Читать книгу Pariser Nächte - Elke Bulenda - Страница 6
Dies Bildnis ist bezaubernd schön...
Оглавление(Emanuel Schikaneder - Die Zauberflöte)
Nachdem diese unangenehm-hartnäckigen Polizisten endlich das Feld räumten, begaben wir uns selbst an die vorgeschriebene Arbeit. Im Gegensatz zu normalen Polizisten, müssen wir bei Salomons Ring nicht alles selbst ermitteln. Unsere Smartphones sind mit speziellen Kameralinsen ausgestattet, die selbst die kleinsten Spuren von Ektoplasma und Magie-Aktivitäten erfassen. Also machten wir die Tatort-Aufnahmen und sendeten die Daten an die Zentrale, in der Spezialisten mit entsprechendem Equipment die Daten analysieren und auswerten. Wenn dieser Vorgang abgeschlossen ist, werden die Ergebnisse verschlüsselt in der dementsprechenden Fallakte abgelegt, die wir dann jederzeit wieder abrufen können. Anschließend machten wir klar Schiff, damit die Museumsbesucher den Ausstellungsraum wieder betreten konnten. Somit hielten wir unser Versprechen, das wir dem Kurator gegeben haben. Nur die äußere Eingangstür ließen wir noch mit dem gelben Polizeiband abgesperrt. Damit verschafften wir uns noch etwas Zeit zum Verschnaufen, weil die Besucher erst die vielen anderen Galerien durchschreiten mussten, um an diejenige zu kommen, in der wir uns befanden.
Und nun hatte ich endlich Zeit, mich dort ein wenig gründlicher umzusehen. Beim Anblick der älteren Exponate zog sich mir schmerzhaft der Magen zusammen. Alles erinnerte mich an die Zeiten, als ich selbst noch ein Mensch, und mein Leben noch glücklich und geordnet war. So sah ich mir die Möbel an, die handgemacht und mit Nordischen Motiven verziert waren. Hinter meiner Stirn flackerte meine Migräne noch heftiger auf. Ja, mit solchen Möbeln habe ich gelebt. Drauf gesessen, darin geschlafen und daran gegessen.
… Essen - Wie gerne würde ich wieder essen. Ein saftiges Stück Fleisch, oder einen selbst gefangenen Lachs, vielleicht auch Kabeljau, oder Stint ...
Mit verkrampftem Magen ging ich weiter. Außerdem fragte ich mich, was da in der Vitrine war, als ich Barbiel zu unserem Gespräch bat. Auch das sah ich mir genauer an. Die Vitrine fungierte als Blick in die Vergangenheit und das Vieh darin war längst ausgestorben. Ich las das Schild: Canis lupus arctica nordica. Eine arktische, ausgestorbene, oder eher ausgerottete Wolfsart. Nun, das war nichts Neues, ich kannte diese Viecher noch von früher; aus ihnen dengelten wir damals Kleidung, Decken und Bettvorleger. Ab und zu schickten wir eine läufige Hündin raus, um etwas Wolfsblut einzukreuzen. Dieses Tier in der Vitrine war leicht verstaubt und glotzte mich mit seinen toten Knopfaugen blöde an. Wenn ich Mitleid empfinden könnte, würde der Wolf mir leid tun. Wenigstens starb er nicht an der Klimaerwärmung und schmelzenden Polkappen. Ertrinken ist ein unschöner Tod.
Vorsichtig rieb ich mir die schmerzende Stirn und ging weiter.
Neben mir Barbiel, der sich ebenfalls die Exponate in aller Ruhe ansah. »Sag mal, du bist doch ein waschechter Nordmann, wieso siehst du aus, als wäre Dschingis Khan an deiner Zeugung beteiligt gewesen?«
Eindeutig stellte der Tucken-Engel wieder zu viele Fragen.
»Weil meine Mutter eine Skythin war.«
»Ja und? Wie kommt eine Skythin in den hohen Norden? Und wie ist dein Vater auf diese Frau gestoßen?«
Verdammt, er wollte aber auch alles wissen, diese neugierige Nase.
»Wenn du mal deine Augen aufsperren würdest, wüsstest du, dass die Nordmänner nicht nur plündernde und saufende Rabauken waren, sondern auch Handel trieben. Überall gab es Handelsplätze, auf denen mit Kunst- und Gebrauchsgegenständen, Fellen und Getreide gehandelt wurden. Mein Vater traf meine Mutter, weiter im Osten, auf ebenso einem Handelsplatz. Sie war mit ihrem Vater dort, um Pferde und Kamele zu verkaufen. Als mein Vater sie sah, hat er sie gleich mitgenommen, es war Liebe auf den ersten Blick. Das muss als Erklärung reichen, sonst musst du mir erzählen, wie es ist, auf einer Wolke zu sitzen und auf einer Harfe herum zu klimpern!«
Sein Blick war nicht zu deuten. »Du siehst ziemlich blass aus. Liegt es am Commissaire Bruno und diesem Legrand? Letzterer ist auch einer von deiner Art, ein Vampir, stimmt´s?«, fragte Barbiel und kraule Brutus den Kopf, der traurig auf seinen vertrockneten Urahnen blickte.
»Nein, es liegt nicht an Legrand, obwohl er mir ziemlich bekannt vorkommt. Klar, er ist ein Vampir. Ich frage mich, ob sein Kollege davon Kenntnis hat. Er erschien mir fast schon aggressiv. Wir sollten diese beiden Bullen unbedingt im Auge behalten. Der Grund meiner Blässe ist meine fette Migräne. Wenn du fertig mit dem Betrachten bist, könntest du uns mal einen Kaffee besorgen. Und setzt den Hund ab, er hat selbst Beine; du solltest beide Hände frei haben, um den Kaffee zu tragen.«
»Stimmt, wir sollten sie wirklich im Auge behalten, sie waren einfach zu neugierig. Bruno war stinkwütend, es hatte den Anschein, als wollte er nach mir treten. Hm, ich habe noch nie gehört, dass Vampire unter Migräne leiden. Du solltest dich von Amanda untersuchen lassen.«
… Das kann ich gut verstehen, mir ging es auch manchmal so, dass ich nach Barbiel treten wollte ...
Leicht genervt verdrehte ich die Augen. Zu Amanda zu gehen und ihr gegenüber auch nur die kleinste Schwäche einzugestehen, empfand ich im Moment als nicht so günstig. Sie hatte mich als ihre Laborratte bezeichnet, und das nahm ich ihr wirklich übel. »Vampire leiden im Normalfall auch nicht unter Schlafstörungen«, polterte ich. »Amanda kann sich selbst untersuchen, denn mit ihr stimmt etwas nicht.«
… Sie mag mich nicht, und das stimmt an dieser ganzen Geschichte nicht. Es kränkt mich, wenn eine so schöne und gescheite Frau mich behandelt, als hätte ich die Pest ...
»Du könntest Schäfchen zählen«, bemerkte Barbiel nebenbei.
»Ich hasse Schafe, und so wie ich sie kenne, scheißen sie mir beim Zählen mein Schlafzimmer zu. Außerdem stinken sie und machen zu viel Lärm«, grinste ich zurück und ging weiter. Meinem Begleiter entwich ein leises Kichern.
Ein Gemälde fand meine besondere Aufmerksamkeit. Das würde ich mir genauer ansehen, wenn Barbie verschwand, um Kaffee zu holen. Wir gingen weiter und kamen zu den neueren Exponaten. Ich mag die Moderne Kunst nicht, was ist daran Kunst, wenn man nicht einmal weiß, ob ein Maler auch wirklich, - ich meine richtig - malen kann? Das Ding, welches wir betrachteten, erschien mir jedenfalls abgrundtief abstoßend.
»Was ist denn das für eine Scheiße?«, entrüstete ich mich. Das Geschmiere war wirklich unter aller Kanone. Ein Kerl mit einem umgedreht-birnenförmigen Gesicht, stand auf einer Brücke und hielt sich den Kopf. Sein Mund war zu einem Schrei verzerrt. Hinter ihm loderte der Himmel in rot-orangen Tönen. Das Wasser war blau-schwarz. Wahrscheinlich hatte er ebenfalls Migräne.
»Das ist eine Leihgabe der Nasjonalgalleriet, Oslo. Dieses Gemälde ist vom berühmten, norwegischen Maler Edvard Munch geschaffen worden und heißt: Der Schrei. Ein sehr berühmtes Bild, es ist weltbekannt«, erklärte mir der Engel.
»Ach so! Das hat quasi ein besoffener Nordmann gemalt. Dafür ist es wiederum ganz passabel«, nickte ich anerkennend.
Barbiel grinste und ging los, den Kaffee holen. Doch er bremste ab, blieb stehen und sah mich fragend an. »Wie trinkst du ihn?«
»Bring etwas zum Umrühren mit. Schwarz, mit Zucker, zwei Löffel«, war meine Antwort.
