Читать книгу Franz spricht - Elisabeth Hauer - Страница 5
ОглавлениеIch kannte das Haus. Ich kannte seine Bewohner. Aber ich wusste nicht, was dort geschehen war.
Ich wohnte am Land, schon seit meiner Geburt. In einem kleinen, stillen Ort, der keine Bedeutung hatte. Mein Vater war Lehrer, er musste jeden Morgen in die nahe gelegene Kreisstadt fahren, um am dortigen Gymnasium zu unterrichten. Meine Mutter war zu Hause. Das war damals so üblich. Heute ist alles ganz anders, aber ich bin ja schon ziemlich alt. Meine Mutter also war den ganzen Tag über bei uns. Bei meinem Bruder und mir. Mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, hieß Paul. Ich heiße Peter, man hat uns wahrscheinlich wegen der beiden Kalenderheiligen, deren Feiertag der 29. Juni ist, so genannt. Meine Eltern waren fromm, der sonntägliche Kirchgang war auch für uns Kinder Pflicht.
Es fällt mir schwer, meinen Bruder Paul, der bereits tot ist, zu beschreiben. Wir haben uns nie gut verstanden. Eine Fremdheit war zwischen uns, die wir zu keiner Zeit, auch nicht, als wir bereits erwachsen waren, überwinden konnten. Wahrscheinlich lag es daran, dass Paul weder meinem Vater noch meiner Mutter glich. Auch keinem anderen Familienmitglied. Ich bin überzeugt, dass er sich von mir in allen Eigenschaften unterschied. Das zeigte sich schon in unserem Äußeren. Er hatte dunkles, fast schwarzes Haar, ich ziemlich helles, das hell blieb, auch als ich erwachsen wurde. Paul war kräftig, er wuchs sehr rasch. Ich war von Geburt an schwächlich, ein Sorgenkind. Er gedeiht nicht richtig, sagte mein Vater oft. Erst mit siebzehn machte ich einen ziemlichen Wachstumsschub und erreichte eine mittlere Größe. Meine Kräfte waren gering. Deshalb arbeitete ich später oft in unserem kleinen Garten, was Paul stets ablehnte. Schon als Kind zog er sich gern in die Mansarde zurück, die wir gemeinsam bewohnten.
Dort spielte er, später las er und wollte durch mich nicht gestört werden.
Ich muß es zugeben. Als Kind war ich oft krank und quengelig. Ich war überzeugt, dass man mir mehr Anteilname zukommen lassen müsse als ihm. Dieser Ansicht war auch meine Mutter. Als er noch klein war, rächte sich Paul mit wildem Geschrei. Später zog er sich in die Mansarde zurück. Lang hing ich an der Kittelfalte meiner Mutter. Du verwöhnst ihn, das hat keinen Sinn, meinte mein Vater, wie soll er sich da besser entwickeln.
Heute kann ich meinen Vater verstehen.
Seltsam war, dass meine Mutter meinen Bruder Paul nie so richtig mochte. Gut, er war manchmal wild und ungehorsam. Aber ihr Tadel war heftiger, als es die Situation verlangte. Das erkannte ich bald. Mir gefiel meine Bevorzugung. Später, als Paul sich immer mehr zurückzog, erkannte ich, dass meine Mutter oft Unrecht hatte. Ich sagte es ihr, und sie begann zu weinen. Ich wollte dann nicht mehr darüber reden.
Unser Haus, nicht groß, aber ordentlich, stand am Ende einer schmalen, nur von Sand bedeckten Straße. Da war nicht viel los, Autos waren noch selten. Manchmal rasselte ein Leiterwagen vorbei oder ein anderes bäuerliches Fahrzeug. Ich spielte fast nie auf dieser Straße, Paul oft. Er hatte viele Freunde aus der Umgebung, meistens aus Arbeiterfamilien. Im nächsten Ort, einige Kilometer von unserem entfernt, gab es eine Fabrik, die Metallwaren verschiedener Art erzeugte. Dort gab es auch eine vom Fabrikbesitzer für die Arbeiter errichtete Siedlung, sie bestand aus kleinen Häusern, von denen eines am anderen klebte. Winzige Gärten erlaubten den Anbau von Gemüse. Die Familien, die dort wohnten, hatten oft Streit, ihre Kinder waren laut und unkompliziert.
