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Irgendwie beginnt jeder Liebesroman. Wie spannend, wenn er mit einer chemischen Analyse beginnt, mit einer symbolischen Symmetrie, mit zwei Wahlverwandtschaften vier paarbereiter Elemente!

Dieser Liebesroman beginnt mit einem schlichten Satz, gesprochen von Brigitte. Brigitte sagt, ich liebe dich.

Brigitte sagt diesen Satz, weil sie ihn oft in ähnlichen Situationen gesagt hat. Brigitte hat diesen Satz oft in ähnlichen Situationen gehört und gelesen, im Kino, im Fernsehen, in Liebesromanen. Brigitte ist sich ihrer kulturellen Prägungen selten so sicher wie in diesem Augenblick. Und doch ist es möglich, dass sie diesen Satz sagt, weil sie hofft, dass Romantik Verkrampftheit ablösen wird, sie weiß es nicht genau.

Denn es ist das erste Mal, und wie bei jedem ersten Mal hat Brigitte ein einziges Ziel: Es soll nicht das letzte Mal gewesen sein. Vielmehr soll es das erste Mal einer Reihe von vielen Malen gewesen sein, die irgendwann, in einer noch nicht abzusehenden Zukunft, mit einem letzten, einem allerletzten Mal beschlossen sein wird. Bis dass der Tod uns scheidet.

Das alles meint Brigitte, wenn sie sagt, ich liebe dich. Aber sie weiß es nicht, oder sie weiß es nicht genau.

Alles, was Brigitte im Augenblick weiß, ist, dass da einer ist, den sie mehr als alle anderen auf dieser Welt liebt.

Warum, weiß Brigitte nicht genau.

Vielleicht wegen Petra.


Petra ist Brigittes beste Freundin. Petra und Brigitte haben sich in dem Grundkurs kennen gelernt, den sie im Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften belegen. Petra und Brigitte haben also von Anfang an etwas gemein: Sie studieren Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften.

Warum studieren Sie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften? So lautet die erste Frage auf dem Fragebogen, den der Grundkursleiter in der Grundkursdoppelstunde verteilt.

Warum nur, Brigitte, warum?

Brigitte ist, bei Licht betrachtet, nicht die idealtypische Heldin eines Liebesromans. Vielleicht haben wir deshalb Brigitte gewählt, die zwar nicht ideal ist, aber typisch. Typisch nämlich für den Typus der hochbusigen Hochschülerin mit hennafarbenem Zopf und unklarer Berufsperspektive, die einem Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften natürlicherweise anhaftet.

Brigitte träumt von keinem Traumberuf, Brigitte träumt von der Keimzelle Kleinfamilie, dem Urgestein sozialen Seins – warum nur? Weil Brigitte dieselben Fortpflanzungsorgane hat wie ihre Mutter und ihre Großmutter, die noch nicht Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studieren durften?


Wenn dein Körper genügend Geschlechtshormone produziert, reift alle vier Wochen in deinen Eierstöcken eine Eizelle heran. Sobald diese reif ist, verlässt sie deinen Eierstock und gelangt in deinen Eileiter. Diesen Vorgang nennt man Eisprung.

Weil Brigitte dasselbe Drama des ungezeugten Kindes im Kopf hat wie einst ihre Mutter und ihre Großmutter? Weil Brigitte unter Penisneid leidet wie einst ihre Mutter und ihre Großmutter, die noch nicht Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studieren durften?


Die Eizelle wandert nun durch deinen Eileiter in Richtung Gebärmutter und kann von einer männlichen Samenzelle befruchtet werden. Ihre Wanderung dauert vier Tage. In der Zwischenzeit hat sich deine Gebärmutter auf die Aufnahme einer befruchteten Eizelle vorbereitet, die das Wunder des Lebens birgt: die vierfach codierte DNA-Doppelhelix eines Neuen Menschen! Die Gebärmutterschleimhaut hat sich verdickt und mit Nährstoffen angereichert. Im Falle einer Schwangerschaft kann sich die befruchtete Eizelle hier gut einnisten. Wenn die Eizelle nicht befruchtet wurde, löst sie sich auf und geht unbemerkt verloren. Das Wunder des Lebens wirst du dann leider nicht kennen lernen.