»Okay, komm Brutus!«, rief er dem Chihuahua zu. Doch Brutus blieb bei mir sitzen und lugte immer wieder zu dem verstaubten Wolf. Also musste Bärbel alleine losziehen. Als Babsie außer Hörweite war, wandte ich mich an Brutus.
»Na? Übst du schon mal deinen Ruhestand? Du weißt, dass dies hier dein letzter Einsatz ist. Dein Nachfolger wird nicht ganz so zerbrechlich sein. Ein Boston-Terrier, aber du kannst beruhigt sein, er sieht nur halb so gut aus wie du.«
… Was machte ich hier eigentlich? Jetzt redete ich auch schon mit diesem Köter!...
Vorsichtig bewegte ich mich zurück zu dem Gemälde, welches vorhin so stark meine Aufmerksamkeit erregte.
Verdammt, das ist mein Bild! Wie konnte es nur hierher gelangen?
Ach ja ... Jetzt muss ich über 600 Jahre zurückblicken ...
Lord Seraphim hatte mir mal wieder eine demütigende Aufgabe gegeben. Immer wieder bekam ich solche Arbeiten aufgetragen. Der Lord hoffte, mich irgendwann beim Scheitern zu ertappen, doch ich tat ihm diesen Gefallen nicht. Damals sollte ich die marode Stadtwache auf Vordermann bringen. Einigen der Gesetzeshütern wurde nachgesagt, dass sie die Hand hinhielten, um zur rechten Zeit wegzusehen. Ich räumte ordentlich auf und anschließend lief es besser als erwartet. So hatten wir gerade einen verrückten Serienmörder gefangen und das war ein Grund zum Feiern. Meine Frau Mala hatte es nie besonders gern, wenn ich einen über den Durst trank. Im Grunde bemühte ich mich, nicht zu sehr über die Stränge zu schlagen. Eigentlich habe ich kein Alkoholproblem. Ich trinke, falle hin und bleibe liegen. - Kein Problem. Nun, manchmal blieb ich auch an den verrücktesten und nicht ganz so sauberen Plätzen liegen. Nun ja. An diesem Abend war ich froh, als ich nach dem Erwachen aus meinem Alkohol geschwängertem Koma, eine streunende Katze davon abhalten konnte, mein Gesicht aufzufressen. Besudelt, vom Liegen im Rinnstein, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Als Mala mein desolates Äußeres sah, wurde sie fuchsteufelswild. Sie trieb mich in die Badewanne und schrubbte mich so erbarmungslos, als wäre ich ein Stück Wäsche. Dabei beschimpfte sie mich aufs Heftigste. Diese rüde Behandlung ließ ich mir nicht gefallen und drohte ihr mit der Scheidung. Es gab ein Hin und Her, böse Worte wurden gewechselt und schließlich packte ich meine Siebensachen und flüchtete aus dem Haus. Danach bat ich meinen Dienstherren um meine lang verdiente und sofortige Entlassung. Mein Lord und Herr war überaus erfreut mich loswerden zu können und schickte mich in den Ruhestand. Da ich mit der Stadt und ihren Bewohnern nichts mehr zu tun haben wollte, schnappte ich mir mein großes Pferd Gustav und zog leicht erzürnt in Richtung unseres Landsitzes. Früher war es nur ein kleines Haus am Fluss, gleich in der Nähe der Vampir-Festung. Doch als unsere Familie immer mehr Mitglieder bekam, riss ich das alte, feuchte Gemäuer mit meinen Söhnen nieder und wir erbauten einen kleinen Landsitz für die Sommerfrische. Das sollte nun meine neue Bleibe werden; Mala und den beiden kleinen Töchtern, Jule und Mara, wollte ich unsere Stadtvilla überlassen.
In meinem Marschgepäck befand sich auch dieses Gemälde.
Es heißt "Die Seeschlacht" und der Künstler, der dieses blutige Inferno erschuf, war niemand anderes als mein Sohn Wally. Normalweise gebe ich für Kunst kein Geld aus, es sei denn, es handelt sich dabei um kostbare Möbel, Schmuck oder Orientalische Teppiche. Da dieses Bild in einer Vernissage von Wally, für einen guten Zweck zum Verkauf stand, gönnte ich mir ein wenig Sentimentalität und kaufte es. Darauf waren mutige Wikinger zu sehen, die ein Handelsschiff enterten und aus der Besatzung Hackfleisch machten. Eben ganz nach meinem Geschmack. Beim Betrachten dieses Gemäldes, überkam mich jedes mal die Lust, sofort England zu überfallen. Es gibt nur wenige Dinge im Leben, in meinem Falle Unleben, an denen ich wirklich hing. Da waren zum einen Mala und die Kinder und natürlich meine Enkel. Zum anderen ein paar Gegenstände, die mir ans Herz gewachsen waren, weil sie etwas mit meiner Vergangenheit zu tun hatten, als ich selbst noch ein menschliches Wesen war. Zum Beispiel fand ich, als ich die zerstörten Ruinen meiner Heimatsiedlung, auf der Suche nach Überresten meiner Familie durchstöberte, das Glasauge meines Vaters. Dieses behielt ich, als Andenken an ihn, damit ich ihn im Gedanken immer wieder ehren und für ihn zu Odin beten konnte. Und natürlich gehörten auch Kuriositäten zu meinen Sachen, die mir mein Freund Cedric mitgebracht hatte. Eine uralte verbeulte Münze und ein noch älterer, verbeulter Helm. Also gab es quasi nur vier materielle Dinge, die mir als Gegenstände wirklich etwas bedeuteten. Und nun musste ich dieses Bild hier sehen, das ich längst verloren glaubte.
Nachdem ich Mala und die Kinder so entrüstet und in meiner Ehre gekränkt verlassen hatte, deponierte ich in unserem Sommerhaus meine wenigen Habseligkeiten. Zwar versuchte ich Zerstreuung von meiner mir angetanen Schmach zu finden, doch bei einem Besuch im Bordell überfiel mich die Reue. Sofort machte ich mich auf den Weg, damit ich Mala um Verzeihung bitten konnte. Denn ohne sie und die Kinder empfand ich mein Leben nur als öde und leer.
An diesem Tag hatten die Zwillinge Geburtstag und ich empfand es als gute Idee, gerade an diesem denkwürdigen Datum meine Abbitte zu leisten. Mir gelang es sogar ungesehen in die Stadt einzudringen; nachdem ich mein Dienstsiegel abgegeben hatte, war mir der Zutritt vom Lord verboten worden. Dummerweise wusste ich nicht, was mich vor dem Haus meines Sohnes Gungnir erwartete.
Der Lord war dafür bekannt, dass er sich immer wieder neue Mittel und Wege erdachte, um die Vampire endgültig auszurotten. Also züchteten er und seine Handlanger eine Monstrosität, wie sie vorher noch nie ein Wesen zu Gesicht bekommen hat. Diese Abnormität war eine Kreuzung aus Vampir und Dämon und hörte auf den vielsagenden Namen "Typhoon". Aber jetzt kommt´s: Seine Lordschaft hatte zu hoch gepokert und verloren, denn das Vieh dachte nicht im Traum daran, auf irgendetwas zu hören, schon gar nicht auf seinen Namen, wenn man ihn rief. Typhoon geriet außer Kontrolle und zog wild mordend durch die Stadt. Leider fühlte Typhie sich von Gungnirs Blut angezogen. Denn diese kranken Köpfe hatten ausgerechnet sein Blut zur Erschaffung dieses verabscheuungswürdigen Monsters missbraucht. Nun drückte es sich lauernd vor Gungnirs Villa herum und ich taumelte unversehens in diese dumme Situation.
Da ich meine Lieben von diesem grauenvollen Wesen bedroht sah, ging ich sofort zum Angriff über. Dabei gingen sowohl der Springbrunnen, als auch die Grundstücksmauer zu Bruch. Dieses Unwesen spie mir seinen giftigen Speichel ins Gesicht, woraufhin ich erblindete. Aber mein Gehör ist enorm empfindlich und so war es mir möglich, dem räudigen Bastard doch noch das Fell über die Ohren zu ziehen. Diese Aktion katapultierte mich auf sofortigem Wege in Malas Herz zurück. Der Lord war allerdings weniger angetan darüber, dass ich ihm seine Geheimwaffe zu Klump gehauen hatte. Deshalb ließ er mich in der gesamten Stadt und Umgebung suchen.
Nun, zum Glück war die Verwandtschaft von Gungnirs Frau vor Ort, um seinen Geburtstag zu feiern. Cornelius behandelte meine Augenverletzung und so schifften Cedric und ich uns aus der Stadt aus, um zur Insel Høy Øya gebracht zu werden, wo ich die Ruhe fand meine Verletzungen auszukurieren. Ich blieb auf der Insel und Mala und die Mädchen kamen später nach. Dort führten wir ein mehr oder weniger beschauliches Leben. Mein Pferd Gustav wurde vom kleinwüchsigen Benito mit dessen Kühen gemeinsam auf den Wiesen des Land-Anwesens versorgt. Und so vergaß ich völlig, dass in meinem Sommerhaus noch meine Heiligtümer deponiert waren.
