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I. Aufbruch aus dem Chaos:
Die Etablierung der frühen Canusiner in Oberitalien
ОглавлениеAls im ersten Drittel des 10. Jahrhunderts der älteste mit Sicherheit nachweisbare Ahnherr der Canusiner in der historischen Überlieferung fassbar wird, bieten Ober- und Mittelitalien ein trauriges Bild. Obwohl Kaiser Karl III. in der Spätzeit des zerfallenden karolingischen Imperiums mit aller Macht versuchte, sein gewaltiges Riesenreich zusammenzuhalten und dafür zwischen 879 und 886 zwölf Mal die Alpen überschritt, gelang es ihm trotz dieser schier übermenschlichen Anstrengung nicht, Italien eine tragfähige Ordnung zu geben. Angesichts der Unmöglichkeit, persönlich alle Teile des karolingischen Machtbereiches zu stabilisieren, förderte Karl III. den Aufstieg regionaler Kräfte und Potentaten; es begann die Zeit der sogenannten ‚italienischen Nationalkönige‘. Der Begriff führt in die Irre: Zum einen stammten die dominierenden Familien der knapp achtzig Jahre bis 962 überwiegend aus fränkischen Geschlechtern, waren also im strengen Wortsinn eigentlich Landfremde; zum anderen wissen wir nichts darüber, ob und wie stark sie sich mit Oberitalien identifizierten, und das heißt: ob sie dort selbst integrierend, einheits- und identitätsstiftend wirken konnten oder wollten. Zudem war Italien noch sehr weit von einer nationalen Einigung entfernt, so dass der Begriff ‚Nationalkönige‘ ein völlig falsches Bild evoziert. Wenn die vielen Regionen Italiens in den turbulenten Zeiten des ausgehenden 9. und beginnenden 10. Jahrhunderts überhaupt eine Gemeinsamkeit besaßen, dann diejenige der Sprache, drang doch das italienische Volgare langsam, aber unaufhaltsam sogar bis in die Gerichtssphäre vor.
Politisch versank Oberitalien immer mehr im Chaos, obwohl sich 896 Lambert, der Sohn des verstorbenen Kaisers Wido, und sein stärkster Widersacher Berengar von Friaul verständigten und die Herrschaft vertraglich untereinander aufteilten: Vernünftigerweise wollten sie ihre begrenzten Kräfte nicht in sinnlosen Kämpfen unnütz verschleißen. Als Lambert nur zwei Jahre später 898 starb, lag die Macht allein in der Hand des tatkräftigen Berengar. Doch brach 899, gerade im Augenblick berechtigter Hoffnung auf politische Stabilität, ein neuer, fürchterlicher Feind in Italien ein und verheerte das Land in nacktes Entsetzen erregenden Raub- und Beutezügen: die Ungarn. Nichts und niemand schien die wilden Reiterhorden stoppen zu können, die bei ihren Plünderungen alles an sich rissen, was wertvoll schien und nicht niet- und nagelfest war. Als deutlich wurde, dass Berengar der Wucht der ungarischen Überfälle nichts entgegenzusetzen vermochte – die Verwüstungen nicht beenden oder ihnen wenigstens wirkungsvoll Einhalt gebieten konnte – bildete sich rasch eine Opposition gegen ihn, die im Jahr 900 Hilfe bei König Ludwig von der Provence suchte. Zwar gelang Ludwig schon 901 der Griff nach der Kaiserkrone; dennoch vermochte der Frischgekrönte weder gegen Berengar noch gegen die Ungarn einen entscheidenden Sieg zu erringen. Vielmehr fiel Kaiser Ludwig III. 905 in die Hände Berengars, wurde grausam geblendet und trat damit definitiv von der Bühne der inneritalienischen Politik ab.
Aber auch der zunächst siegreiche Berengar konnte Italien nicht einen. 922 spitzte sich die Situation so sehr zu, dass seine eigenen Gefolgsleute Rudolf II. von Hochburgund ins Land riefen, der zwar Berengar militärisch niederrang, jedoch zu schwach war, um auf Dauer eine selbständige Rolle in Italien spielen zu können: Zeitlebens blieb er von der Unterstützung seines Schwiegervaters abhängig. So trugen seine Gegner, nunmehr enttäuscht, die Königskrone dem Grafen Hugo von Vienne an, der den ohnmächtigen Rudolf II. aus Italien verjagte. Obwohl auch Hugo letztlich an den Kräften scheiterte, die Italien zersplitterten und die Reste der öffentlichen Ordnung in den Staub traten, schien mit ihm doch zunächst eine neue, tragfähige politische Struktur zu entstehen. Zur Sicherung seiner Dynastie ließ er raschestmöglich seinen Sohn Lothar zum Mitkönig erheben.