Warum also, Brigitte, dieser Studienwunsch?

Die Mutter erzwingt die Antwort, indem sie Brigittes Kopf in eine Schraubzwinge zwängt und langsam an den Rädchen dreht. Warum die vom vorzeitig verstorbenen Vater erwirtschafteten Gelder sinnlos vergeuden, warum verprassen, was die Mutter – spät gefreit, doch nie gereut – als Ehe-, Haus- und Mutterfrau sicher bewahrt? Die Mutter schraubt die Zwinge enger, Brigittes Ohren reißen ein, Blut rinnt aus der Nase, verschmutzt die reine Schürze der Mama, in deren Schoß ein Auge des noch härter zu züchtigenden Kindes fällt wie ein warmes Vierminutenei.


Warum nur, Brigitte, warum?

Brigitte ist 20, kann wenig, weiß wenig, hat nichts. Nur ein Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an einer traditionslosen Hochschule, das hat Brigitte, und eine Mama hat sie auch. Die Mama ist dreimal so alt wie die Tochter, kann noch weniger, weiß alles besser und hat gar nichts, nicht einmal ein Studium. Nur Brigitte, den Augapfel, den hat die Mutter fest im Blick und fester noch im Zangengriff.

Brigitte bittet, die liebe Mama möge es doch gut sein lassen! War ihr Schoß fruchtbar, so wird es auch Brigittes sein, und sie wird im Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften lernen, einen potenziellen Kindsvater zu unterhalten, damit er den Unterhalt zahlt. Das ist so wie früher das Kochen und das Bügeln und das Waschen zu lernen, in der Frauenfachschule, was man heute nicht mehr lernen muss, um eine Fachfrau mit Kindsvater zu werden, erklärt Brigitte mit schwacher Stimme aus der Zwinglage, denn heute gibt es die Koch- und Bügel- und Waschautomaten. Es gibt auch die Unterhaltungsautomaten, gibt die Mama nach bester Besserwisserinnenart zurück und dreht am Rädchen. Ja, über die unterhalten wir uns immer, die potenziellen Kindsväter und ich. Warum sich über Unterhaltungsautomaten unterhalten? forscht die Frau Mama und schraubt die Zwinge enger. Weil die potenziellen Kindsväter keine Koch- und Bügel- und Waschautomaten kennen, die kennen nur Unterhaltungsautomaten, und die suchen deshalb Frauen, die Fachfrauen sind für Unterhaltungsautomaten, nicht für Koch- und Bügel- und Waschautomaten. Aber bald, Mama, wird alles noch besser, presst Brigitte zwischen zerbrochenen Zahnreihen hervor, dann gibt es auch bei uns die Frauenautomaten, die es jetzt schon in Amerika gibt, wo die Frauen Frauenstudien studieren, wo die Frauen lernen, sich über Frauen- und Unterhaltungs- und Koch- und Bügel- und Waschautomaten zu unterhalten. Die Mutter ächzt unter der Last der pädagogischen Hausarbeit und lässt einstweilen ab von dem kindischen Kind, das sich noch eines Besseren besinnen wird eines besseren Tages, da ist sich die Mutter sicher, und wischt sich den Schweiß von der Stirn.


Brigitte ist infolge dieses Kampfes eine tragische Figur geworden. Dennoch müssen wir sie wieder an die Seite der Freundin Petra platzieren, die gedankenlos dem Grundkurs der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften folgt, den der Grundkursleiter unter Verzicht auf Spannungsmomente und Höhepunkte improvisiert.

Aber – horch! Ist da nicht Brigittes Stimme zu hören?

Ganz deutlich hören wir, wie sie unter kurzen, heftigen Atemstößen einen grammatikalisch korrekten Satz ausruft. Brigitte ruft, ich liebe dich!

