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Die Familie Schneider Kindheit und Jugend der Olga Waissnix

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»Als Kinder werden schon alle natürlichen Regungen in uns erstickt, Convenienz, Etiquette, guter Ruf, das sind die Popanze, mit denen man uns immer schreckt.«

Vom niederösterreichischen Unterretzbach bei Retz, wo die Hauerfamilie Schneider einen Weinhandel betrieb, begab sich Anton Schneider des Öfteren nach Wien, um Gasthöfe und Wirtshäuser mit seinen Weinen zu beliefern. Begleitet wurde er dabei von seinem 1835 geborenen Sohn Ludwig, der in die Fußstapfen des Vaters treten und den Beruf des Weinhändlers erlernen sollte. Ludwig fühlte sich vom Leben und Treiben der pulsierenden Großstadt Wien mächtig angezogen und tat seinem Vater bald kund, dass er in Wien bleiben und dort sein Glück versuchen wolle. Einer der Kunden der Schneiders war der Wirt des Gasthauses »Zum Haidvogel« hinter der Peterskirche beim Graben, bei dem Ludwig wohnte, sich vom Piccolo zum Zahlkellner hocharbeitete, eisern sparte und sehr geschickt jede Gelegenheit nutzte, um Kontakte zu knüpfen. Er war das, was man heute einen grandiosen Netzwerker nennt. Sein Ziel war es, in einer vornehmen Gaststätte oder einem Hotel zu arbeiten. Als die Stelle eines Zahlkellners in den Restaurants des Gloggnitzer-Raaber Bahnhofs, des späteren Südbahn- und heute neuen Hauptbahnhofs, frei wurde, nahm er diese sofort an und schaffte es 1862, Pächter dieser Restaurantbetriebe zu werden.

Was dem geschäftstüchtigen Ludwig Schneider noch fehlte, war eine Frau an seiner Seite, die ihm die Küche führen konnte. Ein Jahr vorher hatte er die in einem Hotel in der Renngasse als Köchin arbeitende Franziska Schamberger kennen- und lieben gelernt. Auch sie stammte aus einer Weinhauerfamilie, in Bisamberg, war drei Jahre älter als Ludwig und fand großen Gefallen an dem ehrgeizigen Zahlkellner. Als sie ihm im Frühjahr 1862 gestand, dass sie schwanger sei, wurde am 29. April 1862 in der Peterskirche geheiratet. Ludwig Schneiders Trauzeuge war der Sohn des Wirts vom Gasthof »Zum Haidvogel«, mit dem er sich angefreundet hatte. Statt Flitterwochen harrte der beiden viel Arbeit, galt es doch, in das neben dem Südbahnhof gelegene Wohnhaus Südbahnhof Nr. 5 zu übersiedeln und die Restaurants zu übernehmen. Bereits sieben Monate später, am Montag, dem 3. November 1862, wurde ihre erste Tochter, Olga Cäcilie, geboren.

Was war das für eine Zeit, in die Olga Schneider geboren wurde? Ruhig ging es damals in Wien nicht zu, denn die Stadt war eine Riesenbaustelle und sollte endlich mit den Vororten zusammenwachsen. Am 25. Dezember 1857 gab die amtliche Wiener Zeitung die Stadterweiterungspläne von Kaiser Franz Joseph bekannt, im Zuge derer die Stadtmauer fallen und an deren Stelle eine Prachtstraße mit öffentlichen Gebäuden entstehen sollte. Den Burggarten, das Burgtor und den Volksgarten samt Theseus-Tempel gab es bereits, die Votivkirche befand sich zu diesem Zeitpunkt in Bau.

