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Franz spricht
ОглавлениеLass die Katze nicht mehr herein, hat meine Mutter gesagt. Die Katze ist nur zum Mäusetöten da, die gehört nicht in die Küche. Wirf sie raus. Sofort. Die Katze war aber krank. Sonst wäre sie nicht in die Küche geschlichen. Ganz nah zum Herd hat sie sich gedrängt, gestreckt hat sie sich und den Kopf zwischen die Pfoten gelegt und dabei gezittert. Schmerzen hat sie gehabt, ich weiß es. In einem Haushalt wie unserem hat es nie Tiere gegeben. Weil wir einfach alles, was essbar war, für uns selbst gebraucht haben, bis zur letzten Brotrinde. Für Tiere gab es da kein Interesse und kein Verständnis. Haben Sie vielleicht auch ein Tier? Einen kleinen Hund vielleicht? Hätte ich immer gern gehabt. Später. Aber es wurde nichts draus. Also die Katze habe ich dann versteckt, im Schuppen. Aus Gras und Blättern habe ich ihr einen Platz gemacht, dort hat sie fast immer geschlafen. Das wenige Futter, das ich für sie zusammengekratzt habe, hat sie fast nie angeschaut. Ich hab mir schon gedacht, das wird schlecht ausgehen.
Aber ich glaube und ich bitte Sie, glauben Sie es mir auch, ich hab gemerkt, dass sie sich gefreut hat, wenn ich gekommen bin. Ich habe sie dann gestreichelt, ganz leicht, den mageren Rücken hinauf und hinunter. Da hat sie noch geschnurrt, ganz leise, aber geschnurrt. Eines Tages war es vorbei. Ich hab es gleich gewusst, so, wie sie dagelegen ist. Bis zum Abend hab ich gewartet. Als es dann finster war, bin ich in den Garten gegangen und hab sie begraben. Gleich beim Gemüsebeet, dort war die Erde locker.
Keine gute Idee. Am nächsten Tag hat meine Mutter gemerkt, dass was nicht in Ordnung ist, und abends hat mein Vater die Katze ausgegraben. Er hat sie auf den Kompost geschmissen und dort verbrannt. Die Strafe für mich war auch nicht schlecht. Aber die hat mir nichts gemacht. Ich hab mir dann gedacht, die Katze hat noch ein paar schöne Tage gehabt. Im Schuppen. Ich war noch ein Kind damals. Zehn Jahre alt vielleicht.
»
So wütend hatte Miriam ihren Vater selten gesehen. Zornig ging er im Zimmer umher, vom Fenster zur Tür und zurück, immer wieder. Die Mutter, scheinbar teilnahmslos in ihrem Lehnstuhl, mit einer Zeitung, in der sie nicht las. Ob sie zuhörte, ob sie nur auf die Schritte des Vaters hörte, wusste Miriam nicht. Sie selbst stand einfach nur da, mit dem Rücken an die Tischkante gelehnt, stumm geworden. Was wichtig war, hatte sie gesagt. Heinz würde sein Studium aufgeben.
Und wie stellst du dir euer Leben vor, fragte der Vater dann, wie werdet ihr leben, und wovon.
Vorläufig wie bisher. Wir haben alles berechnet, sagte Miriam, ich habe einen Job, auch ohne Studium, damit kommen wir aus. Bis Heinz was gefunden hat, irgendwas, bis er sich selbstständig machen kann.
Der Vater blieb stehen, drehte sich zu Miriam um. Selbstständig, sagte er, das soll wohl ein Witz sein. Ich werde es nicht erlauben, dass ihr heiratet. Unter diesen Umständen.
Ob du es erlaubst oder nicht, ist mir gleichgültig, sagte Miriam. Das ist nicht dein Ernst, sagte der Vater. Wenn du deine Situation nicht erkennst, dann überleg ich mir, ob ich dir den Geldbetrag geben soll, den ich anlässlich deiner Heirat vorgesehen hatte. Behalt ihn dir, sagte Miriam, ich habe nie damit gerechnet. Dieser Leichtsinn, sage der Vater, unglaublich. Heinz hatte schon eine Reihe von Prüfungen absolviert.
Was er weiß, nimmt ihm niemand weg, antwortete Miriam und drehte sich zu ihrer Mutter um. Was hast du, Mama? Du sagst ja nichts.
Was soll ich sagen? Was ich auch sage, es ändert nichts.
