Читать книгу Rittmeister Segendorf - Elisabeth Krickeberg - Страница 6
4. Kapitel.
ОглавлениеUnd der Tag kam bald, an dem sich Mite die Finger verbrannte, gründlich. Man befand sich in den Hundstagen mitten in der Ernte, und die Sonne schien mit einer so erbarmungslosen Glut auf die Erde hernieder, dass jeder, der nicht unbedingt hinaus musste, gern zwischen den kühlen Wänden des Hauses blieb. Mite hatte schon eine Woche lang den Grosspapa nicht auf seinen Ritten begleitet. Sie fürchtete die Hitze, und dann — Grosspapa ritt jetzt immer nach den Ernteschlägen, um die Leute bei der Arbeit zu beobachten.
Der Inspektor hatte eine Mähmaschine angeschafft, die tadellos arbeitete und eine grosse Ersparnis an Arbeitskräften bedeutete; die zog den Baron an. Ihn beschäftigten auch die sozialen Massnahmen seines Inspektors. Er war der einzige Gutsverwalter der ganzen Gegend, der die Leute von elf bis zwei Uhr in der grössten Tageshitze pausieren liess und dabei doch mehr schaffte als alle andern, weil die Leute frisch blieben bei der Arbeit. Er liess ihnen auch während des Tages abgekochtes Wasser mit Fruchtsaft vermischt reichen. Der Baron erzählte es beifällig im Familienkreise, ihn selber begann die Wirtschaft zu fesseln.
„Ja, wenn man sieht, wie es klappt und vorwärtsgeht, und einem nicht auf Schritt und Tritt tausenderlei Unannehmlichkeiten in den Weg kommen! Es ist eine Freude, zu sehen, wie willig die Leute ihrer schweren Arbeit obliegen. Müller mag persönlich sein, wie und was er will, in seinem Fach ist er ausgezeichnet, der geborene Organisator, und ich muss es mir als ganz besondern Glücksumstand anrechnen, dass ich ihn für Segendorf gewonnen habe.“
Mite rümpfte das Näschen, mochte er ihretwegen ein tüchtiger Wirtschaftsbeamter sein, als Mensch war er ein Plebejer, ein Bauer, mehr als das, ein Flaps. Als Tante Siebenstein vor einigen Tagen die Frau des Kutschers wie gewöhnlich zum Waschen der Wäsche im Schloss verlangte, hatte dieser Müller ihr sagen lassen, die Frau sei jetzt dringend nötig, den Ernteleuten die Beköstigung zu besorgen, die Herrschaft möchte die Wäsche vierzehn Tage aufschieben oder die Siebeln zum Waschen nehmen. Unerhört! — Die Siebeln war ein altes, klappriges Weib, und die Kutscherfrau hatte schon, solange sie auf Segendorf weilten, im Schloss Aushilfe geleistet. Aber die Tante Siebenstein mit ihrer unbegreiflichen Vorliebe für diesen Müller hatte sich natürlich stillschweigend gefügt und die Wäsche vierzehn Tage hinausgeschoben. Sie, Mite, war wirklich die einzige, die sich von dem anmassenden Wesen dieses Inspektors nicht einschüchtern liess.
Aber in ihren Ärger über den Inspektor mischte sich doch auch die Neugier. Einen Blick auf die neue Maschine und die so willig arbeitenden Leute mochte sie doch auch einmal werfen, natürlich nur ganz nebenbei, wie zufällig, und das konnte am besten geschehen, wenn sie den Grosspapa wieder einmal auf einem Ausritt begleitete. So beauftragte sie den Reitknecht, ihre Stute zu satteln.
Der sah sie einen Augenblick verdutzt an, dann berichtete er kleinlaut, dass das nicht möglich sei, denn die Stute sei noch nicht von der Milchlieferung aus der Stadt zurück.
„Was?“ fragte Mite, die nicht recht gehört zu haben meinte, „von der Milchlieferung, meine Sibylle?“
„Ja, wissen das gnädige Fräulein nicht, dass die Sibylle an Stelle des Joseph schon seit acht Tagen im Milchwagen geht?“
„Und der Joseph?“ stiess sie hervor.