1858 verordnet Kaiser Franz Joseph weiters: »Jener Teil, der durch die Auflassung der Fortifikationen gewonnenen Areale und Glacisgründe, der nicht einer anderwertigen Bestimmung vorbehalten wird, ist als Baugrund zu verwenden und der daraus gewonnene Erlös hat zur Bildung eines Baufonds zu dienen, aus welchem die dem Staatsschatz erwachsenden Auslagen, insbesondere auch die Kosten der Herstellung der öffentlichen Gebäude, bestritten werden sollen.«

Die Baugründe entlang der geplanten Ringstraße waren horrend teuer und die Käufer verpflichtet, innerhalb eines Jahres mit dem Hausbau zu beginnen und ihn spätestens nach vier Jahren abzuschließen. Das Aussehen der neuen Gebäude musste dem repräsentativen Standort entsprechen. Bei diesen Auflagen samt den hohen Kosten ging der Verkauf der privaten Baugründe nur sehr schleppend voran, und die kaiserliche Verwaltung musste sich 1859 einen Anreiz für potenzielle Käufer einfallen lassen. Man vergab Adelstitel und eine 30-jährige Steuerfreiheit an zukünftige Palaisbesitzer, wodurch sich das vermögende Bürgertum endlich verpflichtet fühlte, den kaiserlichen Bauwünschen zu entsprechen.

Vor dem Aufbau der Prachtgebäude mussten jedoch die Befestigungsmauern niedergerissen werden, was einige Jahre dauerte und den wie alle Wiener staub- und schmutzgeplagten Johann Strauß zu seiner Demolierpolka inspirierte. Erst am 29. Februar 1864 konnte mit dem Bau der neuen Ringstraße begonnen werden, die am 1. Mai 1865 vom Kaiser eröffnet wurde. Es war eine noch leere Prunkstraße, denn mit der Errichtung öffentlicher Bauten wie Parlament, Universität, Burgtheater, Postsparkasse oder der Neuen Hofburg begann man erst zehn Jahre später. 1862 wurde immerhin der Stadtpark eröffnet und 1861 der Grundstein für den Bau der Oper gelegt.

Wien war in dieser Zeit eine von Baulärm durchsetzte Stadt, besonders am unmittelbaren Wohnort der Familie Schneider, dem Gloggnitzer-Raaber Bahnhof. Man war von einer alles durchdringenden Geräusch- und Geruchskulisse umgeben. Nicht nur die ein- und ausfahrenden Züge, das Schaufeln der Kohlen und ihr Staub, das laute Zischen des Dampfes waren Bestandteil des täglichen Lebens, auch hier wurde fast immer aus- und umgebaut.


Gesamtanlage des Gloggnitzer-Raaber Bahnhofs

Als zweiter Wiener Bahnhof – der erste war 1838 der Nordbahnhof – wurde 1841 unter der Leitung des Bahnpioniers Mathias von Schönerer der Gloggnitzer-Raaber Bahnhof errichtet, der diesen Namen bis zum Bau der Semmeringbahn 1854 behielt und ab dann Südbahnhof hieß. Von der prächtigen Eingangs- und Kassenhalle erreichte man über eine Stiege die vier Gleisen Platz bietende überdeckte Bahnsteighalle. Die mächtige, lichtdurchlässige Deckenkonstruktion dieser Halle hatte eine Spannweite von 23 Metern. Ebenfalls im klassizistischen Stil wurde 1845 in einem stumpfen Winkel dazu der Raaber Bahnhof gebaut, der später zum Ostbahnhof innerhalb des Südbahnhofes umgestaltet wurde. Man muss sich die Anlage als riesiges Dreieck vorstellen, an dessen dritter Seite sich die Lokomotivfabrik, Maschinenhallen und Remisen befanden. Vorne zwischen den beiden Kopfbahnhöfen stand ein dreiflügeliges Wohn- und Verwaltungshaus, das bis 1910 in dieser Form erhalten blieb. In diesem Haus befand sich die große Wohnung von Franziska und Ludwig Schneider.