Und dann kam der Tag, an dem der Lord mich rief. Dieser verhängnisvolle Tag, der mein bisheriges (Un)Leben völlig verändern sollte und mich der Welt von damals entriss. - Um mich ins Hier und Jetzt zu befördern. Ich vermisse Mala und die Mädchen jeden Tag aufs Schmerzlichste und ich weiß nicht, ob ich jemals über ihren Verlust hinwegkomme. All die Affären und Frauen können das Loch in meinem Herzen niemals stopfen. Mala war einzigartig, ihre Haar duftete so wunderbar ...
Diese bittere Erinnerung war meiner Migräne überhaupt nicht zuträglich und mir wurde richtiggehend übel. Mein Sehen war nur noch verschwommen und durch meine Optik zog sich ein dicker, grell-grüner Streifen. Und der Boden bewegte sich. Das Nächste, was ich wieder wahrnahm, war etwas Warmes, Feuchtes. Brutus schlabberte mir durchs Gesicht.
… Puh, da bin ich aber froh, denn ich dachte schon, es wäre Barbiel ...
Angewidert wischte ich mir übers Gesicht.
»Ragnor? Was ist mit dir?«, fragte der Engel leicht entsetzt.
Erschrocken musste ich feststellen, dass ich auf dem Boden lag und mein Kollege mich aus besorgten Augen ansah. Barbiel, nicht Brutus, comprende?
»Keine Ahnung, was mache ich hier auf dem Boden?«, fragte ich leicht verwundert.
»Gute Frage, das Gleiche habe ich mich auch gefragt. Hier ist dein Kaffee, trink, der wird dich wieder auf die Beine bringen.«
Vorsichtig setzte ich mich auf, und Barbiel reichte mir den Becher mit dem Kaffee.
»Sag mal Engelchen, warum sind da zwei Plastiklöffel in meinem Becher?«, fragte ich überrascht und versuchte mich davon zu überzeugen, nicht doppelt zu sehen.
»Du sagtest, du trinkst deinen Kaffee mit Zucker und zwei Löffeln«, meinte er.
Also ehrlich, Barbiel ist manchmal wirklich etwas schräg drauf, oder nimmt er etwa alles für bare Münze?
»Barbiel, versprich mir, dass du niemals in Erwägung ziehst, irgendwann einmal Kinder zu zeugen. Anderenfalls müsste ich mir ernsthafte Sorgen über die Zukunft machen«, schnappte ich etwas ungehalten. Er hatte mich heute schon einmal im Fremdschämen unterrichtet.
»Du weißt, dass ich deine gesundheitliche Krise der Zentrale melden muss?«
Er zückte sein Handy und wollte wählen. Schnell packte ich ihn am Hosenbein. »Barbiel, tu das nicht. Mir geht es gut. Wenn du meldest, dass ich einen Klappmann gemacht habe, werde ich von diesem Fall abgezogen. Das will ich aber nicht. Also pack dein blödes Handy wieder ein, sonst breche ich dir die Beine und du wirst ebenfalls von diesem Fall abgezogen!«
Diese Perspektive gefiel meinem Kollegen nicht besonders gut. Resigniert steckte er sein Handy weg. »Okay, aber versprich mir, dass sobald wir wieder im Stützpunkt sind, du dich gründlich untersuchen lässt. Am besten, sie machen ein MRT von deinem Kopf. Amandas Gerät ist groß genug, einen Oger durch die Röhre zu schicken.«
Bei diesem Satz kam mir Amanda in den Sinn, mein Gerät und die Sphären, die wir damit erreichen könnten. Gemeinsam mit Amanda würde ich gerne zu dem Tier mit den zwei Rücken mutieren, frei nach Shakespeare ausgedrückt.
…Hey! Was ist? Ich war eben noch ein wenig durcheinander ...
Wohl oder übel musste ich Barbiel dieses Versprechen geben.
… Okay, man kann sich ja mal versprechen, oder?...
Mittlerweile begannen sich die ersten Besucher im Museum zu zeigen. Zur Stärkung rührte ich mir eine Trockenbluttablette ins schwarze Getränk. Mein Schutzengel half mir wieder auf die Beine, platzierte mich auf eine Bank und drückte mir eine Zeitung in die Hand. »Hier, ich habe dir etwas zum Lesen mitgebracht, hilft gegen die Langeweile.«
Normalerweise gerate ich nicht so leicht aus dem Häuschen, doch die Schlagzeile, die auf der Zeitung prangte, ließ mich laut auflachen. Was dazu führte, dass mich einige Museumsbesucher kritisch musterten. Unser Kommissaren-Duo war wirklich vorteilhaft abgelichtet worden. Und dann noch die Frage mit den Außerirdischen! Jedes Kind weiß: Dafür sind die Kerle mit dem Blitzdings zuständig.
Außer dem seltsamen Duo ereignete sich so gut wie gar nichts Aufregendes während unserer Schicht. Wir zogen unsere Runden so, dass einer von uns in dem verdächtigen Raum zurückblieb, um dort Wache zu halten. Barbiel ging mehrmals mit dem Hund raus und ich musste mich immer wieder mit Kaffee wach halten. Für mich ist so ein Museum einfach nur langweilig. Einmal erschrak Barbiel, weil ein Kind rief, es sähe dort einen Engel. Er fühlte sich auf unschöne Weise ertappt. Doch er atmete wieder auf, als das Kind auf ein Bild zeigte, auf dem ein Engel abgebildet war.
Erwartungsfroh trielte ich dem langersehnten Feierabend entgegen und hoffte, dass Dracon und Silent Blobb bald eintrafen. Offiziell hat der Louvre bis 21 Uhr geöffnet. Die beiden wollten, nachdem die letzten Besucher gegangen waren, hier bei uns eintreffen. Silent Blobb ist wirklich kein schöner Anblick und man weiß nicht, wie die Leute auf einen riesigen Schleimbolzen reagieren, wenn er ihnen zu Gesicht käme. Und noch etwas beschäftigte meine Gedanken und zwar so, dass sich mein Kopf schon fast anfühlte, als wäre er ein Karussell. Wie bekam ich mein Eigentum zurück? War es möglich das Bild unbemerkt zu entfernen? Wohl kaum. Diese ganze Sache wurmte mich enorm.
Über mir ertönte eine Durchsage, oder eher mehrere in verschiedenen Sprachen. Die Stimme forderte die Besucher auf, sich langsam zum Ausgang zu begeben. Diese Worte waren Balsam für meine Seele. Barbiel und Brutus machten einen Kehraus und begleiteten sozusagen das Publikum nach draußen. Endlich neigte sich der lange Tag dem Ende entgegen. Meine Schuhsohlen hatten heute bei diesen vielen, gelaufenen Kilometern arg an Material eingebüßt. Wenn der Belphegor kommen sollte, dann bitte nach uns, wenn Dracon und Blobb ihre Schicht antraten, denn ich hatte einfach keine Meinung mehr. Auch würde ich heute Abend nicht mehr wie geplant die Sau raus lassen, sondern mich mit meinem alten Freund Jim Beam treffen und in meinem Hotelzimmer den Pornokanal austesten. Vielleicht würde ich mir noch den Knauf polieren und anschließend die Augen zumachen. Unser Engel wollte heute in die Spätvorstellung irgend eines Balletts und war für die Piste nicht zu haben. Zwar hatte er mich gefragt, ob ich mitkommen wolle, doch ich kann halb-abgemagerten Hupfdohlen mit Hühnerbrust, die auf Zehenspitzen tanzen, nichts abgewinnen.