Miriam fuhr nach Hause. Sie hatte kein Auto, die Fahrt mit der Straßenbahn dauerte lang. Sie hatte auch keine Wohnung, nur ein Zimmer, das allerdings war groß. Es war Küche, Schlaf- und Wohnraum, dort wohnte auch Heinz. Seit langem schon. Die Heirat würde an ihrem Leben nichts ändern. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Heinz kaum Geld verdient, manchmal hatte er einen Ferienjob, manchmal half er irgendwo aus. Miriam hatte es nicht leicht mit ihm. Seine Stimmungen wechselten rasch. Oft war er fröhlich, fast übermütig, dann kam wieder eine Periode der Niedergeschlagenheit, der Traurigkeit.
Nicht immer wurde Miriam damit fertig. Dann trat eine Zeit des Schweigens zwischen ihnen ein, die oft so unvermutet endete, wie sie begonnen hatte. Aber nie hatte sie daran gedacht, sich von ihm zu trennen. Wenn er wegging, hatte sie oft Angst, er könnte nicht wieder kommen. Dass sie heiraten sollten, war seine Idee gewesen, plötzlich hatte er sie gehabt, war wie besessen davon. Wenn er es unbedingt will, dann soll es so sein, hatte Miriam gedacht. Dass er dann ruhiger, ausgeglichener werden könnte war ihre Hoffnung.
Die Hochzeit fand nur im Standesamt statt. Heinz hatte keine Eltern mehr. Von Miriams Familie kamen nur die nächsten Verwandten. Es war ein kleiner Kreis, der sich nach der Trauung in einem Restaurant zusammenfand. Miriam hoffte, die Stimmung würde gut sein, sie war es, denn Heinz war bester Laune. Ihr Vater bemühte sich, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ihre Mutter sah sehr hübsch aus, fast schön, sie war still wie immer.
Wo ist Onkel Paul, hatte Miriam noch vor dem Standesamt gefragt. Er ist verhindert, hatte der Vater gesagt, unerwartet verhindert. Das glaube ich nicht, hatte Miriam geantwortet.
Eva hatte die Angewohnheit, sich manchmal, wenn es noch warm war, auf die Stufen zu setzen, die vom Garten hinauf zu ihrem Haus führten. In diesem späten Herbst hatte sie es nicht mehr getan. Das Wetter war meistens kühl, manchmal feucht, oft ging der Wind. Eva achtete streng auf ihre Gesundheit, vor allem, weil sie allein lebte. Die Angst vor einer plötzlichen Krankheit, vor einem Sturz, einer Verletzung saß tief in ihr. Niemand würde da sein um ihr zu helfen, um rasch einen Arzt zu rufen. Telefon, Handy, E-Mail, vielleicht könnte sie keines dieser Hilfsmittel erreichen. Manchmal träumte sie nachts von einer solchen Situation, sie lag dann lang wach und versuchte diese Angst zu vertreiben. Sie sagte sich vor, sie sei eine starke Frau, starke Frauen würden mit fast jeder Situation fertig werden. Dass in dieser Überzeugung eine Lüge steckte, war ihr bewusst. Den Gedanken an einen Einbruch schob sie stets zur Seite. Das durfte einfach nicht passieren.
Der Tag war ungewöhnlich warm. Eva holte eine Decke und breitete sie auf die Stufen. Sie trug eine dicke Wolljacke, sie wandte sich der Sonne zu und schloss die Augen.
Noch roch der Herbst nicht nach Moder. Noch gab es diese eigenartige Stille, da man glaubt, den Fall jedes einzelnen Blattes zu hören. Die Tür zum Haus war offen. Ein später Vormittag.
In ihrer schläfrigen Hingabe an die Sonne fiel ihr das leise Quietschen des Gartentores nicht auf. Aber die Schritte hörte sie, leise, vorsichtig. Paul, sagte sie, noch immer ein wenig benommen. So war Paul stets gekommen, mit leisem Anschleichen, um sie zu überraschen, was ihm nie gelang, was er aber nicht aufgeben wollte. Plötzlich wurde ihr klar, Paul konnte es nicht sein. Mit einem Ruck stand sie auf, die Decke hinter ihr fiel zu Boden. Der hereinkam war ein älterer, als er näher kam ein alter Mann. Mit halb erhobenen Armen deutete er ihr, sie möge sich nicht fürchten. Sein Lächeln war schüchtern, wie eingefroren. Eva riss sich zusammen. Wer sind Sie, was wollen Sie, fragte sie. Du kennst mich nicht mehr, sagte er, fast habe ich es befürchtet. Nein, ihn hatte sie nicht erkannt. Aber seine Stimme war ihr vertraut. Noch immer. Was willst du, fragte sie voller Abwehr. Reden, nur mit dir reden, antwortete er. Darf ich dein Haus betreten?