„Der ist in die Mähmaschine gespannt.“
Siedendheiss stieg Mite der Zorn über diese unglaubliche Eigenmächtigkeit des Inspektors zu Kopf. Ihr Reitpferd zum Milchfahren erniedrigt! Sie wollte zum Grosspapa laufen, Klage führen, aber auf halbem Wege blieb sie stehen. Nein, das hatte keinen Zweck, der alte Herr würde bestimmt wieder irgendeine Entschuldigung für das Verhalten des Inspektors haben, Tante Siebenstein desgleichen, selber wollte sie mit diesem Herrn Müller abrechnen.
Er stand im Wirtschaftshof an einer der Scheunen, das Abladen eines Kornwagens beaufsichtigend, als Mite, bebend vor Erregung, schnurstracks auf ihn zugeeilt kam. „Herr Müller, ist das wahr, dass meine Sibylle den Milchwagen ziehen muss?“ sprudelte sie, ohne ihn auch nur gegrüsst zu haben, sogleich los.
Er blickte ihr ruhig ins Gesicht, mit einem kühlen Spott, der sie vollends ausser sich brachte.
„Ich kann’s nicht glauben,“ fuhr sie boshaft fort, „das würde eine Rücksichtslosigkeit und Eigenmächtigkeit von Ihnen bedeuten ...“
„Baronesse haben mit mir zu sprechen?“ unterbrach er sie höflich, aber bestimmt, mit einem Blick auf die in Hörweite arbeitenden Knechte. „Dort ist mein Kontor, bitte, mich dahin zu begleiten“, und er ging ohne weiteres voran, es ihr überlassend, ihm zu folgen. Sie tat es mit zusammengebissenen Zähnen, beschämt, wütend auf sich selber, dass sie sich so hatte gehen lassen.
Im Kontor angelangt, blieb er vor ihr stehen, er bot ihr nicht einmal einen Sitz. „Gnädiges Fräulein wünschen zu wissen, mit welchem Recht ich die Sibylle für den Milchwagen bestimmt habe?“
„Ja, sie ist mein Reitpferd.“
„Das stimmt nicht ganz. Gnädiges Fräulein haben die Sibylle als Reitpferd benutzt, sie ist aber nicht persönliches Eigentum der Baronesse, sondern gehört zu dem vorhandenen lebenden Inventar des Gutes, wie ich mich aus den Büchern überzeugt habe, sonst, gnädiges Fräulein können versichert sein, hätte ich nicht über sie bestimmt, so notwendig ich das Tier zur Aushilfe brauchte. Die Wirtschaft ist augenblicklich nicht in der Lage, neues Pferdematerial anzuschaffen, das vorhandene muss nach Möglichkeit ausgenutzt werden, zumal es sich nur um einige Erntewochen handelt, ausserdem hat das gnädige Fräulein schon seit längerer Zeit nicht daran gedacht, auszureiten. Das Tier stand müssig im Stall, und wenn es auch alt ist und nur noch leichte Arbeit verrichten kann, zum Faulenzen hat zurzeit selbst ein Pferd auf Segendorf nicht das Recht.“
Mite zuckte innerlich zusammen; sollte das ein Stich für sie sein? Und sie war auch ratlos, darauf liess sich schlechterdings nichts erwidern. Er hatte ja recht, das Pferd gehörte in die Wirtschaft, war nicht ihr Privateigentum; aber sie gab sich nicht gefangen.
„Nun, dann wäre es wenigstens ritterlich gewesen, wenn Sie mich vorher von Ihrem Entschluss benachrichtigt hätten“, warf sie ihm verächtlich ins Gesicht. Ihre Wangen brannten, die schönen Rehaugen blitzten vor Zorn und Ungeduld. Wie ein graziöses, reizendes Sprühteufelchen stand sie vor ihm, mutig, kampfbereit bis zum äussersten. Sie hatte nichts von der schmiegsamen, etwas farblosen Nachgiebigkeit und Weichheit gewisser zarter Blondinen, sie besass Rasse.