Leider kommt es immer anders als man denkt. Gerade als ich sehnsüchtig aus dem Fenster Ausschau nach meiner Ablösung hielt, bemerkte ich einen dunklen Schemen. Vorsichtig öffnete ich mein Jackett, um an meine Desert Eagle im Schulterholster zu gelangen. Und dann ging alles ganz schnell. Ich zog die Waffe, zielte und schoss. Doch ich traf nicht, so wie ich erwartete. Das feine Silbernetz verfehlte den anvisierten Dämonen, zischte an ihm vorbei, weil er blitzartig einen paar Schritte zur Seite machte und sich drunter hinweg bückte. Der Belphegor stieß ein schrilles Gelächter aus und teilte sich. Ja, genau. Wie durch eine wundersame Zellteilung wurden aus ihm erst zwei, dann vier und anschließend acht seiner Sorte. Und alle stürmten auf mich zu. Was sollte ich machen? Solche Fragen fallen einem immer erst ein, wenn es zu spät ist. Also griff ich mir den Nächstbesten, zog ihm seinen dämlichen Schlapphut über die Augen und stieß ihm mein versilbertes Messer in die Rippen. Er flammte auf und verschwand. Dem nächsten Angreifer setzte ich sofort in Flammen. Gerade als ich lustig vor mich hin metzelte, fiel mich einer von den Duplikaten an und versetzte mir einen derart heftigen Stoß, dass es mich quer durch den Raum beförderte. Krachend landete ich in der Vitrine mit dem verstaubten Wolf. Leicht benommen schüttelte ich Glasscherben von mir und ging erneut zum Angriff über. Meine Pistole hatte ich während des Kampfes irgendwo verloren. Das ist nichts Neues, ich verliere ständig irgendwelche Sachen. Aber ich hatte noch immer das Messer und so mähte ich mich durch die übrigen Angreifer. Zwischendurch rief ich nach Barbiel, doch statt seiner Stimme, empfing ich nur ein knisterndes Rauschen in meinem Ohrhörer. Ein Trugbild nach dem anderen fiel meiner Verteidigung und raffinierten Ausfällen zum Opfer, ich parierte, stach und stieß, bis nur noch einer übrig blieb. Wenn es mir gelingen sollte ihn auszuschalten, wäre der Belphegor erledigt.
Gerade als ich mich auf ihn stürzen wollte, warf er einen riesigen Glaskasten nach mir, in dem sich eine Statue von Odin befand. Zwar versuchte ich noch sie mit Telekinese abzubremsen, doch es war schon zu spät und meine Gottheit landete samt Glasvitrine auf mir und nagelte mich mit seinem Gewicht am Boden fest. Glas ging zu Bruch und ich wurde prasselnd damit bedeckt. Das Schlimmste war, dass der Belphegor gellend lachte und sich vom Acker machte. Wohin, konnte ich nicht sehen, denn Odins kräftige Statur behinderte mein Sichtfeld. So sehr ich meine Götter auch verehre, ich habe es nicht gern mit ihnen beworfen zu werden. Ächzend versuchte ich die steinerne Statue von mir herunter zu wälzen. Es knirschte und ich hörte das Heulen der Alarmanlage. Das war ja wieder ganz toll. Den lieben langen Tag ging mir Barbiel auf den Senkel und wenn man ihn mal brauchte, war er nirgends zu sehen.
Hier der Punktestand: Belphegor: 1, Ragnor : 0 – Der alte Loser! Doch es näherten sich Schritte und auch ein Kläffen wurde hörbar.
»Du meine Güte! Was ist denn hier passiert?«, wunderte sich Barbiel.
Ich dagegen spuckte einen Happen Glasscherben aus. »Der blöde Belphegor war gerade eben in achtfacher Ausführung hier und hat bei mir mächtig Dampf ablassen. Und ich sage dir, wenn seine Lache Kinder kriegt, nehme ich ihm garantiert keine davon ab! Hier bin ich, da wo die Füße wackeln! Unter der Steinstatur!«, stöhnte ich hervor. Erwartungsvoll wippte ich mit meinen Füßen, denn mehr konnte ich im Moment, beim besten Willen nicht bewegen.
»Der Belphegor? Wieso liegst du eigentlich immer auf dem Boden herum, wenn ich mal den Raum verlasse?«, fragte Barbiel im belustigten Ton.
»Hey, wir haben angeblich Urlaub, deshalb hänge ich hier eben ein wenig herum! Willst du mir jetzt helfen, du Gehirnakrobat, oder lieber noch ein bisschen Schadenfreude versprühen?!«, giftete ich etwas genervt.
Das Klicken einer Kameralinse ertönte.
»Verdammt, was machst du da?«, fauchte ich unter meinem Stein hervor.
»Andenken - äh, Beweisaufnahmen, alles streng nach Vorschrift!«, erwiderte er hüstelnd.
»Wehe dir, wenn ich hinterher feststellen muss, dass diese Fotos im Umlauf sind! Würdest du mir jetzt bei dieser erdrückenden Beweislast ein wenig zur Hand gehen? Ich liege hier unter einer Tonne Granit!«, stöhnte ich ermattet.
»Basalt, es ist Basalt!«, berichtigte mich der Klugscheißer.
»Mir doch egal! Bin ich vielleicht ein Geograph? Oder was?«, ätzte ich zurück.
»Geologe! Es muss Geologe heißen!«, kam prompt die Antwort.
»Halt die Klappe, oder ich werde dich als mein persönliches Frühstückchen betrachten!«, keuchte ich resigniert. Langsam wurde diese aufopfernde Zuneigung meines Gottes ein wenig zu viel für mich. Doch statt Erleichterung zu finden, ertönte eine Stimme mit stark französischem Akzent: »Mon Dieu! Ragnor muss uns Franzosen wirklisch ´assen, wenn er den Louvre in Trümmer zerlegt! Special Agent Dracon Deveraux und Special Agent Silent Blobb, melden sisch zum Dienst.«
Dracon legte seinen Rucksack ab und Silent Blobb entschlüpfte daraus und blubberte leicht belustigt, als er meine Misere sah.
Dracon kicherte. »´ast rescht, Blobb, er ist ganz schön stoned! ´at noch jemand einen Witz, so lange er sich seiner ´aut nicht erwe´ren kann?«
… Na toll, mir bleibt aber auch nichts erspart. Wenigstens war die Wachablösung da ...
Zum Glück ließen sich Dracon, der Engel und Silent Blobb erweichen und halfen mir dabei, den Göttervater Odin von mir herunter zu heben. Dabei achteten sie darauf, nicht unseren Brutus zu zerquetschen. Der jedoch saß beim verstaubten Wolf herum und reinigte ihm liebevoll das Fell. Als ich endlich wieder frei war, versuchte ich wankend auf die Beine zu kommen, was sich als gar nicht so einfach gestaltete. Wahrscheinlich hatte ich wieder ein paar Rippen gebrochen, denn es stach ganz fürchterlich. Von oben bis unten war ich von Glassplittern zerschnitten. Mein guter Anzug hatte nur noch den Wert einer Grubendecke und war ein Fall für die Altkleidersammlung. Vorsichtig tastete ich meine Taschen ab und suchte meine Bluttabletten. Ich schüttete mir die letzten in die Hand und schluckte sie gierig hinunter. Nach und nach verheilten meine Wunden und auch das Seitenstechen verschwand wieder. Blobb warf mir einen mitleidigen Blick zu und Dracon fragte ganz scheinheilig: » ´ast du viel abbekommen?«
»Wieso? Hat jemand eine Runde ausgegeben?«, frotzelte ich zurück. Nun, nachdem diese schwere Last von mir genommen worden war, fühlte ich mich leicht wie eine Feder und konnte es wieder genießen, ein paar Witze zu reißen. Ich nahm Dracon etwas genauer in Augenschein, denn er zeigte alles andere als seine gewohnte Optik.
»Wie siehst du eigentlich aus? Wenn ich nicht deine Aura sehen könnte, würde ich mich glatt täuschen lassen. Wo ist deine Lederhaut geblieben?«, fragte ich erstaunt.
Dracon rollte seinen Hautärmel herunter. »Tolle Mimikry, oder? Ein fantastisches Material, neuste Teschnik. Atmungsaktiv, wasserabweisend und noch nischt auf dem Mark zu ´aben. Und mein Schwanz ist aufgerollt in diesem Rucksack.« Er zeigte auf seinen Rücken.
Da wir Sommer hatten, blieb uns allen nichts anderes übrig, als Haut zu zeigen. Und da lag Dracons Problem. Da er ein Halbdrache ist, verfügt er über eine dunkle, grünlich-lederne Haut. Und zu unserem Job gehört nun einmal, uns so gut wie möglich zu tarnen. Gestern kam ein Mitarbeiter des Rings zu Besuch und weihte Dracon in die neusten Camouflage-Techniken ein. Sogar sein relativ reptilienartiges Gesicht sah menschlich aus. Die Nase, das Kinn und auch seine Wangen waren mit diesem neuartigen Material aufgepolstert worden. So konnte seine ledrige Haut mit diesem Zeug bedeckt werden, und er es sich überziehen, wie einen Handschuh, Strumpf oder eine Maske. Faszinierend, diese neumodische Forschung.
Der Museumswächter kam angerannt. Sofort schnauzte ich ihn an und ging in die Offensive. »Stell die Scheiß-Alarmanlage ab und verlasse sofort den Tatort! Verschwinde Mann!«, keifte ich ihn etwas ungehalten an. Der Kerl drehte sofort auf dem Absatz um, warf entsetzt die Hände in die Luft und verschwand auf dem gleichen Wege, den er gekommen war. Wenig später verstummte die Sirene und es war wieder ruhig. Alles in allem war ich absolut bedient.
