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DASS ICH eine Spätzünderin bin, ist Marc egal. Erstens bin ich damit bestimmt nicht die Einzige in meinem Alter. Zweitens habe ich eine Entschuldigung dafür und zwar eine gute. Eine, die niemand jemals anzweifelt. Trauen sie sich gar nicht. Du brauchst nur Krebs zu sagen und schon verfallen alle in Schreckstarre. Eigentlich sollte ich das mal probieren. Vielleicht könnte ich die ganze Welt so lahmlegen. Ich könnte hingehen, wo immer ich will, niemand könnte mich hindern, denn das verwünschte Wort würde einen Eishauch um alle legen, die sich mir in den Weg stellen.

Marc lässt sich nicht lahmlegen. Er weiß sogar ein bisschen was über Chemos und so. Seine Tante hat Brustkrebs gehabt und ist mit nur noch einer halben Brust, dafür aber mit dem ganzen Leben aus dem Krankenhaus zurückgekommen.

Ein Treffen mit Marcs Familie interessiert mich überhaupt nicht, aber ich brenne darauf, Marcs Tante kennenzulernen. Ich bin nämlich neugierig auf ihre halbe Brust. Ich habe mehrere fehlende Körperteile gesehen im letzten Jahr, aber Brüste sind nie dabei gewesen. Wir waren einfach zu jung dafür. Wenn Brüste nicht da waren, dann deshalb, weil sie noch nicht gewachsen waren.

„Die trägt einen ausgestopften BH“, sagt Marc, als ich ihn drauf anspreche. „Da merkst du gar nichts.“

„Meinst du nicht, dass man da was sehen kann? Wenn man genau hinschaut?“ Ich kneife die Augen zusammen. „Ich kann das sicher sehen.“

„Ich sag dir doch, da sieht man nichts.“

„Und ich sag dir, ich kann so was sehen. Ich hab da einen speziellen Blick. Den Krebs-Blick.“ Marc lächelt gezwungen. Er weiß nie, wie er auf so etwas reagieren soll.

Aber er lässt sich breitschlagen und verspricht, dass zu dem Treffen mit seinen Eltern auch seine Tante kommen wird.

Evelyn heißt sie. Ein schöner Name. Etwas altmodisch, aber jung ist sie ja nicht mehr. Evelyn. Ein Name, der auf der Zunge zergeht wie ein Bonbon, das man im Mund von einer Seite zur anderen schiebt.

Marc ist eher das Geräusch, das es macht, wenn man das Bonbon zerbeißt. Krach. Marc. Schöne Zähne hat er. Ganz gerade.

„Schön, dass wir dich kennenlernen.“ Marcs Mutter strahlt mich an und reicht mir die Hand. „Marc hat schon viel von dir erzählt.“

Hat er das also. Klar, jemand wie Marc versteht sich natürlich gut mit seinen Eltern. Die reden bestimmt über alles. Auch über meine Diagnose und warum ich ein Schuljahr verloren habe.

Ich bin heute also wieder mal Die-die-Krebs-gehabt-hat.

Ich setze mein schönstes Lächeln auf, weil es manchmal einfacher ist, das Spiel mitzuspielen und weil sich die Leute so freuen, wenn sie sehen, wie unversehrt und strahlend man aus dieser schweren Zeit zurückgekommen ist. „Was hat er denn erzählt?“, frage ich lächelnd.

„Nur Gutes.“ Marcs Vater ist hinter der Mutter aufgetaucht, auch er streckt mir die Hand hin und lächelt. Er ist in Anzug und Hemd, nur den obersten Knopf hat er gelockert und keine Krawatte umgebunden. Entweder er kommt grad von der Arbeit oder er läuft auch zuhause so rum.

„Komm doch rein.“ Marcs Mutter schiebt mich ins Wohnzimmer. „Schuhe ausziehen brauchst du nicht.“

Am Wohnzimmertisch sitzt Marc und zeigt einer Frau Fotos auf seinem Handy. Als er mich sieht, springt er auf, um mir einen Kuss zu geben. Ich schiele dabei an seinem Gesicht vorbei auf die Frau am Tisch. Das muss Evelyn sein. Marc hat recht. Da sieht man tatsächlich nichts.

Ich versuche, ihren Blick einzufangen, doch sie sieht mich nicht besonders lange an. Nicht länger, als man die neue Freundin des Neffen eben ansieht, wenn man Hallo, ich bin die Tante sagt.

Die Die-die-Krebs-gehabt-hat-Neugierde setzt bei ihr nicht ein. Warum sollte sie auch. Hat er also eine mit nach Hause gebracht, sagt ihr Blick. So sieht die also aus. Aha.