Sie wusste, sie musste es ihm erlauben. Zu eng war ihre Beziehung gewesen, zuviel war geschehen, damals. Die Erinnerung daran hatte sie weggesteckt in den letzten Winkel ihres Denkens. Nie während ihrer beiden Ehen, nie auch während der Freundschaft mit Heinz K. hatte sie an diesen Mann gedacht. Nun war er da. Nach unendlich vielen Jahren. Komm, sagte sie und deutete auf die Tür. Er folgte ihr, langsam, den Kopf gesenkt.
Du hast Georges vergessen, sagte er, als sie im Haus waren. Ganz vergessen, nicht wahr?
Ja, antwortete Eva, ich habe dich vergessen.
Er sah sich um. Schön hast du es hier, sagte er. Eva gab keine Antwort.
Georges ging zum Flügel, schlug ein paar Tasten an. Du spielst, fragte er.
Nicht mehr, antwortete Eva. Setz dich, fuhr sie fort, und sag was du willst.
Georges suchte den bequemsten Stuhl und ließ sich seufzend hineinfallen. Einfach dich sehen, nach so langer Zeit, sagte er. Du lügst, erwiderte Eva. Woher hast du meine Adresse.
Zufällig erfahren, sagte Georges. Ja, solche Zufälle gibt es eben im Leben.
Gut, du willst es nicht sagen. Ist egal. Aber ich möchte jetzt rasch, ganz rasch wissen, was du von mir willst.
Georges rückte den schlechten Knoten seiner Krawatte zurecht, beugte sich leicht vor.
Eva, sagte er, du stehst in meiner Schuld.
Nein, sagte Eva. Keine Schuld mehr. Viel zu viel Zeit ist vergangen.
Du kannst mich erpressen, kannst Gründe suchen um mich zu bedrohen. Es wird dir nichts nützen.
Du hast dich nicht verändert, sagte Georges. Er stand auf, ging im Raum umher, sah alles an. Prüfend hing sein Blick an Kunstgegenständen, an Teppichen und Porzellan, verlor sich in den Kristallbehängen des Lusters. Ein tüchtiger Mann, sagte er und meinte Paul, der Letzte, dieser Heinz K. soll ja auch vermögend gewesen sein. Nur Einer, der brachte gar nichts mit und ging mit nichts wieder fort. Ich habe ihn übrigens getroffen. Zufällig. Er hat mir viel erzählt. Geht ihm übrigens nicht besonders gut. Könnte da nicht irgendwas schief gegangen sein?
Lüg nicht, sagte Eva. Du kennst ihn ja gar nicht.
Also gut, sagte Georges, ich will dir nichts vormachen. Ich kenne ihn nicht. Nicht persönlich. Aber seine Geschichte kenne ich.
Verschwinde Georges, verschwinde, sagte Eva, was willst du schon wissen. Da, da hast du, fuhr sie fort und gab ihm ein paar Geldscheine. Kauf dir dafür einen neuen Mantel. Früher warst du ziemlich elegant, jetzt schaust du aus wie ein Strotter. Du gehst jetzt, ich verlange es.
Georges sah sich noch einmal um, dann ging er langsam zur Tür. Die Geldscheine hielt er in einer Hand, mit der anderen winkte er zu Eva hin, gleichgültig, lässig.
Franz, dachte Eva, immer wieder Franz. Komm ich denn nie mehr von ihm los?
Nicht immer war der Sonntag für Dagmar frei. Manchmal kam auch an diesem Tag eine Mutter, das Kind an der Hand und bat, es bei ihr lassen zu dürfen. Ein Geschwister sei erkrankt, ihrer eigenen Mutter gehe es schlecht, sie selbst sei erschöpft. Mit dem Vater des Kindes müsse sie eine wichtige Sache erledigen, ihr Freund käme, den das Kind störe, der Maler sei da gewesen, sie müsse die Wohnung putzen. Die Erklärungen glichen einander oft, aber Dagmar fragte nicht, sie nahm das Kind in Empfang, meistens bis zum Nachmittag oder Abend. Diesmal war es Rudi, ein Bub von sechs Jahren, der schon seit einiger Zeit zu ihr kam, sie wusste, dass er sie gern hatte. Der Abschied von seiner Mutter fiel ihm nicht schwer. Was machen wir, fragte er Dagmar sofort, als er ihre Wohnung betrat. Lass mich nachdenken, sagte Dagmar, ich wusste ja nicht, das du kommst. Jetzt weißt du es, antwortete er, was machen wir? Denk du nach, sagte Dagmar, vielleicht fällt dir was ein, ich mach dir erst einmal ein Brot.