»Du meine Güte, wenn du eine Frau wärst, würde ich glatt vermuten, dass du gerade menstruierst!«, bemerkte Barbiel grinsend. Mein wütend-funkelnder Blick durchbohrte ihn beinahe bei lebendigem Leib und er wich einen Schritt zurück.
»Pass du mal lieber auf Brutus auf, wenn er weiter an dem Vieh dort schleckt, bekommt er noch eine Stauballergie!« Genervt ging ich auf Brutus zu und wollte ihn von dem ausgestopften Wolf wegziehen, doch irgendetwas ließ mich innehalten.
»Cedric? Bist du das?«, fragte ich in den aufgerissenen Schlund hinein.
Dracon schenkte Blobb einen vielsagenden Blick und machte eine kreisende Bewegung mit seinem Zeigefinger in Richtung Schläfe.
»Ragnor ist das ein Wolf, wie man eindeutig sieht. Ob er allerdings Cedric heißt, wer weiß?«, meinte Barbiel bedeutungsschwanger.
Kurz überlegte ich, ob ich Bärbel den Mund mit einer meiner Socken stopfen sollte, entschied mich aber lediglich für ein abwertendes Winken und Grunzen. Ja, das war eindeutig Cedric, allerdings in der Form eines Wolfs. Das ist jetzt eine lange und komplizierte Geschichte, um das alles genaustens zu erklären, doch dieser kleine Lord im Wolfspelz war eindeutig mein einziger Freund und Kumpel Cedric. Hektisch arbeitete mein Hirn. Schnell wischte ich mit meiner Telekinese die Glasscherben davon, nahm dem Ausgetrockneten und legte ihn auf den Boden und machte mich daran, ihn mit meinen Händen zu bearbeiten.
»Ragnor? Was machst du da? Du weißt ´offentlisch, dass es sisch ´ier um ein Ausstellungsobjekt ´andelt?«, fragte Dracon mit einem Ton in der Stimme, den man sonst nur einem kleinen Kind angedeihen ließ.
»Schnauze! Das ist kein Objekt, sondern Schrott, und das hier ist Cedric, er ist ein Vampir und offensichtlich in großen Schwierigkeiten!«, entgegnete ich und bearbeitete den Ausgestopften weiter mit meinen Händen. Dracon zuckte mit den Schultern und beriet sich mit den anderen beiden.
»Könnt i´r mir einmal verraten, was er da macht? Etwa eine ´erzmassage?«
Blobb und Barbiel zuckten mit den Schultern, jedenfalls der Engel, Blobb zuckte mit etwas Schulterähnlichem.
Mir war es völlig egal, wenn ich dabei ein Ausstellungsstück zerstörte. Wir konnten schließlich behaupten, der Belphegor hätte den Wolf mitgenommen.
Endlich war das arme Tier nicht mehr ganz so steif. Doch wie sollte ich ihm neues Leben einflößen? Ohne lange zu überlegen, öffnete ich meine Pulsader und ließ mein Blut (Marke Starker Tobak) in das Maul des Wolfes tröpfeln. Gebannt wartete ich auf ein erstes Lebenszeichen.
Als mein Lebenssaft den Rachen des Wolfs hinunter lief, kehrte so etwas wie ein Schimmern in die vormals stumpfen Augen zurück. Das Tier streckte sich, knackte und wuchs - und schließlich lag ein nackter Junge vor uns. Dazu muss ich etwas erklären: Cedric war der Bruder meiner Ehefrau Mala. Nachdem der Lord keinen männlichen Thronerben vorweisen konnte, sondern nur eine Tochter, versuchte er noch einmal sein Glück mit der Begattung einer Frau. Dämonen und Menschen lassen sich nicht so leicht kreuzen, doch der Lord hatte Magier, die ihm halfen sein Vorhaben mit Erfolg zu krönen. Dann kam Cedric zur Welt. Wir kannten ihn in der Burg als äußerst verwöhnten Schnösel, dessen Hochmut nur noch von dem seiner Schwester getoppt wurde. Diese war wiederum angefressen, dass sie die Anwärterschaft auf den Thron verloren hatte. Als Cedric in einer anderen Stadt seine Bildung aufbessern sollte, verschwand er spurlos. Die Pferde kehrten ohne die Kutsche zurück, später fand man die ermordeten Leibwächter. Zweifelsohne war eine mörderische Tat vonstatten gegangen. Der Lord war untröstlich. Nur seine Tochter war seltsam gefasst und ruhig. Eines Tages tauchte Cedric wieder auf und schien völlig verändert. Statt seiner üblichen Arroganz, war er zutiefst verwirrt und sein Gedächtnis wie ausgelöscht. Außerdem war er einem seltsamen Infantilismus verfallen, und obendrein auch noch ein Vampir. Dieser junge Vampir wusste aber nicht, dass er einer war und so versuchte er immer wieder menschliche Speisen zu sich zu nehmen, was fatale Folgen hatte: Er bekam seinen Dämonenhunger. Ja, im wahrsten Sinne des Wortes. Was wohl darauf zurückzuführen ist, dass er eben das Produkt seinen dämonischen Vaters war. Cedric verwandelte sich in die Gestalt eines wilden Tieres und fraß alles, was sich ihm in den Weg stellte. Nur mich nicht. Wenn er mal wieder etwas futterte, was ihm nicht bekam und zu einem Vieh mutierte, schlug ich ihn einfach nieder, oder so heftig auf den Kopf, bis er wieder klar wurde. Überhaupt konnte er sich nie an seine Blackouts erinnern. Was aber nicht an meinen Schlägen lag, Ehrenwort! Für den Lord war dieser Zustand nicht tragbar, deshalb verbunkerte er seinen eigenen Sohn im tiefsten Verlies und ließ ihn dort, in der Hoffnung, ihn einfach zu vergessen. Damals war Cedric elf Jahre alt. Den Vampir, der ihm das angetan hat, haben wir nie ermitteln können. Dieser hatte nicht nur den Sohn des Lords in einen Vampir gewandelt, sondern auch gegen ein eisernes Vampir-Gesetz verstoßen, das besagt: Kein Vampir darf ein Kind in einen Vampir verwandeln. Die Signatur des Vampirs, der einen Menschen wandelt, ist eigentlich in dessen Blut zu lesen. Nur wurde sie mit Magie oder anderen Mitteln aus dem Blut von Cedric entfernt, sodass er als Täter nicht entlarvt werden konnte. Eine wirklich grausame Intrige. Lange fragte ich mich, ob vielleicht mein Schöpfer dahinter steckte. Bei einem recht unschönen Gespräch enthüllte er mir, die Gesetze zu achten und nicht dagegen zu verstoßen, egal aus welchem Grund.
Cedric sah sich verwundert um und erkannte mich. »Ragnor? Oh, das ist also Walhalla! Und hier gibt es so viele bunte Bilder! Du bist doch tot, also ist das hier Walhalla! Schön, dass wir wieder zusammen sind! Ragnor, wie bin ich hier her gekommen?«, fragte der Nackte und umarmte mich.
»Hey, Cedric, hier ist nicht Walhalla, wir sind im Louvre. Ist dir kalt? Hier nimm meine Jacke!«
So gab ich Cedric mein zerfleddertes Jackett, damit er seine Blöße bedecken konnte.
»Weißt du was? Ich habe echt Hunger!«, meinte der frisch Erwachte und luhrte in die nächste Vitrine, die einen ausgestopften Polarfuchs beherbergte. Ehe ich mich versah, bearbeitete er mit seinen Klauen die Glasscheibe, und als die nicht nachgeben wollte, holte er mit der Faust aus und war kurz davor, sie zu zerschlagen. Mir wurde es zu viel. Also bekam er kurzerhand eine gepfefferte Kopfnuss und wurde ins Reich der Träume befördert, ehe er hier zum wilden Bären, oder Yeti aushonkte.
Meine Ringmitarbeiter wirkten eher unterirdisch begeistert. Blobb hatte sich hinter Dracon postiert und Barbiel machte ein leicht mitleidiges Gesicht. Doch das war mir egal. Cedric war wieder da!
»Autsch!«, meinte Barbiel. »Tut ihm das nicht weh?«
»Ach wo, das kann er ab. Besser ich lege ihn schlafen, als wenn er hier Unheil anrichtet.«
Vorsichtig hob ich den bewusstlosen Jungen vom Boden und legte ihn mir sachte wie ein Baby über die Schulter.
Zuvor hatte ich mein Handy aus der Tasche genommen und wählte die Kurzwahl von Sal, unserer aller Chef, außer dem von Cedric natürlich. Nachdem es zweimal klingelte, ertönte seine Stimme. Aufgeregt berichtete ich.