Ludwig Schneider muss hervorragende Beziehungen zu den 1862 noch privaten Besitzern der Südbahn AG gehabt haben, sonst wäre es ihm nicht gelungen, diese renommierten Restaurantbetriebe zu pachten. Heute verbindet man mit dem Begriff eines Bahnhofrestaurants wenig Gutes. Im 19. Jahrhundert zählten diese Gaststätten zu den besten und vor allem mondänsten. Das neue Fortbewegungsmittel Bahn zog die Menschen an, jeder wollte mit dem Zug von Wien aus in alle Himmelsrichtungen fahren. Der Tourismus war geboren, an den Zielorten und entlang der Bahnstrecken entstanden Hotels, die Kurorte begannen zu florieren. Die Bevölkerung, allen voran der Adel und das Großbürgertum, kam in Bewegung, die Zeit wurde schnelllebiger, man wollte etwas erleben, die Welt sehen, sich in schönem Ambiente erholen und dabei allerlei Annehmlichkeiten genießen. Dazu gehörte selbstverständlich hervorragendes, von Spitzenköchen zubereitetes Essen, um sich vor der Abfahrt zu stärken und Wartezeiten stilvoll zu überbrücken. Die Zweiklassengesellschaft des 19. Jahrhunderts bedurfte dafür unterschiedlicher Räumlichkeiten: Extrasalons für das Kaiserhaus, nobles Ambiente für Adel und Großbürgertum und ein einfaches Lokal für Normalreisende. All das konnte Ludwig Schneider in jedweder Preiskategorie bieten, zudem hatte er immer die besten Köche der Monarchie in seiner Sterneküche. So ist es nicht verwunderlich, dass aus dem gesamten Reich nur ein Lehrling pro Jahr ausgewählt wurde, in diesem exklusiven Restaurantbetrieb die Ausbildung zur Köchin oder zum Koch absolvieren zu dürfen.

In den ersten Lebenstagen von Olga Waissnix gehörte das Areal des Südbahnhofs noch zum 4. Bezirk, Wieden genannt. Daher wurde Olga am 9. November 1862 in der Paulanerkirche auf der Wiedner Hauptstraße getauft. Am 31. Jänner 1865 erblickte die zweite Tochter der Schneiders, Gabriele, das Licht der Welt und am 21. Jänner 1871 dann die jüngste, Franziska, die bereits in der nahe dem Südbahnhof gelegenen, neu errichteten Kirche St. Elisabeth in der Argentinierstraße getauft wurde. Die drei Schwestern verstanden sich zeitlebens sehr gut und hielten wie Pech und Schwefel zusammen. Gabriele war von Beginn an Olgas beste Freundin, mit der sie über alles reden konnte, auch über die Schwierigkeiten, sich den Erwartungen des strengen Vaters beugen zu müssen. Alle Hoffnungen, die ein Vater üblicherweise in einen Sohn und Nachfolger legt, ruhten auf Olga und teilweise auch Gabriele. Ludwig Schneider hatte sich mit eiserner Disziplin hinaufgearbeitet und diese Disziplin verlangte er auch seinen Töchtern ab. Er liebte seine Mädchen von Herzen, aber sie hatten seinen Wünschen und Vorstellungen zu entsprechen.

Wie später ihre Schwestern besuchte Olga die achtjährige Bürgerschule auf der Wieden und hatte 1876 nach deren Abschluss als Tochter des Besitzers das Privileg, in den Restaurantbetrieben des Südbahnhofs als Kochlehrling beginnen zu dürfen. Das war die einzige Protektion, die Olga in den drei Jahren ihrer Ausbildung genoss. Wie jeder andere musste sie in dieser riesigen Küchenbrigade, die von einem Chefkoch und vier Hauptköchen geleitet wurde, alle Bereiche durchwandern. Damals wie heute ist die Ausbildung zum Koch eine der härtesten Lehrzeiten, besonders in einem Betrieb, der vom Eintopf bis zur Gourmetküche alles anbietet und täglich Hunderte Gäste verköstigt. Olga hatte das Talent zum Kochen von ihrer Mutter geerbt und wurde eine hervorragende Köchin.

Ein Jahr vor dem Ende von Olgas Lehrzeit verstarb ihre Mutter mit nur 46 Jahren am 30. Mai 1878 nach kurzem, schwerem Leiden an einer Darmentzündung. Sie war die Erste, die in dem prächtigen Familienmausoleum am Vöslauer Friedhof begraben wurde, das Ludwig Schneider kurz zuvor errichten lassen hatte. Franziska Schneider war es nicht vergönnt, den gesellschaftlichen Aufstieg ihrer Töchter mitzuerleben. Über Gabriele, die von klein auf hoch hinaus wollte, und ihren Werdegang ist in Arthur Schnitzlers Memoiren Jugend in Wien zu lesen: »Gabriele, die zwar nicht so schön wie Olga selbst war, aber noch um einiges mondäner, dabei lebhaft, entschieden, hochmütig und fest entschlossen, nicht unter einem Grafen zu heiraten, – der denn auch nach wenigen Jahren ganz nach Wunsch in Gestalt eines preußischen, stockkonservativen, sechs Fuß hohen Junkers sich einstellte.«