Rudi ging in das Zimmer, das den Tageskindern gehörte. Er probierte einiges Spielzug, aus, ließ es fallen und liegen, er nahm ein Spiel aus dem Kasten, machte den Deckel auf und nicht wieder zu, er stellte sich ans Fenster und entdeckte auf der Straße ein Auto, das ihn kurz interessierte. Weißt du schon was, rief er zu Dagmar in die Küche. Nein, du isst zuerst.
Rudi betrachtete kritisch den Belag des Brotes, aß es viel zu rasch, sagte zu Dagmar, was ist jetzt? Wir werden einen Ausflug machen, sagte sie, hast du feste Schuhe an?
Sie nahmen die Straßenbahn und dann den Bus, der sie hinausführte aus der Stadt. Es begann zu regnen, hörte aber bald wieder auf. Der Himmel blieb bewölkt, es ging ein starker Wind. Erst jetzt sah Dagmar Rudi genau an, für einen Ausflug war er nicht richtig angezogen, ein T-Shirt, ein dünner Pulli, vielleicht war es nicht genug. Sie wollte nicht mehr aussteigen. Wenn es wieder regnet, dachte sie, retten wir uns in ein Gasthaus, es wird schon gehen. Rudi sah zum Fenster hinaus, die Scheibe war beschlagen, er zeichnete mit den Fingern darauf ein Gesicht. Ist dir nicht kalt, fragte Dagmar. Rudi schüttelte heftig den Kopf.
Dort wo sie ausstiegen, war Dagmar schon einmal gewesen, aber damals war das Wetter schön. Der Weg den sie einschlugen, um zu einer Wiese zu kommen, war schmutzig, Rudi übersprang an Dagmars Hand breite Pfützen, das gefiel ihm. Als es wieder zu regnen begann, als sein Pulli feucht wurde, steckte er seinen Kopf unter Dagmars Arm. Ich will zurück, sagte er. Du hast recht, antwortete Dagmar. Komm, rasch, wir laufen. Das gefiel ihm wieder. Gleich bei der Bushaltestelle gab es ein Gasthaus, außer Atem kamen sie dort an. Sie handelten aus, was Rudi bestellen durfte. Er bekam, was er wollte. Dagmar sah ihm zu und vergaß fast ihr Essen. Als Rudi endlich fertig, lehnte er sich müde zurück.
Weißt du was, fragte er.
Sag es.
Weißt du was, keiner heißt mehr Rudi.
Und das macht dir was aus?
Schon. Ich will auch nicht mehr Rudi heißen.
Warum?
Weil keiner mehr so heißt.
Wie heißt denn dein Papa?
Rudi.
Und dein Opa?
Rudi.
Das ist doch schön.
Nein, nicht schön.
Warum?
Weil die schon alt sind. Keiner heißt mehr Rudi.
Das glaub ich nicht. Lass mich nachdenken, bitte. Ja, ich kenn auch jemanden, der so heißt.
Wie alt ist der?
So alt wie du. Genauso.
Und sein Papa und sein Opa?
Keine Ahnung, sagte Dagmar. Wahrscheinlich hat seinen Eltern dieser Name gefallen. Glaub ich nicht, sagte Rudi.
Nach dieser Diskussion blieb Rudi still und hatte keine Fragen mehr. Sie fuhren bald nach Hause, noch im Autobus schlief Rudi ein. In ihrer Wohnung legte ihn Dagmar auf die Couch, setzte sich neben ihn und begann zu lesen. Das Buch in ihrer Hand war schwer, Dagmar hatte wenig Hoffnung, damit fertig zu werden. Mehrmals schon hatte sie damit begonnen, weiter gelesen, nach einiger Zeit den Anfang wieder vergessen. Sie wollte nicht aufgeben. Sie wollte auch das Leben, das sie jetzt hatte, nicht aufgeben. Aber sie war damit nicht mehr so zufrieden wie früher. Wenn die Kinder sie gegen Abend verließen, wenn die Mütter mit ihrem Kind an der Hand weggingen und sie noch vom Stiegenhaus her ihre lebhaften Fragen und die raschen, eifrigen Antworten der Kinder hörte, kam ihr zu Bewusstsein, dass sie nun allein war und allein bleiben würde. Die Kinder sind toll und sie mögen mich, dachte Dagmar, aber sie gehören mir nicht.
