg! In Selling musste sie dazu in einen anderen Bus umsteigen, aber unterwegs konnte sie ja immerhin ein bisschen lesen… außerdem wurde sie unterwegs gleich dreimal angerufen – eine Umfrage, die sie gleich wegdrückte, Papa, der morgen grillen wollte: ob Nele kommen und vielleicht einen Tomatensalat mitbringen könne? Nele sagte zu, das konnte ja vielleicht ganz lustig werden. Der dritte Anruf kam von einem Callcenter: Ob sie Interesse an lukrativen Geldanlagen hätte?
„Das heißt im Klartext, ob ich mich gerne ausnehmen lassen möchte? Nein, danke. Übrigens machen Sie sich strafbar, wenn Sie Leute ohne deren Einverständnis belästigen, wissen Sie das nicht?“
„Wieso belästigen?“
„Leute, die mir gegen meinen Willen Geld aus der Tasche ziehen wollen, egal wofür, belästigen mich. Oder haben Sie auch noch eine Einverständniserklärung gefälscht? Ohne ist es doch nicht umsonst verboten, Sie blöder Möchtegern-Krimineller!“
Der Anrufer legte abrupt auf und Nele grinste: Heute war sie gut, schon zwei Leute beleidigt!
Sie sah auf und registrierte das breite Grinsen des Mannes gegenüber. „Toll, wie Sie mit denen umspringen. Diese Telefonwerbung ist wirklich eine Pest!“
Nele bedankte sich heiter für das Lob und erhob sich, um auszusteigen.
Merle freute sich, als sie das große Zimmer im ersten Stock des leicht verwohnten Reihenhauses betrat. Emma dagegen sah ihr leicht misstrauisch entgegen, entspannte sich aber, als Nele sich zu ihr auf die Spieldecke setzte und zwei der Plastikbausteine aufeinander stapelte. Da quietschte sie erfreut und streckte die Ärmchen aus, um hochgenommen zu werden. Nele nahm sie auf den Arm, wo sie sofort zwei Babyarme um ihren Hals spürte.
„Merle, kann ich mit ihr in den Garten gehen?“
„Ja, klar – dann kann ich hier mal ein Stück weiterkommen. Wenn du sie an den Händen hältst, läuft sie schon! Na, sagen wir, sie versucht es. Und kräht dabei vor Stolz.“
„Na, Emma, wollen wir im Garten herumlaufen?“
Emma warf ihr einen matten Blick zu und vergrub ihr Gesicht an Neles Hals; Nele angelte sich noch einen Ball und verließ das Haus mit Emma durch das Wohnzimmer und die Terrassentür.
Draußen stellte sie Emma auf die Beine und hielt die kleinen, dicken Händchen fest. Emma stand stocksteif da und drehte schließlich den Kopf, um Nele mit ihren großen braunen Augen unsicher anzusehen. Als Nele sich einen kleinen Schritt vorwärtsbewegte, verstand ihre Nichte und tappte ebenfalls einen Schritt voran. Danach hatte sie verstanden, was von ihr erwartet wurde, und machte selbstständig, immer noch an der Hand ihrer Tante, einige Schritte, nicht ohne triumphierend zu lachen.
Nele lobte sie: „Toll, was du schon kannst, meine Süße! Schau, wir gehen zur Decke und dort spielen wir mit dem Ball!“
Dort setzte sie Emma in die eine Ecke, sich selbst gegenüber, und rollte dann den Ball langsam zu Emma hinüber. Die lachte so breit, dass man ihre nagelneuen Zähnchen sah, und schlug mit der flachen Hand auf den Ball, so dass er ein wenig zurückrollte.
Emma war doch wirklich ein liebes, freundliches und auch sehr aufgewecktes Kind – es war überhaupt nicht nachvollziehbar, was der alte Huther immer hatte, überlegte Nele, während sie den Ball mit einem deutlich ausgestreckten Zeigefinger zurückschubste und sich freute, als auch Emmas winziger Zeigefinger aktiv wurde. Gut, man musste sich schon sehr strecken, um den Ball zurückzurollen, aber Emma lernte wirklich schnell.
Wie konnte dieser alte Idiot da behaupten, Emma werde nicht genügend gefördert, kein Wunder bei einer so jungen und unerfahrenen Mutter, sie müsste längst Sachen wie Chinesisch lernen, um eines Tages in einer globalisierten Welt zu bestehen? Gut, das war leicht übertrieben – aber nur leicht!
Chinesisch konnte sie später immer noch lernen, sie war erst ein Dreivierteljahr alt!
Emma gab einen Unmutslaut von sich. „Oh, entschuldige, Süße!“ Nele schubste den Ball wieder zurück Emma kicherte und revanchierte sich umgehend.
In der Folge gelang es Nele zunehmend, gleichzeitig mit Emma zu spielen und über Emmas missratenen Großvater nachzudenken.
Komisch nur, dass in letzter Zeit nichts mehr von ihm zu hören war! Dieser arrogante Sack…
Schließlich rappelte sich Emma, die offenbar genug von diesem Spiel hatte, so weit auf, dass sie in verblüffendem Tempo Richtung Haus loskrabbeln konnte. Nele ließ Ball Ball sein und eilte hinterher, um Emma wieder laufen zu lassen. Das gefiel der Kleinen so gut, dass sie laut krähend an der Hand ihrer Tante wieder das Haus betrat. Im Wohnzimmer trafen sie auf Emmas Oma.
„Oh, Nele! Du bist also eingesprungen? Das ist lieb von dir!“ Sie nahm Emma auf den Schoß, die sich dort erst ein wenig wand und sich dann zurechtkuschelte.
„Sag mal Oma, Emma! O-ma… O-ma…“
Emma kicherte und blinzelte.
„Nele, wie geht´s dir denn?“
„Na, prima. Die Wohnung ist jetzt so, wie sie sein soll, die Arbeit macht Spaß, ich habe nette Freunde und Birkenried sieht zwar immer noch aus wie Sau, aber es wird langsam besser. Bis auf diese Dreckswohnwagen…“
„Bitte? Komm, Nele, irgendwo müssen die armen Arbeiter doch wohnen – aber haben die denn nicht diese Container, wie üblich?“
Nele lachte, was Emma sofort, wenn auch etwas schläfrig, beantwortete. „Nein, solche Container haben sie da auch. Aber bei uns in der Fontaneallee haben irgendwelche Ferkel jede Menge schrottreifer Wohnwagen abgestellt. Und aus einem stinkt es heraus, als läge da ein total verschimmelter Leberkäse drin. Oder Schlimmeres“, fügte sie finster hinzu.
„Du meinst – eine Leiche?“
„Aber nein, das glaube ich nun doch nicht! Höchstens ein paar tote Ratten. Ich hab die Feuerwehr informiert, die sollen da mal aufmachen und nachschauen. So geht es schließlich nicht, alle müssen auf dem Weg zum Bus da vorbei und es würgt einen wirklich. Das muss man direkt nach dem Frühstück absolut nicht haben.“
„Und was hat die Feuerwehr herausgefunden?“
„Keine Ahnung, das habe ich ja erst heute gemacht. Und wahrscheinlich werde ich nie erfahren, was es war, die werden das verweste Zeug einfach entfernen.“
„Hoffentlich auch den Wohnwagen, der hat diesen Geruch bestimmt intensiv angenommen.“
„Dein Wort in Gottes Ohr, Mama. Am besten alle, die sind so hässlich – und obendrein nehmen sie bloß Parkplätze weg.“