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Die Thalhofwirtin Hotelière, Ehefrau und Mutter
Оглавление»Ich bin das reine Ragout von Jägerin, Dame, Sclavin u. s. w.«
Der Restaurant- und Immobilienbesitzer Ludwig Schneider blieb weiterhin seinem Stammberuf des Weinhändlers treu. Die in der k. k. Monarchie und allen anderen Ländern Europas neu entstandenen Bahnlinien hatten sehr zur Ausweitung seiner Geschäfte beigetragen. Er belieferte Hotels, Restaurants sowie adelige und großbürgerliche Haushalte mit erlesenen Weinen. Seine Geschäftsreisen führten ihn durch das gesamte Habsburgerreich, nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz. Seine Hauptkunden waren die entlang der Südbahn liegenden Kurhotels, die illustres Publikum mit dem Bedürfnis nach edlen Speisen und Weinen beherbergten. Eines dieser Hotels war der Thalhof in Reichenau, seit 1810 im Besitz der Familie Waissnix.
Simon Waissnix, dessen Vorfahren im 16. Jahrhundert aus Württemberg nach Reichenau eingewandert waren, arbeitete als Ortsrichter, scheint ab 1786 als Besitzer einer Mahlmühle im Ort auf und legte den Grundstein für das Vermögen der Familie. Sein 1789 geborener ältester Sohn Ignaz, Müller und Landwirt mit ausgeprägtem unternehmerischen Geist, heiratete 1810 Anna, die Tochter des Bauern und Thalhofwirtes Polleres. Mit dem Betrieb einer Mühle, einer Land- und Gastwirtschaft war der Geschäftsmann Ignaz Waissnix aber nicht genügend ausgelastet. Er richtete ein Netz von Mehlverschleißstellen ein, und zum Transport des Mehls sowie anderer Güter ein Fuhrunternehmen. Später kaufte er eine Sägemühle und stieg ins Holzgeschäft ein. 1837 entwickelte er ein Verfahren zur Erzeugung von Rollgerste, um die er seine Mühle erweiterte. Seine Frau Anna kümmerte sich um die Gaststätte, den Thalhof, der sich durch den Bau der Semmeringbahn und den aufkommenden Tourismus bald zum Herzstück der Besitzungen des Ignaz Waissnix entwickelte. Er baute das ländliche Wirtshaus zu einem feudalen Gasthof aus, zu dessen Gästen Ferdinand Raimund, der Musikwissenschafter Ludwig Köchel, der Schriftsteller Nikloaus Lenau und der Eisenbahningenieur Mathias Ritter von Schönerer genauso zählten wie der päpstliche Nuntius, der Adel und das Kaiserhaus.
Im Zuge der Aufhebung der Grundherrschaft nach der Revolution 1848 begann Ignaz Waissnix neue Besitzungen zu erwerben. Als er 1858 starb, hinterließ er, wie es der Volksmund nannte, ein »Königreich Waissnix«, das von seinen Söhnen Alois und Michael in seinem Sinne weitergeführt wurde. Die beiden teilten die Leitung der Betriebe so auf, dass einer den Thalhof und der andere sämtliche andere Unternehmenszweige drei Jahre lang führte, danach wurde gewechselt. Zusätzlich waren sie in der Ortsgemeinde tätig, beide auch einige Jahre als Bürgermeister. 1874 kauften die Brüder Waissnix das alte Schloss Reichenau samt 500 Hektar Grund, außerdem Gründe und Häuser in Neuberg, Leoben und Wien. Die Rollgerstenproduktion wurde ausgeweitet und stellte eine wichtige Grundlage für den Wohlstand der Familie dar. Des Weiteren ließen sie vier Holzschleifwerke bauen. Eines davon wurde 1926 in einen Konzertsaal und ein Kino umgebaut und beherbergt heute die Festspiele Reichenau. Ihre Betriebe durften die Gebrüder Waissnix seit 1864 als k. k. privilegiert bezeichnen.