Als Rudi abgeholt wurde, war er ausgeschlafen und munter. Von der Tür her winkte er Dagmar noch einmal lebhaft zu. Mama, sagte er, du musst auch mit mir so einen Ausflug machen. Wenn die Sonne scheint, du musst.
Nachts regnete es wieder. Nach Träumen, an die sie sich nicht erinnerte, wachte Dagmar immer wieder auf. Dann fiel ihr Heinz K. ein, den sie vergessen wollte und nicht vergessen konnte. Was soll das noch, was soll das noch, dachte sie, es gibt ihn nicht mehr. Auch mich gibt es nicht mehr, zumindest nicht so, wie ich war. Und wie ich heute bin, weiß ich nicht genau.
Morgen, an einem Tag voller Kinder, wird wieder alles anders sein, tröstete sie sich.
Ich werde Gemüse kochen, Gemüse ist wichtig.
Ich kann dich diese Woche nicht besuchen, Papa, sagte Miriam am Telefon. Klara ist krank.
Was fehlt ihr, hat sie sich verkühlt?
Ich weiß es nicht. Sie hat Fieber. Ich habe den Arzt angerufen.
Wann kommt er, hoffentlich bald.
Am Abend, vorher kann er nicht.
Wie hoch ist das Fieber?
Nicht so schlimm, siebenunddreissig vier.
Das steigt noch bis zum Abend.
Was soll ich machen, ich muß warten.
Ruf einen anderen Arzt an.
Sicher nicht, unser Arzt kennt Klara seit ihrer Geburt.
Du bleibst doch morgen zu Hause.
Unmöglich. Ich habe schon jemanden organisiert, der nach Klara sieht.
Wen?
Ist doch egal, du kennst sie nicht.
Bestell sie ab, ich werde kommen.
Das ist lieb von dir, aber ich kann nichts mehr ändern. Du willst nichts mehr ändern.
Hör auf, immer dieses Misstrauen, es ist eben so.
Also nicht. Ruf mich an, wenn der Arzt da war.
Ich ruf dich an.
Sicher?
Ja, ich ruf dich an.
Als Miriam nach Hause kam, fieberte Klara hoch. Die junge Frau, die sich manchmal, wenn Miriam es sich nicht anders einteilen konnte, um Klara kümmerte, war sichtlich froh, sich verabschieden zu können. Ich hoffe, der Arzt kommt bald, sagte sie. Klara schlief unruhig, ihre Stirn war heiß, immer wieder stieß sie die Decke weg. Mama, sagte sie, dann war sie still, dann wieder Mama. Miriam saß am Rand des Bettes und hielt Klaras Hand. Sie hatte alle Türen offen gelassen, um das Läuten des Arztes zu hören.
Er kam sehr spät. Nachdem er Klara untersucht hatte, verschrieb er fiebersenkende Zäpfchen mit der Auflage, jede Stunde die Temperatur zu messen. Er würde am nächsten Tag wiederkommen. Wenn das Fieber nicht sinke, müsse man Klara ins Krankenhaus bringen.
Miriam saß fast die ganze Nacht an Klaras Bett. Sehr spät fiel ihr ein, sie müsse ihren Vater anrufen. Sie bagatellisierte vor ihm Klaras Zustand, konnte ihn aber nicht überzeugen. Ruf mich nochmals an, verlangte er. Sie tat es nicht. Erst als sie immer wieder einnickte, ging sie zu Bett. Sie stellte den Wecker und sah von neuem zu Klara, deren Schlaf voll Unruhe war. Das Wort Krankenhaus hämmerte in ihrem Kopf. Kurz bevor sie erwachte, träumte sie von dem Mann, den sie in einem Krankenhaus getroffen hatte, der Klaras Vater war, den sie aus ihrem Leben gestrichen hatte.