Dieser Satz, so wollen wir uns an dieser Stelle vorstellen, fährt ein wie Blitz und Donner in den Grundkurs der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Die Studienanfänger, die alle Wimmüller heißen sollen und quadratische Brillen mit breiter Rahmung tragen müssen, beziehen diesen Satz sofort auf sich. Bisher haben sie Brigitte bei den Seminararbeiten helfen dürfen. Aber keiner wirkte so anziehend, dass Brigitte sich ausgezogen hätte. Jetzt, da Brigitte ruft, ich liebe dich! fliegen die Köpfe der Wimmüllers, ist doch klar, hoch! Studienanfängerblicke rudern traumverloren in Richtung Studienanfängerin B und prallen gegen einen eiskalten Kieselaugenblick. Der messerscharfe Pagenkopfschnitt in Zitrusblond gehört Petra, der berechtigten BAföG-Empfängerin mit den geschiedenen Elternteilen in entlegenen Gebieten Deutschlands, Petra aus der aufgebürsteten Ex-APO-Wohngemeinschaft, Petra, die erwachsene Männer wegwerfen kann wie stinkende Lappen, obwohl sie Physik und Philosophie studiert haben und promovierte Psychologen sind. Es kann nicht sein, denken die Wimmüllers, diesen Satz haben wir uns nur eingebildet. Brigitte hat ihn nicht gerufen.


Wo, bitte, ist Brigitte?

Wenn wir der Handlung vorgreifen wollen, wie wir es von Anfang an getan haben, dann müssen wir die Frage vermittels der erprobten Metaphorik vom siebten Himmel beantworten, von der Hochzeit des Traums. Die Psychoanalyse deutet unser Bild im Sinne einer Regression auf oralanale Kindheitsphasen, die Neuropsychologie konstatiert ein chaotisches Reizreaktionsgemisch, die Hirnphysiologie diagnostiziert das komplette Ausrasten der Synapsen, die Linguistik beobachtet ein konvulsivisches Schrumpfen des sprachlichen Zentrums, in dem ein letzter Satz unablässig rotiert.

Dieser Satz, ich liebe dich, sabbert über Brigittes volle feuchte Lippen und versucht, in das offene Ohr des auf Brigitte liegenden Herrn einzudringen. Der Herr, der soeben tiefer in Brigitte einzudringen versucht, ist offenbar zu keinem Satzwechsel bereit. So hören wir nur Brigittes Stimme, die immer wieder diesen Satz sagt, jauchzend verzerrt, ächzend verrenkt, seufzend verrückt. Außer Brigittes Refrain hört man Musik, es ist ein Brecht-Song. Die Musik lenkt unseren Blick ab von dem Traumpaar und um auf den Ort der geschlechtlichen Vereinigung, die, so lassen diverse onomatopoetische Kommentare erkennen, von beiden Partnern als genussbringend erfahren wird.