Alle Unternehmen wurden von der Mühle aus geführt, wo die gesamte Familie wohnte. Der Reiseschriftsteller Max Herz, der ab 1848 Besucher des Semmeringgebietes war, beschreibt diese Mühle in seinem Feuilleton über Reichenau so: »Im Thale an der Schwarza liegt die stattliche, trefflich eingerichtete Mühle der Herren Gebrüder Waißnix. Das erst vor einigen Jahren umgebaute Wohngebäude derselben macht Front gegen die Straße hin und bildet mit den übrigen Mühlgebäuden eines der freundlichsten Landschaftsbilder des Thales. Mit dieser Mühle ist auch eine Rollgerstenerzeugung vereinigt, auf welche die Herren Waißnix privilegiert sind, deren Product als vorzüglich gerühmt, vielen Absatz findet. Seit 1859 hat abermaliger Neubau das ganze Etablissement vergrößert …«
Auch über den Thalhof findet sich ein Abschnitt bei Max Herz: »Jenseits der Schwarza, auf einem schönen, etwas erhöhten Seitenboden des Thales, umschlossen von den Wald- und Felspartien des Saurüssels und Feuchters, liegt der Thalhof, das Gasthaus der Herren Gebrüder Waißnix. Von ihrem Vater begründet, wird die Wirthschaft nun von diesen seinen beiden Söhnen trefflich und musterhaft verwaltet. Die wahrhaft bezaubernde Lage des stattlichen Gehöftes, die daselbst herrschende Reinlichkeit und Ordnung, die wohlbesorgte Küche, die mit allem Comfort versehenen Fremdenzimmer, alles vereint sich, dem Wanderer den Aufenthalt daselbst angenehm zu machen. Überall weht der Geist der Tüchtigkeit, der Ordnung und der Gemüthlichkeit in dem Verkehr dieses trefflichen Hauses. An demselben liegt ein freundliches Gärtchen, aus welchem, so wie aus dem an denselben stoßenden, gedeckten und durchaus mit Glasthüren und Fenstern geschlossenen Speisesaale sich ein überraschend schöner Ueberblick des Thales und auf die jenseits der Schwarza gelegene Hinterleiten öffnet. Außerdem befindet sich noch ein Gastzimmer und ein Speisesaal im Hause selbst.«
Bedingt durch die Semmeringbahn entwickelte sich Reichenau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der führenden Sommerfrischen der Monarchie, was auch mit der Vorliebe Kaiser Franz Josephs für diese Region zu tun hatte. Seit 1852 kam er mit seinem Gefolge regelmäßig zu Hofjagden, bei denen er in einem eigenen Appartement im Thalhof logierte.
Zu seinem dritten Geburtstag erhielt Kronprinz Rudolf von der Gemeinde Reichenau eine kleine Jagdhütte, oberhalb des Thalhofes gelegen, geschenkt, die er und seine Schwester Gisela oftmals von einem Eselswägelchen hinaufgeführt besuchten. Ab 1858 wohnten Kaiser Franz Joseph, Kaiserin Elisabeth und die Kinder in der von den Brüdern Waissnix für sie errichteten Rudolfsvilla.
Alois Waissnix’ 1851 geborener Sohn Karl war in den Sommermonaten von 1860 bis 1865 auserkoren, eine höchst sonderbare Tätigkeit auszuführen. Wenn der hypernervöse, unter Schlafstörungen leidende Kronprinz Rudolf in die gute Reichenauer Luft verfrachtet wurde, heuerten seine »Aja« (Kinderfrau) und sein Leibarzt den Waissnix-Spross als »Schlafknaben« an. Der musste sich dann, auf Decken in Park oder Wald, vor dem kindlichen Thronfolger stundenlang schlummernd stellen, in der Hoffnung auf allerhöchste Nachahmung, zu der es leider selten kam.