„Setzt euch doch.“ Marcs Vater deutet auf die freien Stühle. „Suppe kommt gleich.“

Marc hält unter dem Tisch meine Hand, bis wir zur Hauptspeise kommen und beide Hände für Messer und Gabel brauchen. Ich mag es, dass jemand wie er meine Hand hält. Meine Hand, die nicht mehr kraftlos auf der Bettdecke liegt. Die man nicht deshalb halten muss, weil man befürchtet, ich könnte jeden Moment verschwinden. Meine Hand, die jetzt den Druck erwidern und danach nach dem Besteck greifen kann.

„Gibt’s bei euch immer so gutes Essen?“, flüstere ich ihm zu.

„Nur wenn Gäste kommen.“ Er grinst. „Was glaubst du denn, warum ich dich eingeladen habe.“

„Als würdest du sonst verhungern.“ Marcs Mutter lacht auf und beginnt, Risotto auf unsere Teller zu verteilen. „Fangt schon mal an.“

Es gibt sogar frischgepressten Orangensaft. Vitamin C. Marcs Eltern gehören anscheinend zu denen, die glauben, damit könne man die Gesundheit beeinflussen. Antioxidantien und so Scheiß. Aber der Saft schmeckt gut und ich gieße mir nach, nachdem ich mein erstes Glas in einem Zug geleert habe.

Ich überlege, wie ich Evelyns Aufmerksamkeit auf mich ziehen kann.

„Was arbeiten Sie eigentlich?“, frage ich sie also.

Evelyn lacht. „Können wir bitte du sagen?“ Sie schenkt sich ein Glas Wein ein. „Oder möchtest du lieber gesiezt werden?“

„Äh, nein, natürlich nicht, kein Problem“, stottere ich.

„Sie ist Museumskuratorin“, rettet mich Marc. Hoffentlich finden es seine Eltern nicht komisch, dass ich sie nicht nach ihren Berufen frage. Aber die weiß ich schon.

„Was genau macht eine Kuratorin?“

„Ich plane und entwerfe Ausstellungen“, erklärt Evelyn.

„Spannend.“

„Im Technischen Museum“, ergänzt Marc.

„Da war ich letzten Monat“, sage ich begeistert. „Die uralten Staubsauger fand ich voll cool. Die schauen aus wie Raketen.“

„Die Haushaltsausstellung hab ich mitkuratiert.“ Evelyn lächelt freundlich. Dann widmet sie sich wieder dem Risotto auf ihrem Teller. Was ich mache, fragt sie nicht. Wär auch eine blöde Frage. Schülerin, was sonst. Aber irgendwas könnte sie doch über mich wissen wollen. Will sie aber nicht.

„Echt, du hast seine Eltern getroffen? Jetzt schon? Ist ja krass.“ Shirin nimmt es mir nicht übel, dass Marc mit mir zusammen ist und nicht mit ihr. Sie hat genug andere Verehrer.

„Na ja, die wollten halt wissen, ob ich gut genug für ihr Söhnchen bin.“ Luna macht neugierige Augen. „Und, bist du?“

Ich wiege den Kopf hin und her. „Sie haben zumindest nichts Gegenteiliges gesagt.“

„Und deine Eltern wollen ihn nicht kennenlernen?“ Shirin sieht mich fragend an. Ich seufze. „Doch, natürlich. Aber …“

„Du willst das nicht“, stellt Julia fest.

„Das wird total mühsam. Meine Eltern sind so begeistert darüber, dass ich jetzt wieder ein normales Leben führe, dass sie alles toll finden, was ich mache. Die wollen ja auch euch unbedingt kennenlernen.“

„Ich muss sagen, das versteh ich irgendwie.“ Luna sieht mich entschuldigend an, als würde ich es ihr übel nehmen, dass sie eine andere Meinung hat. Diesen Blick hat sie öfters.

„Dann kommen wir dich doch einfach besuchen“, beschließt Shirin. Ich rolle mit den Augen.

„Ach, komm schon.“ Julia kneift mich in die Seite. „Wir machen auch auf ganz gesittet.“ Sie setzt sich gerade auf und macht einen Kussmund. „Deine Eltern werden uns lieben. Wir sind das neue Leben ihrer Tochter. Das gute neue Leben.“ Sie lacht. „Stimmt doch, oder?“

Ich verziehe das Gesicht. „Ja, eh.“ Ich weiß, dass sie recht hat. Meine Eltern sagen zwar nichts, weil sie mich nicht drängen wollen, aber ich weiß, dass sie darauf brennen, meinen neuen Freundeskreis kennenzulernen. Julia, Luna und Shirin sind auch Freundinnen, von denen meine Eltern begeistert wären.