Die ersten Monate nach der Trennung von Heinz waren die schlimmsten. Wenn sie vom Büro nach Hause kam in die leere Wohnung. Wenn sie überall noch Dinge von ihm fand, die er vergessen hatte oder einfach nicht hatte mitnehmen wollen. Wenn sie die Bücher ansah, die er ihr überlassen hatte, weil in seiner neuen kleinen Wohnung kein Platz für sie war. Und abends. Das leere Bett neben ihrem, flach, ohne Kissen und Decke, unbenützt wie für die Ewigkeit. Sie legte sich nieder und löschte gleich das Licht, sie sah in die Dunkelheit, gequält von der Frage nach ihrer Schuld. Sie glaubte sie zu finden und verwarf diese Gedanken wieder. In ihren Vorstellungen hielt sie Heinz Lieblosigkeit und Egozentrik vor und fand gleich darauf eine Entschuldigung, die ihr Gefühl ihr eingab. Warum hatten wir kein Kind, dachte sie.
An den Wochenenden wartete sie darauf, dass es regnen würde. Wenn es wirklich geschah, ging sie auf die Straße, ohne Schirm, ohne Mütze, ließ das Wasser über ihr Gesicht laufen und sammelte die Tropfen auf ihrer Zunge. Sie glaubte, sie könnte so ihre Liebe zu Heinz wegschwemmen, die immer noch da war, es wäre wie eine Reinigung von erlebtem Schmerz und sinnloser Reue. Sie ging durch die Stadt ohne Plan, ohne wirklich zu wissen, wo sie war. Wenn sie heimkam, setzte sie sich in die Küche, aß irgendwas, blieb auf dem harten Hocker sitzen, wie um sich zu bestrafen. Wenn ihr Vater sie besuchte und in ungeschickter Art zu trösten versuchte, sagte sie, es gehe ihr gut. Er war eben nichts für dich, sagte ihr Vater. Dann wurde sie wütend auf ihn und konnte kaum ihren Zorn unterdrücken.
Ich muß mich ablenken, dachte sie, diesen Entschluss muß ich fassen, Aber sie wusste nicht, wie.
Bleib nicht beim Ersten, hatte ihre Mutter gesagt. Der Erste ist immer der Falsche.
Wenn sie sich an die Ehe ihrer Eltern erinnerte, hatte ihre Mutter Recht gehabt.
Bald darauf kam ihre Mutter ins Krankenhaus, und Miriam durchlebte eine schwierige Zeit. Die Krankheit ihrer Mutter war schwer, sie wollte nicht kämpfen, man befürchtete das Schlimmste. Aber im Krankenhaus traf sie diesen Anderen, der ihre Verzweiflung bemerkte. Er sprach sie an, erklärte seine Schwester sei hier, sie sei operiert worden, es habe Komplikationen gegeben. Miriam brauchte Trost wie er. Auf dem kahlen Gang saßen sie auf harten Stühlen nebeneinander. Er erzählte von seiner Familie, die in Ordnung war und von seiner großen Zuneigung zu seiner Schwester. Er erzählte von seinem Beruf als Jurist in einer bekannten Kanzlei. Er sagte, er sei nicht verheiratet, finanziell gehe es ihm gut. Er bedauerte Miriam wegen der Krankheit der Mutter, deren Zimmer er einmal flüchtig betrat. Er war sympathisch, ruhig und teilnahmsvoll. Die Genesung der Mutter, die man eigentlich nicht mehr erwartet hatte, schritt fort, und Miriam bedauerte, bald nicht mehr ins Krankenhaus gehen zu können. Er bedauerte es auch.
Er gab ihr seine Karte, er hatte einen interessanten Namen. Die Affäre zwischen ihnen war leidenschaftlich, kurz und enttäuschend. Aber Klara war entstanden. Als Miriam es sicher wusste, war alles schon vorbei. Sie sah keine Veranlassung, ihn davon zu unterrichten. Klara sollte allein ihr gehören. Sie wollte ihn vergessen, was ihr auch weitgehend gelang. Nur manchmal kamen diese Träume, die sie nicht wollte.
Am nächsten Tag ging es Klara schon besser, nach einer Woche war sie gesund. Miriam ging wieder ins Büro, holte abends Klara vom Kindergarten ab. Die vielen Vorwürfe ihres Vaters, dessen Besuch sie nicht gewünscht hatte, berührten sie nicht. Klara sei ansteckend, hatte sie gesagt, sie könne es nicht verantworten, wenn er käme. Seine Anrufe blieben einige Zeit lang aus.