Ein Stück oberhalb der Rudolfsvilla stand ein beliebtes Badehaus, das die Gebrüder Waissnix, den Trend der Zeit erkennend, 1863 erwarben. Ab 1865, als die kaiserliche Familie die Villa nicht mehr nutzte, planten sie gemeinsam mit dem Arzt Ferdinand von Hebra, hier eine Kaltwasserheilanstalt zu errichten. Im Gebiet der Monarchie war dies die zweite solche Einrichtung nach der von Vinzenz Prießnitz in Freiwaldau (böhmisch: Jesenik) gegründeten. Man nahm Kontakt mit Hans Ripper, dem Schwiegersohn des 1851 verstorbenen Vinzenz Prießnitz auf, der die Kuranstalt im weit entfernten Jesenik leitete, um sich Anregungen zu holen, und begann mit dem Bau der Kuranstalt. Sehr hilfreich dabei war die Anwesenheit des erst 16-jährigen einzigen Sohnes von Vinzenz Prießnitz, der später Alois Waissnix’ Tochter Wilhelmine, wie er 1848 geboren, heiraten sollte. Dadurch konnte die Waissnix’sche Kaltwasserheilanstalt von sich behaupten, das »garantiert echte Prießnitz’sche Heilverfahren« anzubieten.
Der Bau dieser Kaltwasserheilanstalt kostete die gewaltige Summe von 120 000 Gulden (ein Gulden entspricht ca. 14 Euro; Anm.) und umfasste neben dem Hauptgebäude Rudolfsbad noch die umgebaute Rudolfsvilla und die links oberhalb gelegene, neu errichtete Molkenvilla, sodass dem Kurbetrieb insgesamt 102 Zimmer zur Verfügung standen. Im angeschlossenen Park gab es einen Teich, eine Kegelbahn und diverse Turngeräte. Es wurde auf strenge Diät mit gesunden Lebensmitteln geachtet, die Kur konnte bei allen Leiden angewendet werden. Von 1866 bis 1871 besuchten fast tausend Gäste aus aller Herren Länder die Kuranstalt.
Als Anfang der 1870er-Jahre das Patent zur Rollgerstenerzeugung ablief und die Mühle dadurch nicht mehr rentabel war, begann der langsame Zerfall des Imperiums der Brüder Waissnix. 1877 wurden große Teile des Unternehmens verkauft und der Rest zwischen den Brüdern aufgeteilt. Michael erhielt die Kaltwasserheilanstalt, zu deren Gästen ab 1900 auch Arthur Schnitzler zählte. Hier lernte er seine spätere Frau, die Schauspielerin Olga Gussmann, kennen und kehrte oftmals mit ihr und seinen Kindern wieder. Der Sohn von Michael Waissnix, der das Kurhaus nicht mehr selbst führte und verpachtete, musste zusehen, wie es langsam zugrunde ging. Heute ist von diesem Gebäude nichts mehr übrig, da es 1945 von russischen Soldaten devastiert worden war und abgerissen werden musste.
Alois Waissnix behielt den Thalhof samt Landwirtschaft und hatte damit den einfacher zu bewirtschaftenden Teil erhalten, wohl war er auch kaufmännisch talentierter als sein älterer Bruder. Der Thalhof war zu einem florierenden Luxushotel geworden, in dem alles, was Rang und Namen hatte, verkehrte. Der Kaiserliche Rat Alois Waissnix, »der alte Waissnix mit dem weißen Kaiserbart und dem bäurisch-spöttischen Zug um die Lippen«, wie Arthur Schnitzler ihn beschrieb, und der – ebenfalls laut Schnitzler – wie ein General aussehende Ludwig Schneider wurden zu Arrangeuren einer Ehe, die zum Vorteil beider Familien, aber zum Unglück der Ehepartner werden sollte.
