Читать книгу Nach vorn - Elisabeth Etz - Страница 6

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DER TAG, an dem der Port raus kam, war kein besonderer Tag. Nicht mein Geburtstag, nicht der Tag des ersten Schnees und auch nicht der Tag an dem Sarah Puntigam ihr Team mit dem entscheidenden Elfmeter gegen Spanien ins EM-Halbfinale schoss. Hätten wir alle gern gehabt, war’s aber nicht. War ein ganz gewöhnlicher Tag. Mit einem grau bedeckten Himmel und einem ekelhaften Wind, der an den Kleidern zerrte und einem den Staub ins Gesicht blies. Wenn’s drauf ankommt, spielt das Wetter nie mit. Das Radio sprach von Sturmwarnung, und in der Nacht hat’s dann auch tatsächlich ein paar Bäume umgelegt. Aber da war ich schon längst zuhause und es erwischte nur mehr die anderen.

Ich hatte mich mit meinen Eltern darauf geeinigt, dass der Tag, den wir feiern würden, derjenige sein sollte, an dem der Port raus kam. Der Tag, an dem wir es wagen würden, das Wort endgültig auszusprechen. Endgültig raus. Endgültig gesund. Endgültig wieder in der Lage am Leben teilzunehmen. Am Leben zu sein.

Auch wenn uns das kein Arzt jemals so unterschrieben hätte. Endgültig sagt man nicht. Erstens mal generell nicht. Wer weiß schon, was morgen ist? Zweitens gibt es die Fünf-Jahres-Regel. In den ersten fünf Jahren danach war ich mal gar nichts, schon gar nicht geheilt. Es konnte jederzeit von Neuem losgehen. Erst nach fünf Jahren konnte man anfangen aufzuatmen.

Aber auf der Station hatten sie mir einen Pokal überreicht und eine Urkunde, weil ich es geschafft hatte. Hatten mir applaudiert und mich mit großem Trara verabschiedet. Da waren mir Regeln egal. Ich hatte nicht vor wiederzukommen.

Ich fuhr mit der Hand über mein Schlüsselbein, wo bis gerade eben noch ein kleines Gerät unter meiner Haut gesessen hatte. Fuhr mir über die Narbe, die sich dort gebildet hatte und noch etwas schmerzte. Menschen wie ich hatten Narben dort, wo andere keine hatten. Aber die Schmerzen würden schnell vergehen. Alles würde vergehen und von Neuem, Schmerzlosem abgelöst werden.

Der Tag, an dem der Port raus kam, war kein besonderer Tag. Ich konnte es meinen Eltern ansehen, dass sie gerne etwas Besonderes gehabt hätten. Aber zu oft war es bergauf gegangen und zu oft gleich danach wieder bergab. So oft, dass mein einstiges Lieblingsessen mir mittlerweile zum Hals heraushing. Dabei hatten meine Eltern extra ein Buch über die griechische Küche angeschafft, weil Moussaka im Kochbuch für die kluge Hausfrau nicht drinstand.

Auch andere Bücher hatten sie sich zugelegt. Das Anti-Krebs-Kochbuch zum Beispiel.

„Ist doch sinnlos“, habe ich gesagt. „Ich soll das essen, was da drin steht, um dem Krebs vorzubeugen?“

„Ach, Lena“, hat meine Mutter gesagt und geseufzt. So hab ich damals geheißen. Lena. Helene kann man auf unterschiedliche Arten abkürzen. Damals fand ich Lena noch okay. Nur das andere, das war nicht okay.

„Damit ich dem Krebs vorbeuge?!?“, habe ich geschrien. Ich habe ihr das frisch gekaufte Buch aus der Hand gerissen und in die Mülltonne geschmissen.

„Für wie blöd haltet ihr mich denn?!? Glaubt ihr noch immer, dass man da was vorbeugen kann?!?“

Ein paar Wochen später musste ich ein weiteres Buch entdecken. Eigentlich hatte ich nach etwas ganz anderem gesucht und plötzlich in einer Schublade versteckt ein Kochbuch gefunden.

Krebszellen mögen keine Himbeeren. Obwohl ich gerade relativ gut gelaunt war, brachte mich der Anblick dieses Buches total aus der Fassung. Ich riss so fest an der Lade, dass sie aus ihrer Verankerung sprang und sie auf den Boden knallte. Das Buch schleuderte ich gegen die Wand. Ich schwöre, irgendwann bringe ich die Leute, die sich solche Titel ausdenken, eigenhändig um. Nachdem mein erster Wutanfall vorbei war, saß ich schluchzend am Küchentisch und spürte die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter. Wenn ich die Kraft gehabt hätte, hätte ich sie weggestoßen. Aber ich hatte sie nicht.