Über sein ernstes, strenges Gesicht ging ein Lächeln, nicht spöttisch und nicht geringschätzig, im Gegenteil ein Lächeln, das viel eher eine Anerkennung und Befriedigung barg, und das sie mehr beleidigte, als es der ärgste Hohn hätte tun können. Aber es war im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden. „Konnten gnädiges Fräulein wirklich das Benehmen eines Ritters von dem ... Bauern erwarten?“ fragte er in seiner alten Ruhe und mit seinem alten Sarkasmus.
Mit einer zornigen Gebärde warf sie den Kopf auf: „Die Pflichten des Anstands kann auch ein Bauer erfüllen.“
„Ja, aber seine Ansichten über Anstand sind verschieden von denen der Baronesse Segendorf.“ Das klang wieder sehr boshaft. „Ich kann leider meine Massnahmen nicht rückgängig machen,“ fuhr er fort, „aber ich werde dem gnädigen Fräulein gern meinen Fuchs zur Verfügung stellen. Baronesse können ihn getrost reiten, er ist von feinerer Rasse als sein Herr und versteht sehr wohl, was er einer Dame schuldig ist; ausserdem ist er wirklich weder in einer Wette gewonnen noch gestohlen, sondern rechtlich erworbenes Eigentum. Baronesse brauchen sich nicht vor ihm zu scheuen.“
Sie bebte vor Empörung, um so mehr, als sie sich getroffen, im tiefsten Innern beschämt fühlte. Wie konnte er wagen, ihr das zu sagen, sie mit ihren eigenen Worten zu schlagen? Sie war tödlich beleidigt, aber er durfte um die Welt nicht sehen, wie sie sich kränkte. Alle ihre Kraft zusammennehmend, sagte sie von oben herab: „Ich danke, lieber würde ich zeitlebens auf das Reiten verzichten! — Ich werde auch Sibylle, da sie Gutseigentum ist, was mich nichts angeht, nicht mehr für meine Privatzwecke benutzen. Wenn auch die Segendorfs in Ihren Augen einem heruntergekommenen Geschlecht angehören — was sie sich schuldig sind, haben sie nicht vergessen.“
Mite war dann hinaus und in ihrem Zimmer im Schloss, ohne zu wissen, wie sie dahin gelangt war. Zorn und Scham hatten ihr alle Besinnung geraubt, und nun brach sie in ein wildes Schluchzen aus und weinte sich recht herzlich satt. Ach Gott! welch ein Jammer ist’s doch, wenn ein ehemals glänzendes Geschlecht durch widrige Schicksalsschläge so tief sinkt, dass es dem guten Willen und der Barmherzigkeit des ersten besten ungebildeten Menschen auf Gnade und Ungnade überantwortet ist.
Sie bemitleidete sich selber aus tiefster Seele. Wie abscheulich hatte dieser Mann aus niederm Stand sie behandelt! — Wie ein Schulmädchen hatte sie vor ihm stehen und sich schelten lassen müssen. Gewiss, es war nicht hübsch gewesen, dass sie damals die alberne Bemerkung über die Art, wie er in den Besitz des kostbaren Reitpferdes gelangt sein könnte, gemacht hatte; aber sie war doch nur ein kindischer, gedankenloser Scherz von ihr gewesen, und er, der unheimlich Kluge, konnte ihn auch unmöglich für ernst genommen haben, benutzte ihn aber trotzdem, um sie zu demütigen.
Ein echter Edelmann, ein Herr aus ihren Kreisen, würde das einer Dame gegenüber niemals getan haben. Damit und durch sein Lauschen hinter der Türe bewies er ja am besten, dass er wirklich ein Bauer war. Und einem solchen mussten sie sich beugen, der Grosspapa, der des Kaisers Rock in so hoher Stellung getragen hatte, ein Ritter und Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle, und sie, die Enkelin des vornehmen Geschlechts derer von Segendorf, das seine Ahnen bis auf die Kreuzzüge zurückverfolgen konnte. Man wusste nicht einmal, ob die Mutter dieses unbekannten Herrn Müller nicht vielleicht eine Stallmagd gewesen war.