Dieser Junker, ein Leutnant bei den Kürassieren und Ulanen, dessetwegen Gabriele zum Protestantismus konvertierte, war der am 22. Juni 1848 geborene Georg Erdmann Karl Ferdinand Graf von Haugwitz, dessen Vater aus Schlesien, die Mutter aus Dänemark stammte. Aus ihrer Ehe gingen vier Kinder hervor.

Das Nesthäkchen Franziska, das beim Ableben der Mutter erst sieben Jahre alt war, kann man nicht besser beschreiben als Schnitzler: »… die jüngste Schwester Fanny, ein freundliches, bürgerlich-nettes, ziemlich reizloses Geschöpf, eines von jenen, die zur alten Jungfer geboren scheinen und manchmal zwischen dreißig und vierzig heiraten – wie es endlich auch ihr geschah …« Fanni opferte sich bis zu ihrer späten Heirat mit Johannes Kneiss im Jahr 1910 für ihre beiden Schwestern und deren Kinder auf und war immer zur Stelle, wenn Pflege und Hilfe benötigt wurde.

Dem früh verwitweten Ludwig Schneider, einem respektablen Mitglied der Wiener Gesellschaft und des Wirtschaftslebens, war daran gelegen, seinen Töchtern die bestmögliche Erziehung und Bildung zukommen zu lassen. Er engagierte Kindermädchen, Tanz- und Klavierlehrer und eine Gesellschafterin, um den Mädchen den Verlust der Mutter leichter zu machen. Er nahm seine Kinder gerne auf seine ausgedehnten Geschäftsreisen mit der Bahn mit. Besonders Olga, als Älteste, lernte so Italien, Deutschland und die Schweiz schon in Jugendjahren kennen und übernahm nach dem Tod der Mutter deren Repräsentationspflichten an der Seite des Vaters.

Ein Ort, den Ludwig Schneider besonders liebte, war Vöslau. Dort hatte er einige Gründe erworben und die Bekanntschaft der mit den Schnitzlers verwandten Familie Mandl gemacht, die ihn und die Seinen regelmäßig an den Wochenenden in ihre Vöslauer Villa einlud. Hier lernten einander um das Jahr 1870 die Kinder Arthur Schnitzler und Olga Schneider kennen und hassen – ja hassen, denn sie prügelten sich, statt miteinander zu spielen. Ein Umstand, an den sich Olga später sehr gut, Arthur allerdings nicht mehr erinnern konnte.

Die Energie von Ludwig Schneider und seine Geschäftstüchtigkeit waren bemerkenswert. 1876 ließ er auf einem seiner Gründe in Vöslau eine feudale Villa errichten, die er fortan als Wohnsitz nutzte, außerdem ein ansehnliches Mausoleum am Vöslauer Friedhof. 1877 übernahm er zusätzlich zu den Südbahnhof-Restaurants die Weinstube am Michaelerplatz 2 und 1880 den Stefanskeller in der Rotenturmstraße 1. Er besaß einen Kutschenwagen, der zu den besten »Zeugeln« Wiens zählte, und wenn schon kein Bild, so gibt es dank Schnitzler eine Beschreibung von ihm: »Ihr Vater, untersetzt, martialisch und mit seinem weißen Schnurrbart nicht wie ein Gastwirt, sondern eher wie ein pensionierter General aussehend.« Wie ein General benahm sich Ludwig Schneider auch bei aller Liebe zu seinen Töchtern. Sie mussten gehorchen und die Wünsche des gestrengen Vaters erfüllen. Vor allem Olga war es, die diese Strenge zu spüren bekam. Sie hatte sich in einen von ihrem Vater vorgegebenen Lebenslauf zu fügen und musste den Mann heiraten, den er für sie aussuchte.

Die unvollendete Geliebte

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