»Sal, spring in den Flieger, du glaubst nicht, wen ich gefunden habe! Cedric, er ist hier im Louvre!«
Das konnte er kaum glauben. Er versprach mir, sofort los zu jetten und Amanda würde er ebenfalls mitbringen! So tätschelte ich beruhigend Cedrics Schulter. Er war nun einmal ein sehr sensibles Wesen und schnell beunruhigt. Im Gegensatz zu mir, ich neige bei Verwirrung eher zu Pöbeleien. Nun war er weggetreten, was mir nicht gerade unpassend kam und so drehte ich mich zum Team: »Folgendes: Dracon, du konfiszierst die Videobänder und rufst die Cleaner in der Filiale an. Schildere ihnen die Situation. Sie werden dieses Chaos wieder richten. Wie bist du hier her gekommen? Mit dem Motorrad?«
»Mit dem Skateboard. Louvre bedeutet: Lange Wege, n'est-il pas?«, grinste er.
Wie recht er doch hatte, meine qualmenden Socken konnten das nur bejahen.
»Blobb, du hältst die Augen offen und wenn ich mit Barbiel den Raum verlassen habe, verriegelst du die Tür hinter uns. Alles klar?«
Blobb blubberte und nickte mit irgendetwas, das ein Kopf sein konnte. Bevor wir den Ausstellungsraum verließen, musterte ich erst einmal unsere Umgebung. Keine außergewöhnlichen Vorkommnisse. Schnell bewegten wir uns zum Wagen, öffneten die Türen und ich legte Cedric vorsichtig auf die Rückbank. Dann fuhren wir los. Mein Beifahrer streichelte Brutus und warf mir immer noch diesen fragenden Blick zu.
»Was glotzt du so blöde?«, fragte ich ihn schroff.
»Ich hätte niemals gedacht, du könntest so etwas wie einen Freund haben. Aber er muss wirklich dein Freund sein, sonst hättest du ihm sämtliche Gräten gebrochen, als er dich so umarmte«, grinste der Engel. Meine Reaktion darauf war ein kurzer, vernichtender Blick. Doch Barbarella fuhr fort, mich mit seinem Gequassel zu nerven. »Kennt ihr euch schon lange? Wenn ich überlege, dass du das letzte Mal vor über sechs Jahrhunderten aktiv warst, ist er folglich jemand aus deiner früheren Zeit.«
Natürlich hatte er recht, Cedric ist mein Schwager und Freund. Der Halbruder meiner Frau, aber das musste der Engel nicht erfahren. Außer Sal, Simon, Delia, Amanda und mein Therapeut, Dr. Dr. Gütiger, wusste niemand etwas über mein Privatleben vor dem Tag, als sich für mich alles veränderte. Aber wenn ich nichts über Cedric sagen würde, gäbe Babs nie Ruhe.
»Es ist sehr lange her, damals arbeitete ich noch für den Lord. Dieser Bursche ...«, ich zeigte auf den Rücksitz, »saß bei mir im Kerker. Die Michaeler hatten ihn eingekerkert. Der Kerker ist normalerweise ein Ort, an dem nichts außer Schreien und Stöhnen ertönt. Aber dieser Junge machte Musik, und sang fröhlich drauf los. Dadurch fühlte ich mich echt genervt und brüllte ihn an. Aber er machte so ein Theater, dass ich ihm eins aufs Maul schlug. Doch ich besann mich. Ich weiß auch nicht, irgendwie tat er mir leid. Er ist doch ein unschuldiges Kind.«
Wieder warf ich einen Blick, in den Rückspiegel, auf den besinnungslosen Cedric. »Bei seiner Wandlung zum Vampir muss mächtig was schief gegangen sein, denn er konnte sich überhaupt nicht mehr an sein vorheriges Leben erinnern. Das habe ich schon öfter erlebt, dass Vampire überhaupt keine Erinnerung an ihr menschliches Leben hatten. Und der kleine Kerl da, beschwerte sich, dass ihn die Michaeler ungerecht behandelten. Erst später klärten wir ihn auf, dass Cedric, so ist sein Name, der Sohn meines Dienstherren war. Allerdings entsprach er nicht seinen Anforderungen und so wurde vertuscht, dass der Lord überhaupt einen Sohn besaß.«
»Das ist wirklich traurig,«, meinte Barbiel mitfühlend. »Er scheint ein wirklich netter Kerl zu sein.« Nicken meinerseits.
Endlich erreichten wir das Hotel. Zum Glück hatten wir einen reservierten Parkplatz. Schnell stieg ich aus und legte mir Cedric über die Schulter. Barbiel folgte mir wie ein Schatten und warf unserem Bewusstlosen immer wieder einen besorgten Blick zu. Der Kerl an der Rezeption, warf uns eher einen verwunderten zu, als wir den Fahrstuhl betraten. Auf unserer Etage nahm ich Abschied von Barbiel und er übergab mir den Hund. »Hier, passe gut auf Brutus auf. Er war schon draußen. Leider kann ich ihn nicht mitnehmen, also musst du in den sauren Apfel beißen und ihn mit auf dein Zimmer nehmen. Wenn ich von der Aufführung zurück bin, hole ich ihn wieder ab. Bis dann.«
Auf den Boden abgesetzt, folgte mir Brutus auf den Fuß, nachdem er Barbiel einen seiner vorwurfsvollen Blicke zuwarf. Vorsichtig legte ich Cedric auf meinem Bett ab und überlegte mir erst einmal, wie ich vorgehen sollte. Zuerst zog ich ihm mein Jackett aus und hüllte ihn in meine viel zu große Kleidung; krempelte die zu langen Sweatshirt-Ärmel auf und rollte die Hosenbeine der Jogginghose auf Beinlänge. Als das erledigt war, deckte ich ihn mit einer leichten Decke zu und versuchte es ihm so bequem wie möglich zu machen. Das Kaugummi aus meiner Jackentasche legte ich auf dem Nachtschrank ab. Da Cedric mir im Moment wunschlos glücklich erschien und ich noch etwas Zeit brauchte, ließ ich ihn erst einmal so liegen. Auch ich zog mir meine zerfledderte Kleidung aus und gönnte mir eine warme Dusche. Der vom Belphegor geworfene Odin hatte ganze Arbeit geleistet, indem er mir jeden Muskel gequetscht hatte, den ich besaß. Ich sehnte mich nach dem Spa Valmont im Hause, wo ich mir eine ordentliche Rückenmassage verpassen lassen könnte. Aber das war natürlich nicht möglich. Erstens war es schon zu spät und zweitens, konnte ich Cedric nicht so herumliegen lassen. Dann eben nur die Dusche und Rasur. Nachdem das erledigt war, warf ich mich ebenfalls in leichte Kleidung. Als ich aus der Dusche kam, hatte sich Brutus neben Cedric eingerollt und blickte mich streng an. Ich hasse es, wenn Hunde auf Betten liegen, die eigentlich nicht ihre sind. Doch Brutus schien seinen Platz unter allen Umständen verteidigen zu wollen; so ließ ich ihn eben Cedric bewachen. Grummelnd zog ich die Vorhänge zu und ging zum Kühlschrank und wärmte mehrere Blutpacks auf. Eins genehmigte ich mir selbst, die anderen stellte ich auf dem Nachtschrank ab. Da Cedric unter akuter Blutarmut litt, flößte ich ihm vorsichtig den ersten Tetra-Pak ein. Unter Beaufsichtigung von Brutus, der mein Handeln scheinbar gut hieß.
Endlich erwachten wieder seine Lebensgeister, und er nuckelte wie ein kleines Baby die erste Blutkonserve leer.
»Oh, das war lecker! Und da ist ja auch ein kleiner Hund! Ich habe noch Hunger, darf ich mir aus dem Hund ein ganz kleines Stückchen heraus beißen?«, fragte er, während er mich mit seinen grünen Augen kindlich anblickte.
»Cedric! Den kannst du nicht essen, das ist unser Brutus! Hier nimm noch eine Portion Blut!«, schnell reichte ich ihm einen neuen Karton.
»Aber nicht aufessen!« Wenn er Hunger bekam, konnte alles Mögliche passieren, ja er könnte sogar Brutus in ein schön blutiges Steak verwandeln. Ich muss mich ernsthaft fragen, wieso er eigentlich alles essen wollte, selbst unseren Brutus, während ich mich schon nach dem Genuss einer einzigen Praline übergeben musste. Liegt wohl an seinem dämonischen Dämonenhunger ...
»Oh, na ja. Dann trinke ich eben noch ein bisschen Blut, bis ich satt bin«, gab er sich zufrieden und trank nicht mehr ganz so gierig die nächsten Packung. Nachdem diese geleert war, nahm er auch wieder seine Umwelt wahr.
Leicht verwirrt beschnüffelte er das Sweatshirt, die Bettdecke und anschließend auch noch die Matratze.
»Komisch, wieso riecht es hier nicht nach Stroh? Und wir sind auch nicht im Haus am Fluss. Wo bin ich? Und wie bin ich hier her gekommen? Ragnor, mir gefällt das nicht!«, bemerkte er verunsichert und mit Panik in den Augen.