Wo und wie es zur ersten Begegnung zwischen Olga Schneider und Alois Waissnix’ Sohn Karl kam, ist unbekannt. Da der Thalhof zum Kundenstock des Ludwig Schneider gehörte, kannten die beiden Väter einander schon länger. Es ist anzunehmen, dass Alois und Karl Waissnix zuweilen im Restaurant am Südbahnhof waren, Ludwig Schneider, begleitet von Olga, mit Sicherheit öfters am Thalhof. Nach außen hin fungierten die Waissnix-Männer gerne als die Wirte und Hoteliers, die wahre Leitung des Hotelbetriebes und der Küche aber oblag den Ehefrauen. Die Waissnix’sche Heiratspolitik war immer bestrebt gewesen, sich tüchtige, arbeitsame Frauen und gute Köchinnen ins Haus zu holen. Da der Thalhof längst kein Wanderer-Gasthaus, sondern eine Nobelsommerfrische der besseren Gesellschaft und des Adels geworden war, dachte man zum ersten Mal daran, über den Reichenauer Topfrand hinaus nach Wien zu blicken. Die beiden Väter erkannten, dass die wohlerzogene Olga, die eine exzellente Köchin war und etwas vom Gastgewerbe verstand, sehr gut als Frau für Alois’ Sohn Karl geeignet war. So wurde eine Ehe zum Vorteil beider Familien arrangiert: Ludwig Schneider hatte seine älteste Tochter mit einem wichtigen Geschäftspartner unter die Haube gebracht und Alois Waissnix erhielt vom reichen Brautvater eine hohe Mitgift. Karl, dem Alois das Hotel samt Landwirtschaft schon vor der Hochzeit übergeben hatte, konnte das Geld für die weiteren Ausbauten am Thalhof gut gebrauchen.
Der 29-jährige Karl war vom ersten Moment an bis über beide Ohren in die mondäne, hübsche und elf Jahre jüngere Frau verliebt. Olga hingegen mochte den nüchternen, rustikalen, wenn auch gut aussehenden Mann von Anfang an nicht, wusste aber, dass sie sich dem Willen des Vaters widerspruchslos zu beugen hatte. Einer Frau der damaligen Zeit war, wie Olga so treffend schreibt, »die Ehe als einzige Laufbahn vorgeschrieben!«
Diese so unterschiedlichen Menschen heirateten am 20. Februar 1881 in der Elisabethkirche auf der Wieden in Wien, der Heimatpfarre der Braut. Das anschließende Hochzeitsdiner richtete Ludwig Schneider in seinem Südbahnhof-Restaurant aus. Olga trug ab diesem Tag den Namen Waissnix und ihr Mann Karl musste sich an einen neuen Vornamen gewöhnen, den ihm seine Frau verpasste. In der Wiener Gesellschaft war es damals sehr modern, den Vornamen, vorzugsweise abgekürzt, ins Englische zu übertragen. So wurde aus Karl »Charles« Waissnix. Dann hieß es für Olga ihr geliebtes Wien und das Elternhaus zu verlassen und sich in einer neuen Umgebung und mit neuen Pflichten vertraut zu machen.
Gewohnt hatte die Familie Waissnix immer in der Mühle in Reichenau, wo nun traditionsgemäß auch Olga mit ihrem Mann einzog. Sie fühlte sich dort nicht wohl. Michael und Alois Waissnix lebten hier mit ihren Familien nach altem konservativ-ländlichem Muster zusammen, auf das die mondäne, großstädtische Welt Olgas prallte. Der bedrückenden Enge und Nähe in der Mühle wollte die junge Frau schnellstmöglich entkommen und erreichte bei ihrem Gatten, dass er das nicht mehr benötigte Kaiserappartement im ersten Stock des Thalhofs zu einer Wohnung für die junge Familie umbauen ließ, die von Olga im Wiener Salon-Stil eingerichtet wurde.