„Machen wir also“, beschließt Julia. „Frag mal, wann wir kommen dürfen. Um dein neues Leben zu feiern. Mit deinen Eltern.“ Sie kichert.

Shirin nickt und beißt in ihren Apfel. Kauend sieht sie mich an. Lange.

„Ich find dich voll stark“, sagt sie schließlich, als sie hinuntergeschluckt hat. Julia nickt. Luna auch, natürlich.

„Wieso bitte?“

„Also ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte. So mit Haarausfall und so.“ Julia nimmt ein Zopfgummi aus der Hosentasche und spielt damit herum.

Ja genau. Als ob mich jemand gefragt hat, ob ich das kann.

„Schau mal, der Hund dort sieht doch aus wie eurer“, versuche ich abzulenken und zeige auf das Hinterteil eines Labradors, der gerade hinter einer Ecke verschwindet. Ein kläglicher Ablenkungsversuch. „Und ja, ich frag meine Eltern.“ Zweiter Ablenkungsversuch, genauso kläglich.

„Ich hätte das nicht durchgehalten“, sagt Luna bestimmt.

„Du musst echt ein voll tapferer Mensch sein. Find ich bewundernswert.“ Shirin.

In meinen Ohren beginnt es zu rauschen, ich starre auf die Ecke, hinter der der Hund verschwunden ist. Ich sollte Julia den Haargummi aus der Hand nehmen und selber damit gegen mein Handgelenk schnalzen. Hilft angeblich gegen Übelkeit, weil da irgendwelche Akupressurpunkte am Handgelenk sind oder so. Da gibt’s spezielle Bänder, aber in Wahrheit tut’s ein ganz normaler Zopfgummi auch. Und in ganz wirklicher Wahrheit bringt das alles überhaupt nichts.

Ich weiß nicht, ob die drei noch über mich und meine Stärke reden, oder ob sie schon bei anderen Themen angelangt sind, denn ich kann nicht hören, was sie sagen. Nur das Rauschen in meinen Ohren. Dieses verdammte Tapferkeitsgelaber vereint wohl Freunde und Angehörige auf der ganzen Welt.

Es war tapfer, wie ihr mit allem umgegangen seid, sagen sie andauernd. Wie ihr der Krankheit getrotzt habt, und den Schmerzen. So als hätte es einen Plan B gegeben. Als hätten wir aussteigen können aus dem Spiel. Als wären es wir gewesen, die gesagt haben, nein, noch nicht, lass uns das mit dem Tapfersein noch ein bisschen beweisen.

Ist es tapfer, wenn du Schmerzen hast und trotzdem lächelst? Wenn du Schmerzen hast und den Mund verzerrst, aber nicht heulst? Wenn du heulst, aber nicht stirbst? Und die, die gestorben sind, waren die einfach nicht tapfer genug?

Das mit der Tapferkeit ist eine große Lüge.

Ich wünsche mir Evelyn herbei. Die würde jetzt wissen, was zu tun ist. Die würde nicht nur gemeinsam mit mir die Augen verdrehen, sondern ihre halbe Brust schwingen und etwas Schlagfertiges kontern.

Ich sehe wie Shirin, Luna und Julia ihre Münder öffnen und schließen, spüre, wie ich nicke und lächle und Mhm brumme, ohne zu hören, was sie sagen. Stelle mir vor, wie Evelyn und ich uns durch Blicke verständigen, dass es nun endgültig reicht mit all dem Tapferkeitsgelaber. Wie wir gemeinsam aufspringen, uns auf einen Besen setzen, oder auf diesen alten, spacigen Staubsauger aus der Haushaltsausstellung, und durchs geöffnete Fenster ins Freie fliegen. Wie wir all die Angehörigen mit offenen Mündern zurücklassen und draußen unsere Kreise ziehen.

Über die Stadt. Über das Land. Und über das Meer. In welche Richtung auch immer.

Julia rüttelt mich an der Schulter. „Alles klar mit dir?“

„Äh, ja.“ Keine Evelyn, dafür Luna, Shirin und Julia, die mich besorgt ansehen.

„Kann ich mal dein Haargummi haben?“, frage ich schnell, bevor sie irgendetwas sagen oder fragen können. Julia hält es mir hin, ich streife es mir über die Hand und lasse es mit den Fingern gegen mein Handgelenk schnalzen. Dann erzähle ich den dreien von Akupressurpunkten, davon, wie gut das gegen Übelkeit hilft und dass eigentlich, also eigentlich alles gar nicht so schlimm war.

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