Die Szene in Brigittes Tagtraum ist folgende: Brigitte wälzt sich nackt und in halbkugelförmiger Haltung mit ihrem Partner verkeilt auf einem käsiggelben Flokatifell, das sich auf einem glänzenden Parkett ausstreckt. Der Raum ist sparsam mit Exponaten einer bekannten Möbelhauskette bestückt, der ergonomische Bürodrehstuhl Erwin unter die halbrunde Glasscheibe des Schreibtisches Helene gerollt, der aluminiumfarbige Deckenfluter Benjamin dimmt sanftes Licht, der CD-Player Eisler summt in einer Endlosschleife die Ballade von der sexuellen Hörigkeit, der mannshohe Vergrößerungsspiegel Heiner reflektiert die unscharfe Großaufnahme der Liebenden, die gerade den Akt zu einem guten Ende bringen. Mit Spitzengeschwindigkeit rastet der männliche Part im weiblichen ein und aus, angefeuert von den Begeisterungsrufen der Frau, die sie als Zugabe ihrem Standardtext beigibt. Der Mann dreht an den Knöpfen, stopft die Büchse, leckt, saut, bürstet, bügelt, geifert, keucht, speichelt, ferkelt, schmatzt, schnalzt, spritzt, brüllt, jaaah!, stößt es aus sich heraus, fährt in die Frau hinein, verbringt es in den Untertagebau, knattert seine Munition in den Unterstand, Fontänen schießen in die mittagsschwüle Luft, die Sonne dreht sich um den Mond, der Astronaut putzt sich im Schwebeklo die Zähne, der Mann hurt, die Frau gurrt, es soll nicht aufhören, aahjaahmmmoooh! stöhnt er, saugt, zieht zischelnd Atem durch fest verbissenes Gebiss, rammelt entschlossen gegen offene Türen, taucht unter im Lilienteich, wirft sich das Fell der Löwin über die Schultern, kriecht bis zu den Zehenspitzen in den femininen Unterbau, melkt Kondensmilch aus warmen Tüten, B &B, ah! ja! wie er es ihm besorgt, dem naturgeilen Weibe, das sich um ihn krümmt, sein Schwanz, man kann ihn, Heiner sei Dank! sehr gut sehen, ist, Heiner sei nochmals gedankt! riesig und gierig nach dem feuchten dunklen Unterschlupf im lockigen Verlies der gegengeschlechtlichen Partei, da schleudert er ihn entschlossen bis zum Anschlag in die Frau, die Bombe platzt, eine pilzförmige Rauchfahne schießt in den blauen Sommerhimmel, schrill dringt es aus der Frau heraus, ich liebe dich!!! brüllt Brigitte mit ganzer Kraft gegen die ejakulierten Lustbekundungen des Mannes in ihr an.

Frauen und Männer sind verschiedene Menschen.

Das zeigt diese Szene deutlich. Sie haben verschiedene Bedürfnisse, die sie auf verschiedene Weisen befriedigen. Deshalb benutzen sie nicht nur verschiedene Toiletten, sondern auch verschiedene Texte. Brigitte brüllt, ich liebe dich!!! Brigitte liebt Bert. Bert brüllt, ahaahaaha!!! Bert liebt Brigitte nicht.

Bert ist, bei Licht betrachtet, nicht der idealtypische Held eines Liebesromans, im Gegenteil (halbkahler Habichtsschädel, dürres Gebein, zapfenförmiger Rumpf). Bert erreicht mit gestrecktem Ganzkörper kaum Brigittes Bardotbusen, kaum Petras spitze Beckenflügel, aber Bert ist oho! Bert ist kein simpler Schauspieler wie dieser Bradpitt, nein, Bert bestimmt mit einer berufstypischen Daumenbewegung, ob es mit diesem Bradpitt weiter bergauf oder wieder bergab geht! Bert ist Theater-, Film- und Fernsehkritiker, mehr noch, Bert ist der Ltd. Redakteur des Spielplans, der einzigartigen, überragenden Fachzeitschrift für Theater-, Film- und Fernsehkritik. Bert ist ein männlicher Kulturmensch, dem weibliche Kulturmenschen zu Füßen liegen. Denn Macht macht sexy. Bert ist mächtig. Bert ist mächtig sexy.

Dies erfahren in der Erzählgegenwart Brigitte und Petra. Emma und Marie-Claire werden dies in der zu erzählenden Zukunft erfahren. Vier Frauen auf der Suche nach einem paarungsbereiten Partner! Vier Frauen auf der Suche nach einem Glücksbringer! Viel Glück!

Die Frauen werden viel Glück brauchen!

Denn Bert ist ein Frauenheld. Wie Brecht, dem zu Ehren er den vom Vater übernommenen Vornamen Bertram verkürzt hat. Aber neben der Liebe zur Macht und der Liebe zu den Medien haben die beiden Männer namens Bert noch etwas gemein: den Hass auf die Frauen.

Der Spielplan

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