Bald nach der Hochzeit wurde Olga das erste Mal schwanger, Sohn Karl kam am 11. November 1881 zur Welt. Sohn Ludwig folgte am 19. Jänner 1883 und am 13. Dezember 1885 schließlich der dritte Sohn, Rudolf. Was die Erziehung ihrer Kinder betrifft, verhielt sich Olga diametral zu den Gepflogenheiten der Familie Waissnix, wo die Eltern sich neben der Gastwirtschaft auch um die Kinder gekümmert hatten. Nach deren Begriffen handelte sie als Mutter, die die Erziehung der Kinder hauptsächlich Kindermädchen, Gouvernanten und später Internaten überließ, unverständlich. Ihr Verhältnis zu den Kindern entsprach jedoch ganz den Gepflogenheiten des großbürgerlichen Lebens der Wiener Gesellschaft, wo Frauen vielen gesellschaftlichen und sozialen Verpflichtungen nachzukommen hatten und auf Personal für die Kinder angewiesen waren. Es gehörte zum guten Ton, die Erziehung anderen zu überantworten. Schnitzler vermerkte in seinem Tagebuch, dass er »die Kinder draußen nie gesehen«. Man darf nicht vergessen, dass Olga, im Gegensatz zu den meisten anderen Ehefrauen, berufstätig war und von frühmorgens bis spätnachts im Hotel arbeitete. Erst im Herbst und Winter, wenn die Saison vorüber war, nahm sie sich vermehrt Zeit für ihre Söhne.
Während der Hochsaison von Ostern bis Ende Oktober musste sich Olga neben der Führung des Betriebes persönlich um die Gäste kümmern. Es galt, mit ihnen zu parlieren, sich Zerstreuungen für sie auszudenken, als Hausfrau Hof zu halten und Wohltätigkeitsveranstaltungen zu organisieren. Viele der Hotelbesucher kannte Olga bereits aus Wien. Ihren noblen Gästen war Olga ähnlicher als der bodenständigen Familie, in die sie eingeheiratet hatte. Plötzlich fand Charles, den das Wiener Salonleben und die Menschen mit ihren feinen Manieren enervierten, diese auch in seiner Wohnung im Thalhof vor, wohin Olga sie zum Tee oder zu Kartenspielen geladen hatte. Sein häuslicher Friede und Rückzug waren gestört und er bereute sehr schnell, die Mühle und seine Familie verlassen zu haben.
Werbeschaltung des Thalhofs
Die Anwesenheit der charmanten Olga Waissnix zog immer mehr neue Gäste an den Thalhof. Durch den großen Zubau, der mit Olgas Mitgift finanziert werden konnte, war das Hotel so groß geworden, dass es für Olga und Charles, der nebenbei auch noch die Landwirtschaft zu führen hatte, alleine nicht mehr zu bewältigen war. Charles holte zur Unterstützung den tüchtigen Franz Rettinger an den Thalhof, der mehrere Funktionen zu übernehmen hatte: »Von Herrn Rettinger (…) wäre nun ein Wort zu sagen. Das war der Buchhalter, Geschäftsführer, Vizedirektor des Thalhofs; ein kleiner, dicker, beweglicher Mann in den Dreißigern, meist städtisch gekleidet oder mit einem grünen Jagdrock angetan, aber jederzeit ohne Kragen und Halsbinde. Er hatte eine spaßige, geschwinde Art zu reden, war das Faktotum, der Vertraute und mehr oder weniger auch der Spion des Gatten, was ihn nicht hinderte oder vielleicht erst recht dazu veranlaßte, mit Frau Olga auf freundschaftlichem Fuß zu stehen, die ihm keineswegs traute, aber eine gewisse Sympathie für ihn hegte. Er war der Unentbehrliche des Hauses, in dessen Kanzlei alle