Selbst wenn wir schon vor Jahren Anti-Krebs gegessen hätten, es wäre egal gewesen. Die Wahrheit war nämlich: Krebszellen mögen keine Menschen. Sie mochten insbesondere mich nicht. Sie hatten vor, mich umzubringen. Und so wie es aussah, würde es ihnen auch gelingen.

Der Tag, an dem der Port raus kam, war kein besonderer Tag. Und eigentlich war der Tag, ab dem ich wusste, dass es nun endlich vorbei war, schon vorher. Annette hatte mir gerade verkündet, dass nur noch meine Eltern einwilligen müssten, weil Portkatheter entfernen eine OP und ich minderjährig und so. Zuerst wusste ich gar nicht, ob ich ihr das glauben sollte. Aber sie sagte Dinge wie „… aufgrund des positiven Verlaufes in der letzten Zeit …“ und „… wir können mit ziemlicher Sicherheit ausschließen …“ Sie sagte, „… wir rechnen anhand der vorliegenden Befunde nun nicht mehr mit einem Rezidiv …“ Da dämmerte mir langsam, dass es ernst gemeint war. Annette war die Stationsärztin und sie sagte niemals leichtfertig etwas.

Annette sagte noch eine ganze Menge, aber ich konnte gar nicht richtig zuhören, weil sich dieses Grinsen in meinem Gesicht ausbreitete, das ich nicht mehr kontrollieren konnte. Ich dachte, dass ich jetzt etwas sagen sollte, mich bedanken oder so, aber ich saß bloß da und grinste, weil ich nicht wusste, was man sonst tut in so einer Situation. Annette grinste zurück und ich dachte, wahrscheinlich ist Grinsen sowieso das einzige, was passt.

Ich ging zurück auf den Flur und in den Hof, weil die Sonne schien und von da oben in mein Grinsen einstimmte und weil ich einfach ein bisschen für mich sein wollte damit. Ich wusste, gleich würden meine Eltern kommen und mich abholen und wir würden einander umarmen und Freudentränen vergießen. Ich wusste auch, dass ich das eigentlich gar nicht wollte, das mit dem Umarmen und dem Heulen. Davon hatte ich im letzten Jahr genug gehabt.

Aber sie waren meine Eltern und außer mir hatten sie niemanden, der sie umarmte und tröstete und sich mit ihnen freute. Es gab Schlimmeres.

Im Hof stand Ronnie an die Mauer gelehnt und rauchte. Es war sein letzter Tag als Zivi bei uns in der Klinik und er war ziemlich oft auf der Onko rumgehangen. Er war gekommen, als sie mir das erste Mal verkündet hatten, dass die Chemo bei mir nicht so anschlug wie gedacht und ich wohl länger hier bleiben musste, als erwartet. Fast gleichzeitig. Nun sollte er auch gleichzeitig mit mir gehen.

Ich stellte mich neben ihn und stützte ein Bein gegen die Mauer. Ronnie hielt mir das Zigarettenpäckchen hin und ich fischte mir eine heraus und ließ mir Feuer geben. Obwohl ich früher schon ein paar Mal mit Freundinnen auf dem Dachboden heimlich geraucht hatte, war mir, als wäre das hier die allererste Zigarette meines Lebens.

„Na, jetzt haben wir’s beide hinter uns“, sagte Ronnie.

Ich blinzelte in die Sonne und stellte mir vor, ich wäre das ganze letzte Jahr hier auch bloß Zivildiener gewesen.

Der Kamp kam durch den Hof gelaufen und ich hob die Hand und winkte. Kamp war Oberarzt und hatte es immer eilig. Manchmal kam er mit Annette zur Visite und stresste rum. Ich war froh, wenn ich ihn nicht sah.

Trotzdem hob ich die Hand. Ich wollte, dass er sah, wie ich da stand und rauchte, so wie das hunderttausend normale Jugendliche in meinem Alter tun. Wie ich neben Ronnie stand. Zwei normale Menschen, die beide in einer halben Stunde ganz normal hier rausgehen würden.

Der Kamp hielt wirklich inne und winkte zurück. Er lächelte. Alle lächelten heute. Auch wenn hinter den Mauern das Sterben weiterging. Das war mir jetzt egal. Es betraf mich nicht mehr.