Diese noch immer ungeordneten und chaotischen, teilweise geradezu anarchischen Zustände boten neuen Kräften die einmalige Chance zum Aufstieg. Auf die Seite der beiden Herrscher, Hugo und Lothar, schlug sich ein Adliger aus der Grafschaft Lucca, der wohl zum Dank für seine Parteinahme von König Lothar in der Emilia den Hof Vilianum bei Parma erhielt: Siegfried (Sigefredus), der Stammvater der Canusiner.
Das Schicksal des ersten Canusiners bleibt weitestgehend im Dunkel. Selbst der sonst so erzählfreudige, wortgewandte und bisweilen sehr fabulierlustige Geschichtsschreiber Donizo, Autor der Vita Mathildis, dem wir die Geschichte der Canusiner und ganz besonders ihrer letzten Vertreterin Mathilde verdanken, hüllt sich fast gänzlich in Schweigen. Donizo wurde um 1070/72 geboren und starb irgendwann nach 1136; in der Zeit um 1087/90 trat er in das Kloster Sant’Apollonio in Canossa ein, wo er mehr als fünfzig Jahre seines Lebens verbrachte und sogar zum Abt aufstieg. Trotz aller berechtigten Kritik an seiner Glaubwürdigkeit vor allem in seinen Darstellungen der canusinischen Frühzeit ist dieser ausgesprochene Panegyriker unsere wichtigste Informationsquelle für die Geschichte der Canusiner. Über Siegfried jedoch weiß selbst Donizo kaum etwas zu erzählen. Allerdings berichtet er – und daran ist trotz aller Übertreibungen und Verzerrungen, deren sich Donizo bewusst und unbewusst schuldig gemacht hat, nicht zu zweifeln – dass Siegfried aus der Grafschaft Lucca stammte – was freilich nicht bedeutet, dass er diese Grafschaft selbst innegehabt haben muss. In den Quellen zur canusinischen Familiengeschichte tritt er zu keinem Zeitpunkt als ‚Graf‘ in Erscheinung. Sein Sohn Adalbert-Atto bezeichnet sich selbst stets als filius beatae memoriae Sigefredi de comitatu Lucensi (Sohn des Siegfried seligen Angedenkens aus der Grafschaft Lucca). Innerhalb der für die Legitimität und Kontinuität einer Familie so immens wichtigen Erinnerung an die Vorfahren hat man also nicht versucht, den Rang des Ahnherrn über Gebühr zu erhöhen. Für die Annahme, Siegfried sei nicht Graf in Lucca gewesen, spricht auch, dass er die Region verlassen hat, um gemeinsam mit seinen drei Söhnen – dem jüngeren Siegfried, Adalbert-Atto und Gerhard – eine glücklichere Zukunft und bessere Aufstiegschancen in Oberitalien zu suchen. Wann genau er sich mit seiner Familie nach Norden wandte, ist unbekannt. Als sich Hugo von der Provence 926 zum König krönen ließ, dürfte sich Siegfried jedoch bereits in seinem Umfeld befunden und ihm seine Dienste angetragen haben. Wie er Kontakt mit dem Herrscher aufgenommen hatte und welchen Adelsgruppen er angehörte, ist ebenfalls unbekannt. Er muss allerdings mächtige Fürsprecher besessen haben; anders ist sein rascher Aufstieg nicht zu erklären. Donizo betont ausdrücklich die Fürsorglichkeit Siegfrieds, aber auch dessen enorme Wehrhaftigkeit – Qualitäten, die ihn nicht nur als Gefolgsmann begehrt gemacht, sondern die auch nicht wenig zum persönlichen Aufstieg des ersten Canusiners beigetragen haben dürften, dessen Macht sich Donizo zufolge ebenso ausbreitete wie „die Rebe sich spreizt in die Länge und Breite“ (Donizo v. 104).
Bei aller Vorsicht, mit der Donizos Berichte aus der Frühzeit der Canusiner betrachtet werden müssen, scheint es Siegfried gelungen zu sein, im Gebiet um Parma und wohl auch schon in den Vorbergen des Apennin Fuß zu fassen und seinen Einflussbereich dorthin auszudehnen. Dass er und seine Söhne „verschiedene Völker und Stämme“ unterworfen hätten (Donizo, v. 109), ist wohl eher eine maßlose panegyrische Übertreibung. Schließlich ist nicht einmal zweifelsfrei bekannt, ob und in welchem Umfang Siegfried König Hugo und seinem Sohn König Lothar Waffenhilfe geleistet hat. Man darf aber mit Sicherheit annehmen, dass seine Etablierung im Apennin und seine Machterweiterung mit wohlgefälliger Duldung beider Herrscher erfolgte und deren mehr oder weniger stillschweigendes Einverständnis voraussetzte.