Nun wurde es Zeit, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Hör zu, dies ist nicht das Haus am Fluss, auch nicht Walhalla, denn das gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Die Götter haben uns belogen. Dies ist ein Hotel, so etwas wie eine Herberge, nur ohne diese lästigen Läuse und Flöhe. Stroh gibt es nicht mehr in der Matratze, sondern Kunststoff. Egal, damit kannst du eh nichts anfangen. Ich bin auch nicht tot, sondern wieder untot. Und wie du hier her gekommen bist, das würde ich auch gern wissen.«
Mein Freund kratzte sich ausgiebig sein rotblondes Haar. »So weit ich mich erinnere, warst du tot und alle traurig. Wir verbuddelten dich unter einem großen Haufen schwerer Steine. Ich wollte dich ausgraben, aber Mala sagte, dass du da drinnen bleiben musst. Jule war traurig, Mara war traurig und der Große, ach ja! Gungnir – der war auch traurig. Aber uns wurde gesagt, dass du in Walhalla wärst und da wollte ich auch hin. Ging aber nicht, ich wollte ja nicht tot sein!«, berichtete mein Freund. Und ich war wirklich gerührt.
»Erzähl mal, was passiert ist. Lebtet ihr auf Høy Øya?«
Cedric guckte in die Luft, als ständen dort die Antworten auf meine Fragen geschrieben. »Ja, aber nicht lange. Die komischen Metallmänner kamen und wollten uns holen, doch Thorfried und die anderen konnte sie abwehren. Aber wir wollten die Dorfbewohner nicht in Gefahr bringen, deshalb flohen wir. Wieso lebst, äh untotest du wieder?«
Kurz nachdem Cedric gesprochen hatte, griff ich zum Telefon und orderte beim Zimmerservice, der zum Glück rund um die Uhr zur Verfügung stand, einmal die Getränkekarte rauf und runter. Da ich noch einen Bericht schreiben musste, würde ich mir meinen Drink erst einmal bei Seite stellen. Cedric hatte sehr viele Fragen an mich und ich auch an ihn. Wie konnte ich nur so dumm sein, anzunehmen dass Mala und die Kinder unbehelligt auf der Insel weiterleben konnten? Wach auf Ragnor, du alter Träumer! Aber den weiteren Verlauf hatte Cornelius mir nicht erzählen können, weil er noch vor Anwesenheit der Michaeler wieder von Høy Øya abgereist war. Deprimierend war es schon, dass Mala und die Kinder belästigt und vertrieben wurden, um nicht des Hochverrats angeklagt zu werden. Und mich hatten sie unter einem Steinhaufen verscharrt zurückgelassen. Dabei habe ich in unserer Hauptstadt-Villa eine schöne Familiengruft einrichten lassen. Aber das alles war leider durch meine schlecht überdachte Tat hinfällig geworden. Jetzt alles nacheinander. Wurde Zeit, dass ich Cedrics Fragen beantwortete.
»Ja, wie gesagt, es ist eine seltsame Geschichte. Zuletzt war ich in der Hauptstadt und hatte den Lord gelyncht, und aus Dank hatte mich wiederum der Pöbel gelyncht. An das Nächste, woran ich mich erinnern kann ist, dass ich in einem Raum erwachte, der sich völlig von allem unterschied, was ich davor kannte. Später stellte sich heraus, ich war über sechshundert Jahre tot gewesen. Doch sie holten mich wieder zurück. Nun arbeite ich für eine geheime Organisation, die sich Salomons Ring nennt und wir bekämpfen Dämonen, Monster und alles, was aus der Dämonendimension kommt. Ob du es glaubst oder nicht, aber weißt du wer hinter all dem steckt?«
Da ich nicht davon ausgehen konnte, dass Cedric auch nur einen blassen Schimmer hatte, verriet ich es ihm.
»Es ist Cornelius, er hatte sich damals, als im Reich der Teufel losbrach, mit seiner Tochter Diana in Sicherheit gebracht. Und jetzt hat er diese überaus humanitäre Stiftung gegründet. Er wird übrigens schon bald hier sein.«
Ein Klopfen an der Tür ertönte und ich wuchtete mich vom Bett hoch und öffnete. Der Servierer wurde abgewimmelt, indem ich ihm ein angemessenes Trinkgeld gab und den Blick ins Zimmer versperrte. So rollte ich den Wagen, der über und über mit Flaschen bedeckte war ans Bett. Schnell brachte ich meinen Kumpel Jim Beam in Sicherheit. Auch Brutus schien hungrig, so schnitt ich das Steak, das ich für ihn geordert hatte, in für Chihuahuas geeignete Stücke und stellte den Teller auf ein Handtuch, damit der kleine Hund nicht alles voll kleckerte. Als das erledigt war, fuhr ich fort.
»Ja, da ich für Cornelius arbeite, der übrigens jetzt Sal heißt, wurde ich hier mit Barbiel, Dracon und Silent Blobb nach Paris beordert. Du kannst Brutus vorsichtig streicheln, aber lasse ihn erst einmal fressen. Wir befinden uns in Frankreich. Du kennst doch sicherlich die Provence, Bretagne, die Normandie und Gallien. Jedenfalls das Gebiet, worum sich auch immer die Engländer stritten. Das alles gehört jetzt zur Republik Frankreich, nachdem sie keinen König und Kaiser mehr haben. Und das Gebäude, in dem du vorhin warst, das ist der Louvre. Und hier ist das Hotel Le Meurice, Paris. Ja, hier ist alles sehr sauber.«
Cedric sah mich an, wurde käseweiß und seine Unterlippe begann zu beben. Darauf brach er in Tränen aus.
»Oh Paris, hm. Du sagtest du hast meinen Vater ermordet? Wie konntest du das tun? Er war doch mein Vater!«
Als hätte ich es nicht schon geahnt, bewirkte meine etwas flapsige Aussage zu seinem Vater das, was ich befürchtet hatte. Cedric jaulte. Selbst Brutus ließ sich nicht davon abbringen, in das Geheul mit einzustimmen. Obwohl er Lord Seraphim überhaupt nicht kannte, dieser dumme Köter! Gut, dass meine Zimmernachbarn nicht da waren, sonst hätten sie vermutet, ich würde in meiner Freizeit Hunde vergewaltigen. Da ich nicht gut im Trösten bin, tätschelte ich Cedrics Schulter und sagte: »Na, na... «
… Was ist? Ich bin nun mal nicht gut im Trösten. Meine Kinder haben nie geweint. Die Zwillinge brachten eher andere zum Weinen, Jule war eine geborene Frohnatur und Mara hatte das säuerliche Wesen ihrer Mutter geerbt. Im Grunde bereue ich den begangenen Mord an Seraphim nicht. Ich dachte, damit tue ich etwas Gutes. Das einzige Übel, das daraus erwuchs war, dass meine gesamte Familie unter den Folgen meiner Tat leiden musste. Und nun heulte Cedric wie ein Schlosshund, wobei ich befürchtete, dass er sich gänzlich in blutige Tränen auflösen würde. Schnell reichte ich ihm mein Taschentuch.
»Ja, was soll ich sagen? Ach, lass es einfach raus. Dennoch solltest du nicht vergessen, dass er dich in den Kerker werfen ließ und anschließend noch ein paar Mal versuchte, dich umbringen zu lassen.« So tätschelte ich ihm abermals die Schulter.
Als er meine Worte verinnerlichte, stoppte er sofort die Aktion und überlegte, was mir wie eine halbe Ewigkeit vorkam.
»Oh, ja! Das stimmt. Er war ein ganz böser Mann und hat vielen weh getan! Wenn ich es mir so überlege, dann ist es gar nicht so schlimm.«
Zur Versöhnung reichte ich ihm eine Flasche Hochprozentiges. Im Gegensatz zu menschlichen Speisen, zeigte der Alkohol eine beruhigende Wirkung auf den Kleinen. Okay, jetzt werden wieder ein paar Moralapostel entsetzt auf brüllen, dass man Kindern keinen Alkohol geben darf. Aber im ernst. Cedric war über 600, damit eindeutig kein Kind mehr!
Nachdenklich schüttelte ich den Kopf, als er sich die hochgeistige Flüssigkeit wie Wasser in die Kehle goss.
»Kannst du dich noch an das letzte Datum erinnern? Und eine ganz wichtige Frage. Wohin sind Mala und die Kinder gefahren?«
Wenn ich wenigstens wüsste, wo ich die Gräber meiner Frau und der Mädchen finden konnte, wäre es für mich ein schwacher Trost sie umbetten zu lassen.