Pauls bester Freund kam von dort. Er hieß Franz, und ich konnte ihn vom ersten Augenblick an nicht leiden, obwohl er anfänglich auch meine Freundschaft suchte. Aber bald erkannte er, dass da nichts zu machen war. Er ging mir aus dem Weg. Manchmal sah ich ihn mit Paul auf der sandigen Straße Fußball spielen. Ich ging dann rasch vorbei.
Dieses Schreiben macht mich müde. Aber ich habe mir fest vorgenommen aufzuzeichnen, was Miriam, meine Tochter, noch nicht erfahren hat. Ich glaube, es könnte sie interessieren. Oder sogar überraschen. Was weiß ich denn vom Interesse der nächsten und übernächsten Generation. Ich darf mir nichts vormachen. Müde bin ich auch, weil ich allein lebe. Seit vielen Jahren. Man gewöhnt sich zwar daran. Aber es gibt soviel zu tun, Kleinigkeiten, die ich einfach nicht mehr machen will. Ich muß aber gestehen, dass mir dieses Aufschreiben ferner Ereignisse eine gewisse Freude bereitet. Nicht nur, weil ich die Worte, mit denen ich sie berichte, selbst auswählen darf. Auch weil ich glaube, dass das, was ich zu berichten habe, wichtig ist. Damit kommt auch mir eine gewisse Bedeutung zu. Bin ich noch immer klug, habe ich noch immer was zu sagen. Eine zynische Frage, würden andere vielleicht denken. Ich werde es nicht erfahren. Jetzt sollte ich mir Tee machen. Tee. Das Säckchen von gestern kann ich noch einmal aufgießen.
Leider hat der Tee meinen Geist nicht richtig aufgeweckt. Aber ich habe ja Zeit. Viel Zeit. Ich werde eben morgen weiter schreiben. Wie spät. Achtzehn Uhr. Da hat mich meine Frau immer gefragt, ob sie das Abendessen richten soll. Ich habe stets Ja gesagt. Trotzdem hat sie diese Frage nie aufgegeben. Gewohnheit. Gewohnheit auch, wenn ich jetzt zum Fenster gehe, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Kein Garten mehr da wie früher. Wäre auch zu anstrengend gewesen für uns beide im fortgeschrittenen Alter. Da ist diese kleine Wohnung schon besser. Überhaupt jetzt. Für mich allein. Ich darf nicht vergessen, mir heute noch zu notieren, was morgen getan werden muss. Vor allem, wie ich fortfahren soll mit der Aufzeichnung dieser so seltsamen Ereignisse. Ich müsste, ja, ich müsste mit der Beschreibung meines Bruders fortfahren, ich glaube, das wäre gut. Wie lang ist er schon tot. Ich weiß es nicht mehr genau. Ist nicht so wichtig.
Miriam hasste die Fahrt mit der U-Bahn, jeden Tag und jeden Tag. Nur am Wochenende nicht. Das Aufstehen um sieben Uhr früh, alles mitnehmen in der großen, schweren Handtasche, die sie nicht mehr täglich ausräumte, weil es ihr zu mühsam war. Die vielen Menschen im Waggon, die stickige Luft. Meistens hatte sie keinen Sitzplatz und musste sich an einen Haltegriff klammern, der schon von vielen verschwitzten Händen berührt worden war. Der Geruch. Der Geruch war das Ärgste. Sie versuchte dann, so lang es ging, die Luft anzuhalten, aber es half nicht wirklich. Auf der Straße dann war es nicht viel besser. Immerhin konnte sie sich rasch bewegen, das Gehen tat ihr gut. Stets war sie ein wenig zu früh im Büro. Sie setzte sich einige Minuten lang ruhig hin und versuchte den kommenden Tag anzunehmen.
An diesem Tag Besuch beim Vater, dachte sie. Nein, nicht heute. Sie würde es noch einmal verschieben.
Sie hatte ein Kind, ein kleines Mädchen, Klara, fünf Jahre alt. Es besuchte den Kindergarten, ganztägig. Abends holte sie es ab. Eine große Freude jedes Mal für beide.