Als sie zu Tische erschien, hatte sie noch ganz verweinte Augen, und kaum erblickte sie den Grosspapa, als sie auf ihn zueilte: „Wusstest du, dass Sibylle den Milchwagen ziehen muss, Grosspapa?“
Der alte Herr war sichtlich verlegen, er sah die Erregung der Enkelin und die Tränenspuren an ihren Augen, und er hatte ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Um einer Szene auszuweichen, hatte er die Geschichte mit der Sibylle vor ihr verschwiegen. Darum wäre er jetzt gern ausgewichen, aber da gab es keine Möglichkeit. Mite stand vor ihm und bohrte ihre Augen förmlich in die seinen. „Ja, ich wusste es“, bekannte er. „Herr Müller hat es mir natürlich gemeldet.“
„Das ist gar nicht natürlich bei diesem Müller. Dann hat er dir einmal eine ganz besondere Gnade erwiesen, als er es dir sagte.“
„Mite“, warnte Frau von Siebenstein, aber die fuhr unaufhaltsam fort: „Und du hast es gebilligt, Grosspapa, dass das arme Tier in seinen alten Tagen so gequält wird, nur damit dieser von zweifelhafter Herkunft stammende Müller mir einen Ärger antun kann?“
„Ach, Mite, du bist ja des Kuckucks“, rief der alte Herr aufgebracht, froh, eine Gelegenheit zum Poltern gefunden zu haben. „Es hat Müller selber leid getan, das Pferd in die Arbeit einstellen zu müssen, übrigens die leichteste, die man ihm geben konnte, er hat es mir ausgesprochen.“
„Dir — so — warum denn nicht mir selber, was anständiger gewesen wäre?“
„Wie käme er denn wohl dazu, dich anzureden? Ich dächte, du zeigtest ihm deutlich genug bei jedem Zusammentreffen deine Gedanken über ihn — und da wir einmal darüber sprechen: ich muss dich ernstlich darum ersuchen, dein Benehmen gegen Müller höflicher zu gestalten. Du hast nicht das geringste Recht, ihn mit Geringschätzung zu behandeln, im Gegenteil, wir sind ihm grossen Dank schuldig, und ich wünsche nicht, dass sich eine Segendorf der Pflicht der Dankbarkeit entzieht. Wir haben wahrlich in unserer jetzigen Lage kein Recht, uns auf unsern Stand etwas einzubilden, heruntergekommen, wie wir sind.“
Da schnellte Mite empor: „Grosspapa, wie kannst du dein Geschlecht so herabsetzen und beleidigen! — Haben wir nötig, uns zu schämen, wenn ein widriges Geschick uns verfolgt und Unglück über uns bringt?“
„Papperlapapp! das ist so eine Romanfloskel, die kannst du getrost aufstecken! — Nicht ein widriges Geschick, sondern die eigene Untüchtigkeit und Leichtfertigkeit haben das Geschlecht der Segendorf ins Unglück gebracht, damit du es endlich weisst. Die Vorfahren haben die liederliche Wirtschaft begonnen, und dein Grossonkel, mein Herr Bruder, hat sie vollendet. Er hat als grosser Herr in Ägypten gewissenlos auf Pump gelebt, und daheim haben Betrüger und unfähige Beamte geholfen, den Ruin zu beschleunigen. Ich bin auch kein Heiliger gewesen, habe manchen Groschen mehr ausgegeben, als ich unbedingt nötig gehabt hätte; aber was ich ausgegeben habe, war wenigstens mein Eigentum, und ich hätte nicht nötig gehabt, auf irgendeines Menschen Hilfe zu rechnen, wenn mir nicht diese unglückselige Erbschaft in den Schoss gefallen wäre. Nun stehe ich vor einer Schuldenlast, die mich erdrückt haben würde und dich dazu, wenn nicht dieser ‚von zweifelhafter Herkunft stammende Müller‘ uns im letzten Augenblick noch als Helfer in der Not erschienen wäre. Ob wir noch einmal im Leben auf einen grünen Zweig kommen, ist heute noch ungewiss, wir werden aber wenigstens keinen schimpflichen Bankrott machen müssen, so viel steht schon jetzt fest, und das danken wir allein diesem Müller. Nun magst du selber beurteilen, ob dein Benehmen ihm gegenüber anständig ist oder nicht.“
Noch nie hatte Mite eine so energische Zurechtweisung vom Grosspapa erhalten, sie war vollkommen sprachlos, eingeschüchtert und tödlich beschämt. Es war ihr höchster Stolz gewesen, aus dem erlauchten Geschlecht der Segendorfs zu stammen, ihre Vorfahren waren ihr Ritter sonder Furcht und Tadel, echte, vornehme Aristokraten gewesen, und wenn dem Grosspapa in letzter Zeit öfters einmal ein hartes Wort über den verstorbenen Bruder entschlüpft war, so hatte sie das auf Rechnung der zwischen beiden herrschenden Abneigung geschoben.