Der Kamp musste wie immer schnell weiter, aber ich stellte mir vor, wie er sich im Laufen Freudentränen aus den feuchten Augen wischte. Natürlich war das nur in meiner Vorstellung so. Die Ärzte auf der Onko weinen nicht. Auch nicht, wenn einer stirbt. Die sind tough, so wie wir. Irgendwann weinen wir auch nicht mehr. Weinen ist für die von draußen. Für die, die kommen und Geschenke bringen. Für die, die kommen und nicht rein dürfen, weil wir hochanfällig für Infektionen sind. Für die, die kommen und Unordnung stiften. Für die, die kommen, und uns zum Lachen bringen. Heulen tun sie alle irgendwann.

Wir nicht. Ich nicht. Das hab ich mir geschworen. Dass ich nie wieder heule.

War auch nicht mehr notwendig. Die Sonne schien, Ronnie rauchte, Annette grinste und es würde noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis meine Eltern kämen.

Der Tag, an dem der Port raus kam, war nicht der Tag, an dem ich wieder in die Schule gehen hätte können. Das war schon einige Monate vorher. Bloß war da das Schuljahr fast zu Ende und es hatte wenig Sinn. Schließlich wusste man auch noch nicht, wie alles verlaufen würde. Ich hatte also erst mal Sommerferien und dann die OP. Den Eingriff, wie sie es nannten. Sie setzten alles dran, um das Wort Operation so gut es ging zu vermeiden. So als könne man uns das nicht auch noch zumuten. Als würden wir aus den Latschen kippen, sobald wir dieses Wort hörten. Total verlogen, fand ich. Als ob das noch einen Unterschied gemacht hätte. Auch wenn das Ding aussah wie ein Spielzeug aus einem Überraschungsei, es saß unter meiner Brust und es gehörte da nur so lange hin, wie ich mir regelmäßig Chemikalien durch den Körper jagen lassen musste.

Das aber war jetzt endgültig vorbei. Und eine OP war eine OP.

Ich konnte also ganz normal im September wieder in die Schule gehen. Natürlich nicht in meine alte Klasse, aber eine Klasse drunter. Würde nicht in einem Jahr die Matura machen, sondern erst in zwei. Als wäre ich sitzengeblieben. So wie Nono. Das mit September war also unheimlich praktisch. Ich hatte Nono, mit dem ich zwar nicht befreundet war, den ich aber noch aus meiner Klasse kannte.

Ich würde auch in einigen Fächern die gleichen Lehrer haben. Den Stricker, der mir in Mathe das Leben zur Hölle gemacht hatte, war ich los. Obwohl ich das mit der Hölle jetzt im Nachhinein noch mal anders definieren würde. Egal, ich musste mir über ihn keine Gedanken mehr machen.

Ich sollte mir auch keine Gedanken mehr machen über das, was gewesen war. Ab jetzt ging es nach vorn. Die letzten Augusttage war ich ziemlich gut gelaunt. Ich hatte das Gefühl, die Welt mochte mich. Sie wollte es mir leicht machen auf meinem Weg nach vorn.

Und jetzt sitze ich da in der neuen Klasse. Neben Nono. Ein halbes Jahr schon. Ich konnte sogar durchsetzen, dass wir einen Tisch in der Mitte nehmen und uns nicht irgendwo hinten in die letzte Reihe verdrücken. Nono hatte keine Lust auf Lernen. Ich schon. Ich wollte endlich wieder eine richtige Schülerin sein.

Die erste Zeit in der neuen Klasse habe ich vor allem damit verbracht, die anderen zu beobachten. Herauszufinden, wer wie zu wem steht. Wer welchen Status hat. Wer das Sagen hat und wer sich unterordnet. Und wo ich mittendrin meinen Platz finde. Auf blöde Blicke oder Fragen hatte ich mich vorbereitet, aber die sind gar nicht gekommen. Ich weiß nicht, wer aller wusste, warum ich hier sitze. Vermutlich haben sie anfangs gedacht, ich sei sitzengeblieben. So wie Nono.

Denjenigen, mit denen ich mich angefreundet habe, habe ich selbstverständlich was erzählt. Nicht viel. Keine Details. Aber dass ich nicht blöd bin, sondern krank war. Was natürlich eine stark vereinfachte Form der Dinge ist, denn Nono ist auch nicht blöd. Er zieht es nur vor, sich die Birne wegzukiffen, anstatt zu lernen. Egal. Luna, Shirin und Julia jedenfalls wissen so ungefähr, was ich die letzten eineinhalb Jahre gemacht habe. Und Marc.

Luna, Shirin und Julia sind jetzt meine Clique. Marc ist mein Freund.

Wirklich wissen tun sie natürlich nichts.

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