»Du warst noch nicht lange tot, höchstens ein paar Tage. Ich kann mich genau an eine Insel erinnern. Ja, wir wollten nach England fahren. Doch Rahan weinte und wollte nicht dort hin, weil es dort so hässliche Frauen gab. Gungnir sagte, die Engländer wären ohnehin alle schwul und dort gäbe es nichts mehr zu holen, weil die Wikinger schon alles abgeräumt hätten. Dann fuhren wir weiter, auf eine andere Insel. Da gab es nette Leute mit roten Haaren. Sie tanzten immer so im Kreis, zu Flöten- und Harfen-Musik. Dazu kam noch die wirklich lustige Sprache. Es war wie im Himmel, echt schön dort. Irrenland, oder so. Gungnir sagte, dass wir über Eisland und Grünland nach Vinland fahren wollten, da gäbe es einen Landstrich, der Manahatta hieß. Dort haben alle Menschen rote Haut und schwarze Haare. Sie seien friedlich und nur böse, wenn man ihnen Milch zu trinken gibt. Deshalb ließen wir auch die Kühe zuhause«, berichtete Cedric aufgeregt und nahm noch einen Schluck.
Vor meinem geistigen Auge erschien ein Schiff, beladen mit meinen Lieben, und ihren Haustieren, die wild diskutierten (aber nicht die Haustiere!) und Mala mich mit verkniffener Witwenmiene, bis in alle Ewigkeiten verfluchte. Rahan heulte, weil die Engländerinnen in seiner Fantasie alle gruselig aussahen. Das verstehe ich nicht, er liebte doch sonst Wesen mit Pferdegesichtern. Warum, in alles auf der Welt, wollten sie überhaupt zu den bekloppten Engländern? Dabei pflegten wir doch die besten Verbindungen in den Osten. König Hogarth, für den ich kurz tätig war, hatte sogar die Patenschaft für meine Tochter Jule-Thuja übernommen. Wieso schipperten sie auf dem Meer herum und wollten in ein Land, das einer Wikingerlegende entsprang? Wahrscheinlich war jedes Land am Ozean alarmiert, um nicht diese Arche des Grauens landen zu lassen. Offensichtlich war diese Seereise maßgeblich an der schnelleren Entwicklung der Seemine beteiligt. Aber da ich den Lord ermordet hatte, war durch mein Handeln Malas politischer Einfluss auf Null gesunken, und somit war sie für die Gegner des Lords uninteressant geworden.
Übrigens gab es Vinland wirklich, nur wurde es ein paar Jahre später Amerika genannt. Und Manahatta okkupierte der holländische Gesandte Pieter Stuyvesant und taufte es in New Amsterdam, das spätere New York, Manhattan. So wie es scheint, hat Gungnir zwischenzeitig sein Ziel erreicht, er residiert jetzt geschäftlich in der Fifth Avenue.
Noch etwas zu den Ureinwohnern: Viele Naturvölker vertragen keine Milch, haben eine Laktose-Intoleranz. Kein Wunder, dass die Natives einen Kriegstanz aufführten, wenn man ihnen den Kuh-Euter-Saft kredenzte. Sie dachten wohl, die Nordmänner um Leif Eriksson, wollten sie vergiften.
Und nun kam die alles entscheidende Frage.
»Cedric, wenn die anderen angeblich nach Vinland gefahren sind, wieso habe ich dich als vertrocknete Mumie aus diesem Ausstellungskasten gefischt?«, hakte ich nach.
Mein Schwager sah mich verwirrt an und kratzte sich ausgiebig am Kopf. »Oh, ja, genau. Ich fuhr gar nicht nach Vinland. Also, das war ganz seltsam. Jemand zog an mir, so war es. Vielleicht hatte ich Heimweh. Ich sagte den anderen Nordmännern, dass ich dringend weg müsste. Da bin ich mit ihnen zurückgefahren. Dann war da diese Stimme, und so ein Schatten. Ganz genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern, doch es war so dunkel und ich war schrecklich hungrig, nein durstig. Ragnor? Das macht mir irgendwie Angst. Wo ist Cornelius, und warum heißt er jetzt Sal? Ist das eine Abkürzung für Saline?«
Tröstend legte ich ihm meine Hand auf die Schulter.
»Ist schon gut, wir werden herausfinden, was mit dir geschah. Nein, nicht für Salino, sondern Salvatore, was ich ebenfalls für eine Geschmacksentgleisung halte.«
Wenn ich kein Auge auf Cedric werfen konnte, musste er immer Mist bauen. Dabei hatte er mich gerade um ein paar Tage überlebt. Trotz der Fülle der Informationen waren die verwertbaren Fakten nicht gerade ergiebig. Mir war es kaum möglich, meine Enttäuschung zu verbergen.
»Hör zu, während wir sechshundert Jahre weg vom Fenster waren, wandelte Cornelius weiter auf diesem schönen Erdenrund und hat viele Leben gelebt. Leider gibt es nicht mehr so viele Vampire, wie vor dem Tod des Lords. Und deshalb leben wir alle, mehr oder weniger, getarnt unter den Menschen. Deshalb trage ich auch Kontaktlinsen und keine Hörner mehr. Du musst deine Aura verbergen und dich so gut wie möglich anpassen. Cornelius heißt jetzt Sal Ormond, weil er ein anderes Leben führt, als er es vorher tat. Du darfst niemanden verraten was du, ich und Sal sind. Deshalb fehlen auch meine Hörner und durch das spezial-behandelte Blut, das wir trinken, bekommen wir sogar eine gesunde Hautfarbe.«
Vielleicht waren Cedric diese Umstände noch gar nicht aufgefallen. »Was? Oh nein! 600 Jahre? Oh ja! Du siehst sehr gesund aus. Genau, deine Hörner sind weg. Ich dachte, du hättest sie jemanden geliehen, und der brachte sie nicht wieder. Das muss ein richtig tolles Blut sein, wenn es dich so gesund macht!«
»Das Blut ist von einer Firma, die Guni-Med heißt. Ich will nur mal wissen, wer sich so einen dämlichen Namen ausdenkt«, bemerkte ich kopfschüttelnd.
»Sag mal, wenn ihr Dämonen jagt, dann werdet ihr mich auch bejagen? Du weißt doch, auch ich bin ein halber Dämon!«, fragte er entsetzt.
»Nein, wir würden dir niemals etwas antun, es sei denn, du tötest einen Menschen. Unsere Organisation ist nun einmal dazu da, die Menschen vor bösen Dämonen und Monstern zu beschützen, die den Menschen schaden wollen.«
Schon damals war die Barriere von der Dämonendimension zur diesseitigen Welt porös und brüchig. Doch jetzt schien sie eindeutig hin zu sein.
Mein kleiner Freund war so entsetzt, dass er sich einen volle Flasche Gin hinter die Binde goss und verwirrt den Kopf schüttelte. Für ihn war das alles zu viel. Eigentlich konnte ich froh sein, nicht persönlich für die Rechnung der Getränke aufkommen zu müssen. Nur, dass das Hotelpersonal mir den Ruf eines unheilbaren Trunkenbolds andichten würde, wollte mir nicht so recht zusagen.
Nachdem er seine dritte Flasche geleert hatte, wurde Cedric allmählich lockerer. »Also 600 Jahre sind vergangen! Cornelius heißt jetzt Sal und sieht anders aus. Wie sieht er aus? Hat er jetzt Hörner? Er hat deine Hörner geklaut und ich muss meine Aura verbergen, weil es nicht mehr so viele Vampire gibt? Warum eigentlich?«, fragte er mich und griff sich die vierte Flasche. Gut, nach 600 Jahren hatte er auch ein Recht darauf. Wenigstens war das Glück auf seiner Seite, und er musste nicht mit Betäubungsmitteln vollgepumpt, mit Riemen auf eine Liege geschnallt, erwachen – So wie es bei mir der Fall gewesen war.
»Tja ... das mit den Vampiren ist auch ein wenig meine Schuld. Nachdem ein Vampir den Dämonenlord getötet hatte, wurden alle Vampire gnadenlos verfolgt und getötet. Malfurion hat es auch erwischt«, erklärte ich ihm. Und warum waren meine Ohren so heiß? Nein, das hat nichts mit dem Gewissen zu tun, vielleicht war die Klimaanlage kaputt? »Nein, meine Hörner wurden nicht gestohlen, sie wurden mit einem Laserstrahl entfernt, als ich noch bewusstlos war. Sie wurden verödet und wachsen seitdem nicht mehr nach. Sal, oder Cornelius sieht eher aus wie ein ... wie ein leicht verrückter Hutmacher im Nadelstreifenanzug. Klar, wir sind die Guten und kämpfen gegen die ganz Gemeinen.«
Cedric guckte mich an. »Oh, ein Vampir hat den Lord getötet! Witzig, ich dachte du wärst das gewesen, der den Seraphim getötet hat!«
»Komisch, Cedric, das Gleiche habe ich auch gedacht!« Ein leichtes Augenverdrehen konnte ich mir nicht verkneifen. Doch jemand klopfte an die Tür und beinahe hätten meine Augen das Schielen beibehalten.
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