Und nun musste sie hören, dass dieser Grossonkel nichts weniger als ein Edelmann im wahren Sinn des Wortes, ja, eigentlich ein rechter Lump gewesen war — denn was ist ein Mensch, der Schulden macht, die er nicht bezahlen kann, anders als ein Betrüger —, und dass die stolzen Segendorfs nun darauf angewiesen waren, sich von einem bezahlten Untergebenen ihren guten Namen wiederherstellen zu lassen. Und sie hatte sich obenein diesem Untergebenen gegenüber, der ihre Schmach kannte und im Bewusstsein seiner Tüchtigkeit und Unentbehrlichkeit, natürlich voll Bauernhochmut, mitleidig nachsichtig auf sie herabblickte, die Blösse gegeben, die vornehme, beleidigte Dame herauszukehren.
Oh! nie würde sie dem Müller mehr ins Gesicht blicken können. Sie fühlte sich vor ihm bis in den Staub gedemütigt und beschämt, und um so mehr hasste und verabscheute sie ihn. Ganz verzweifelt war sie bei dem Gedanken, dass die Segendorfs ihm so grossen Dank schuldeten. „Du auch!“ — hatte ihr der Grosspapa zugerufen, und jetzt, da sie erst einmal ihre Harmlosigkeit abgestreift und angefangen hatte, zu denken und zu grübeln, sah sie ein, mit Recht.
Dass Grosspapa kein Vermögen besass, war ihr allerdings bekannt gewesen, in sorgenvollen Stunden hatte er es ihr immer wieder voll schmerzlicher Kümmernis gesagt, aber sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht. Dass Grosspapa sterben sollte, lag so ganz ausserhalb ihrer Vorstellung, schien so unmöglich, in jedem Fall brauchte sie einstweilen noch nicht darum zu sorgen; er würde noch lange leben. Er war ja so rüstig und das Grübeln über diese „Wenns“ so unbequem.
Jetzt wies sie den Gedanken nicht wieder von sich: Wenn Grosspapa sterben sollte! Das Gut verschuldet, verliedert! Man würde es ihr wahrscheinlich fortnehmen. Sie ohne einen Pfennig Vermögen, ohne etwas gelernt zu haben, womit sie sich ihr Brot verdienen konnte, was war da ihr Los? Man würde sie, den Sprössling altadeligen Geschlechts, mit Hilfe irgendeiner mildtätigen Stiftung der Stammesgenossen in einem Fräuleinstift unterbringen, und all ihre Lebtage würde sie gezwungen sein, von Almosen zu leben.
Das waren ihre Aussichten gewesen, bevor der neue Inspektor kam, dieser „von zweifelhafter Herkunft stammende Müller“ — und jetzt, da er kaum einige Wochen da war, blickte Grosspapa bereits mit Hoffnung in die Zukunft, zum mindesten würden sie nicht mit Schimpf und Schande vom Stammgut der Familie gejagt werden. Vielleicht erhielt ihr sogar die Tüchtigkeit des neuen Inspektors ihr dermaleinstiges Erbe, und wenn er auch für seine Arbeit bezahlt wurde, sie hätte blind sein müssen, wenn sie nicht trotz ihres Hasses gegen ihn hätte sehen sollen, dass er mehr tat, als seine Pflicht von ihm heischte, und dass er es in einer ganz andern, hingebungsvolleren und persönlicheren Art tat, als der erste beste andere bezahlte Untergebene. Gott im Himmel! wie sollte sie dem Mann das jemals danken! — einem Mann, den sie nicht einmal ansehen konnte, ohne dass ihr Inneres sich gegen ihn aufbäumte.