Fäden zusammenliefen, geschäftliche und private; er erledigte die Korrespondenz, wies die Zimmer an, stellte die Rechnungen aus, hatte immer alle Hände voll zu tun, war für die Intimen des Thalhofs jederzeit zu sprechen, zuvorkommend gegen jedermann, immer gut aufgelegt und nicht gerade viel falscher, als bei den verwickelten Verhältnissen dieses sonderbaren Wirtshauses unumgänglich nötig schien, dessen Wirtin zugleich Hausfrau, Köchin, Dame von Welt, und dessen Wirt zugleich eine Art von kleinem Gutsherrn, Hotelier, Bauer und eifersüchtigem Ehemann war. So gleichmäßig sich Rettinger in seinem Benehmen gegenüber den Gästen gab, es war nicht zu verkennen, wo er eine Vorliebe hegte und wo er sich veranlaßt sah, seine Vorbehalte zu machen.«
So gut das Hotel lief, so schwierig gestaltete sich die private Beziehung zwischen Olga und Charles. Olga fand bei ihrem Mann nichts von dem, was sie sich ersehnte. Romantik, geistige Anregung, tiefsinnige Gespräche waren mit Charles nicht möglich. Unter der Gästeschar befanden sich jedoch immer wieder interessante Herren, die ihr dies bieten konnten und gerne mit der schönen Thalhofwirtin flirteten – sehr zum Unwillen des Ehemannes, der extrem eifersüchtig war und peinlich genau darauf achtete, jeglichen Skandal zu vermeiden, der seinem Ruf und seiner Mannesehre hätte schaden können. Zwar wurde Olga im Zuge ihrer leidenschaftlichen Flirts niemals die Geliebte eines Mannes, aber es wurde geredet und Charles stand als Gehörnter da. Olga kam ihren häuslichen wie ehelichen Pflichten nach, schaffte es aber nicht, ein Naheverhältnis zu ihrem ungeliebten Mann aufzubauen. Sie kapselte sich ab – eine Situation, die für Charles Waissnix, der seiner Frau eine tiefe Liebe entgegenbrachte, verletzend war. Die Vorhaltungen und Szenen, die er ihr deshalb machte, entfernten die beiden noch mehr voneinander. Charles flüchtete in seine Landwirtschaft und in die Arme von Geliebten in Reichenau, Olga in die Hotelarbeit, auf die Jagd, nach Wien und zu Kuraufenthalten. Gemeinsam sah man das Ehepaar außer an hohen Feiertagen in Reichenau selten.
Im Sommer 1883 kam es zum ersten großen Eklat zwischen den Eheleuten. Schuld daran war ein alter Stammgast des Thalhofs, Richard Engländer, der sich später Peter Altenberg nennen sollte. Ein Mann, der für seine Verehrung von jungen, schönen Frauen bekannt war, machte Olga den Hof. Man ging zusammen spazieren, genoss gemeinsame Lektüre und sie erlaubte ihm, ihre Hand zu küssen. Charles gab seiner Frau zu verstehen, dass dies sofort aufhören müsse, weil er den Rivalen sonst erschießen würde, woraufhin Olga sich genötigt sah, Altenberg einen Abschiedsbrief zu schreiben, und dieser Reichenau verlassen musste. Dieser kurze platonische Flirt hinterließ einen lebenslangen Eindruck auf ihn. Er verewigte Olga Waissnix mehrmals in seinem Werk.
Diese außergewöhnliche Frau war voller Gegensätze: einerseits praktisch veranlagt und ein kreatives Organisationstalent, andererseits schöngeistig und träumerisch. All diese Eigenschaften lassen sich aus ihren Briefen an Arthur Schnitzler herauslesen, den sie im Sommer 1885 am Thalhof kennenlernte.
Der am 15. Mai 1862 in Wien-Leopoldstadt geborene Arthur Schnitzler war als Kind und Jugendlicher mit seinen Eltern und Geschwistern regelmäßiger Sommergast am Thalhof gewesen, eine Zeit, an die er sich gerne erinnerte und die rückblickend bereits die Wirkung, die Olga Waissnix ab April 1886 auf ihn haben sollte, anklingen lässt: »Jedenfalls aber war es hier in Reichenau, zu Füßen des Schneebergs und der Rax, wo zum erstenmal eine erhabene Bergnatur sich vor mir öffnete, als ich sie im nahen Umkreis von Wien zu sehen gewohnt war, und wo das Geheimnis der Höhen und Fernen zum erstenmal an meine Seele griff; und dies allein reichte gewiss aus, sie in einen gelinden Rausch zu versetzen, auch ohne dass man ihr noch überdies die ahnungsvolle Voraussicht zuschreiben müsste, dass eben diese Gegend, ja gerade der Thalhof und seine nächste Umgebung, Jahrzehnte später dem herangereiften Jüngling als wundersamer Rahmen für ein geliebtes Frauenbild unendlich viel bedeuten sollte …«
Als sich Olga und Arthur das erste Mal am Thalhof begegneten, nahmen sie einander lediglich wohlwollend zur Kenntnis. Nach dem Abschluss der letzten Examen des Medizinstudiums begab sich Arthur Schnitzler in die sogenannten Doktorferien, die ihn im Juni 1885 mit seinem Bruder Julius nach Ungarn und im Juli mit seiner Mutter Luise und seiner Schwester Gisela in den Thalhof nach Reichenau führten. Hier blieb man allerdings nicht sehr lange, da Gisela an einer Rippenfellentzündung erkrankte. Während dieses Aufenthaltes verliebte sich Arthur in eine junge Witwe namens Betty, der allerdings sein Bruder erfolgreicher den Hof machte, und die er bei der Heimfahrt mit der Bahn schon wieder vergessen hatte. Über seinen ersten Eindruck von Olga Waissnix schrieb er später: »Wenn ich nach dem Abendessen mit der koketten Witwe vor dem Thalhof auf und ab spazierte, hatte sich zuweilen auch die junge Wirtin zu uns gesellt, die im Gegensatz zu dem etwas ländlichen Gehabe ihres wohlgewachsenen, gleichfalls noch jungen Gatten sich mit gutem Recht als die Dame von Welt zu geben liebte. Denn wenn sie auch als die älteste Tochter des in seiner Art berühmten Stefanskeller- und Südbahnwirtes glänzend die Küche zu führen verstand, wo die Intimen sie gelegentlich am blinkenden Herd besuchen und bewundern durften – sie konnte es an Geschmack und allgemeiner Bildung und besonders an äußeren Vorzügen mit der Mehrzahl ihrer weiblichen Gäste aufnehmen …«
Olga Waissnix war nicht sehr oft selbst am Herd zu finden, das hätte sie zeitlich nicht geschafft. Sie stand der Küche vor, erstellte gemeinsam mit dem Chefkoch den Speiseplan und kreierte neue Gerichte. Eines ihrer Rezepte aus der Lehrzeit brachte sie mit an den Thalhof, die berühmte und aufwendig herzustellende Schneidertorte. Anlässlich großer Feste wird diese Torte nach wie vor von Olgas Nachfahren gebacken:
Teig: 8 dag Butter, 7 dag Schokolade, 8 dag Zucker, 4 Dotter,
8 dag Mandeln,
4 Eiklar
Butter und Mehl für das Blech
Creme: 2 Eier, 9 dag Zucker, 1 dag Stärkemehl, 10 dag Butter, 8 dag Schokolade, 4 dag Haselnüsse
Schokoladeglasur, 3 dag Hagelzucker
Die Butter wird schaumig gerührt, nach und nach Zucker, Eidotter und die erweichte Schokolade dazugegeben und zuletzt der steife Schnee und die geschälten, geriebenen Mandeln untergezogen. Die Masse streicht man auf ein befettetes, bemehltes Blech in vier Blättern auf und bäckt sie bei Mittelhitze.
Nach dem Erkalten werden die Blätter mit folgender Creme zusammengesetzt:
Die ganzen Eier werden mit Zucker und Stärkemehl über Dunst zu einer dicken Creme geschlagen, auskühlen lassen. Die Butter wird schaumig gerührt, mit erweichter Schokolade, den gerösteten, geriebenen Haselnüssen und löffelweise mit der erkalteten Creme vermischt. Die Torte mit Schokoladeglasur überziehen und, solange die Glasur noch weich ist, mit Hagelzucker bestreuen.
Während in Arthur Schnitzlers Erinnerung die Eleganz, Bildung und Schönheit Olgas haften blieben, stellte Olga fest, dass sie seine Art an Peter Altenberg erinnere, was Schnitzler öfter passierte und er nicht gerne hörte. Er hatte insgesamt das Gefühl, der Thalhofwirtin eher unsympathisch zu sein.
Nur acht Monate später sollte beim Wiedersehen in Meran der Funke überspringen und das Schicksal seinen Lauf nehmen.